Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Perspektivenwechsel ist angesagt - Von der Verantwortung der Betroffenen

von Sigrid Arnade

"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"

... heisst es seit Herbst 1994 im bundesdeutschen Grundgesetz. Hier deutet sich eine grundsätzlich neue Sichtweise an, die auch für das Verhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen nützlich sein könnte.

Ich kann nicht laufen. Das gibt aber niemandem das Recht – und ist er/sie TrägerIn eines noch so weißen Kittels und hat er/sie noch so viele Jahre unendlich viele Fakten auswendig gelernt – das gibt niemandem das Recht, mich als Mensch zweiter Klasse zu behandeln. Niemand hat das Recht, mich zu bewerten, zu bevormunden, über mich zu bestimmen. Ich weigere mich, Objekt noch so gut gemeinter Fürsorge zu sein. Ich bin gleichberechtigte Bürgerin.

Ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel ist notwendig, wenn sich das Verhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen verbessern soll. Der Perspektivenwechsel vom Objekt zum Subjekt. Damit wird gleichzeitig vermieden, dass sich vergangene Greuel wie zu Zeiten des Naziterrors wiederholen: Ein Objekt kann je nach Zeitgeist und der Schärfe sozialer Verteilungskämpfe entweder fürsorglich entmündigt oder vergast werden. Mit einem gleichberechtigten Subjekt geschieht beides nicht.

Wir als Betroffene sollten uns nicht damit begnügen, entmündigendes Verhalten von ÄrztInnen anzuprangern. Auch wir tragen Verantwortung für das Verhältnis zu unseren ÄrztInnen, und diese Verantwortung sollten wir meiner Ansicht nach bewusst wahrnehmen. Dazu gehört zunächst, das eigene Ärztebild kritisch zu hinterfragen: Wünsche ich mir den „Gott in Weiß“, der mir alle meine Sorgen um meinen Körper abnimmt und der weiß, wo es langgeht? Erwarte ich zumindest den fachkompetenten Profi, der auf alle Fragen eine Antwort weiß? Oder gehe ich mit der negativen Erwartungshaltung in die Sprechstunde, dass mir sowieso niemand helfen kann?

Das alles kann wohl nicht die Lösung sein. Mit solchen Erwartungshaltungen produzieren wir schon die Ungleichheit im Kontakt. Immer noch spielen Kategorien von oben/unten, wissend/unwissend, Macht und Ohnmacht eine viel zu große Rolle. Wenn ich zu einer Architektin gehe, damit sie mir ein Haus baut, so bekommt sie mein Geld, damit sie mit ihrem Fachwissen meine Wünsche erfüllt. Sie hat kein Recht, mich über die statischen Gegebenheiten und den Baufortschritt im Unklaren zu lassen. Und sie muss sich so ausdrücken, dass ich sie verstehen kann. Damit der Bau gelingt, muss aber auch die Beziehung zwischen ihr und mir stimmen.

Letzteres spielt im Verhältnis zu ÄrztInnen eine noch viel entscheidendere Rolle. Aber die Grundbedingungen sind ähnlich: ÄrztInnen leben von unserem Geld, damit sie ihre Fachkenntnisse in unseren Dienst stellen. Sie haben uns ihre Erkenntnisse und Diagnosen mitzuteilen und zwar auf deutsch. (In diesem Punkt sind selbst die Kirchen fortschrittlicher als viele ÄrztInnen, haben sie doch schon vor Jahrzehnten die „Herrschaftssprache“ abgelegt.) Und schließlich müssen beide Seiten entscheiden, was sie voneinander wollen, ob sie ein Stück des Weges mit einer im klassischen Sinne unheilbaren Krankheit gemeinsam gehen wollen.

Wie so etwas aussehen könnte, beschreibt Burnfield Fussnote-hin: „Eine Frau erzählte mir von der Reaktion ihres praktischen Arztes auf ein Schreiben des konsultierten Neurologen, das die Diagnose MS bestätigte: Er las den Brief mit ihr gemeinsam und sagte: ‚Ich weiß wirklich nicht viel über MS; wir müssen sehen, was wir zusammen tun können.‘ Und genau danach haben sie sich seither immer gerichtet, zum großen Nutzen für beide, wie ich sicher annehme! Ähnliches sagte ein anderer Arzt zu seinem Patienten, als es um den Umgang mit Komplikationen der MS ging: ‚Sie sind der Experte, sagen Sie mir, was Sie über dieses Problem wissen, und ich werde mein Bestes tun, um zu helfen.’”

Um von solchen Reaktionen nicht enttäuscht zu sein, müssen wir bereit sein, selber die Verantwortung für uns zu übernehmen und die Gegebenheiten realistisch einschätzen: ÄrztInnen sind in der Therapie der MS weitgehend hilflos. Wenn uns jemand helfen kann, wenn jemand über unseren Körper Bescheid weiß, so sind wir das in erster Linie selber.

Ich glaube jedenfalls, dass es mit einer selbstbewussten, eigenverantwortlichen Einstellung der Betroffenen über kurz oder lang gelingt, ÄrztInnen zu finden, die zur Zusammenarbeit bereit sind. Und wenn immer mehr PatientInnen sich emanzipieren und entsprechende Verhaltensweisen von ihren ÄrztInnen verlangen, dann wird sich der Perspektivenwechsel auf Dauer auch im Verhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen durchsetzen.

(Erstveröffentlichung in FORUM PSYCHOSOMATIK 2/95.)

Fussnote-zurueck
Burnfield, A.: Multiple Sklerose: Ein Erfahrungsbericht. Fischer, Stuttgart-New York, 1988 (S. 53)

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