Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Ärztliche Anamnese

von Wilhelm Rimpau

Kranksein ist eine notwendige Form unseres Lebens. Als Pflegende, Therapeuten und Ärzte nehmen wir Anteil am Prozeß des individuellen Lebens unter der notwendigen Bedingung des Krankseins. Krankheit ist Krise im Leben eines Menschen mit biographischen Bedingungen und Folgen. Es gilt Leben unter besonderen Umständen zu gestalten. Die Anamnese ist der Einstieg in diese Gestaltung. (...)

Krankheiten bedeuten Krisen im Leben eines Menschen; oft sind sie Ausdruck einer Krise. Dies bedeutet zunächst einmal Wendepunkt im Leben oder Aufforderung, das Leben in dieser oder jener Hinsicht zu ändern. Das Pathische ist ein Teil unserer Existenz: das Leben ist nicht nur ein Vorgang sondern wird auch erlitten. Die ontische und pathische Seite des Lebens sind praktisch die zwei Seiten einer Medaille. Leben wird nicht nur gestaltet sondern auch erlitten. Aktive und passive Momente stehen in gegenseitigem Wechselspiel, mal überwiegt das Ontische, mal das Pathische. Im Krankheitsfall überwiegen pathische Kräfte. Viktor von Weizsäcker hat 1919 fünf Kategorien des Lebens benannt, die wir in der Anamnese entwickeln können: bei der Untersuchung eines Ereignisses, eines Symptoms oder einer Krise läßt sich fragen, ob dieser Mensch damit etwas will, kann, darf, muß oder soll – oder auch das Gegenteil von alledem. Beim Zuhören dessen, was der Kranke erzählt, bewährt es sich, bei jedem einzelnen berichteten Ereignis dieses „pathische Pentagramm“ anzuwenden. Damit lassen sich dynamische Faktoren, also die Kräfte abschätzen, die zu diesem oder jenem Ereignis oder Symptom geführt haben. Das Anamnesegespräch kann auch versiegen, Arzt und Kranker wissen nichts mehr zu fragen oder zu sagen. Es können auch Widersprüche auftreten oder es fällt die Auswahl dessen auf, worüber der Kranke berichtet oder worüber er nicht zu sprechen wagt. Hier lohnt es sich nach sogenannten „Lötstellen“ zu forschen: im menschlichen Leben gibt es immer bestimmte Konstellationen, die das Risiko zu Konflikten in sich bergen und zu Krisen werden können. Das vorhin gezeigte Diagramm der kränkenden und heilenden Kräfte in allen Lebensbereichen kennzeichnet auch solche Bezüge. So sind z.B. Pubertät, Menopause und Berentung latente Konfliktfelder allein aus dem Lebenslauf heraus. Typische und konkrete Zusammenhänge, die Menschen immer wieder in ähnlicher Weise verstrickt sein lassen, werden deutlich, wenn Themen angesprochen werden, die die Familie, Partnerschaft, Geschlechtlichkeit, Beruf, Geldangelegenheiten, Politik und Religion berühren.

Der jüngst verstorbene Arzt Aaron Antonowsky hat in seiner Kritik am bio-psycho-sozialen Modell, welches Sie z.B. mit Thure von Uexküll verbinden, gemeint, daß mit gesund und krank ein künstlicher Dualismus, wie der von Leib und Seele (Descartes) aufrechterhalten wird. Danach wird Gesundheit als Normalzustand und Krankheit als Abweichung davon beschrieben. Auch die Weltgesundheitsorganisation definert Krankheit als Abwesenheit von Gesundheit. Antonowsky sieht fließende Übergänge von gesund und krank und fragt mit seinem Salutogenesekonzept nach den Kräften im menschlichen Leben, die dieses trotz Gefährdungen gesund erhalten, wie die Pathogenese die Mechanismen aufdeckt, die zur Krankheit führen. In der Anamnese lassen sich also auch positive Merkmale aufdecken, die über längere Wegstrecken des Lebens jemanden gesund erhalten haben, wenn diejenigen negativ genannt werden sollen, die zur Krankheit führen. Es lohnt sich also auch im Krankheitsfalle nach solchen individuellen gesunderhaltenden Faktoren Ausschau zu halten, die Motivation und Anknüpfungspunkte für die Therapieplanung bedeuten können.

Anamnese ist der Beginn von Therapie. Eine Beziehung von Arzt und Patient ist entstanden. Auf Beziehungen kann man aufbauen. Beurteilen, Werten, Wichten des gemeinsam in der Anamnese Erreichten wird der vertrauensvolle Boden sein, aus dem heraus Therapiekonzepte entspringen können. Therapietreue – modern auch Compliance genannt – heißt mitmachen: machen, was man selbst in Übereinstimmung mit seinem Arzt für notwendig hält. Das läßt sich nie nur über den Kopf bewirken, sondern ist immer auch zu vermitteln über richtig verstandene Erlebnisse und Erfahrungen.

Uexküll hat der Medizin den Vorwurf gemacht, im Streben nach technischer Perfektion den Menschen aus dem Auge verloren zu haben. Die Medizin habe es unterlassen, ihr wichtigstes Instrument, das ärztliche Gespräch mit dem Kranken zu vervollkommnen. Watzlawick sagt: „Leben heißt kommunizieren; wir können nicht mehr kommunizieren“. (...)

Ich möchte Sie mit noch einem Satz auf- oder anregen: Medizin ist psychosomatische Medizin – oder sie ist keine Medizin. (...)

Mich bedrückt die derzeitige Entwicklung, die gewissermaßen eine Fachdisziplin „Psychosomatik“ hervorgebracht hat und von sogenannten Psychosomatosen spricht. Dem eigentlich überfälligen Descartes’schen Dualismus von Leib und Seele folgend, werden Erkrankungen künstlich in psychogen bzw. somatogen eingeteilt. Im engeren Sinne gibt es natürlich psychogene Erkrankungen auch mit Körperstörungen, die einer Psychotherapie bedürfen. Aber muß man eigentlich etwas, was selbstverständlich ist, nämlich daß Krankheit mit Leiden einhergeht und immer auch familiäre und berufliche, seelische und soziale Konsequenzen hat, nur deswegen „psychosomatisch“ nennen – eben weil es so ist? Oder könnten wir nicht zu einer Selbstbestimmung der Humanmedizin kommen, die neben dem Lehrbuchtypischen einer Erkrankung auch das Individualtypische des kranken Menschen erkennt und berücksichtigt? Für die Medizin kann allgemein gelten, daß etwa die Anamnese grundsätzlich ärztliche Kunst ist und nicht allein Psychotherapeuten vorbehalten bleibt. Eine Reform der ärztlichen Ausbildung wird nur dann zu einer wirklichen Reform, wenn nicht allein ein Gegenstandskatalog an den 43 medizinischen Fächern und 98 Subdisziplinen entwickelt wird und im Gießkannenprinzip über den Studierenden sechs Jahre lang herabrieselt. Das Medizinstudium muß sich an Grundfertigkeiten orientieren, die jeder Arzt beherrschen sollte. Eine davon ist die Kommunikationsfähigkeit. Bezüglich sei-ner zukünftigen Patienten bedeutet das die Fertigkeit, eine Anamnese und ein ärztliches Gespräch zu gestalten. Wenn ich mit Ihnen zusammen für die Entwicklung der Psychosomatik eintrete, so nicht deshalb, weil ich es für sinnvoll halte, ein neues Fach zu begründen, sondern weil es mir darum geht, Psychosomatik fachübergreifend zu entwickeln. Dem einseitigen naturwissenschaftlichen Paradigma von Krankheit muß die eher geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Qualtiät beiseite gestellt werden, die menschliches Leben unter der Bedingung des Krankseins erforscht, lehrt und im ärztlichen Alltag berücksichtigt.

Lassen Sie mich enden mit einem Appell: Anamnese ist eine Kultur, die wir gemeinsam – Ärzte und Patienten pflegen sollten, wenn wir medizinische Wissenschaft und ärztliche Kunst miteinander verbinden wollen.

(Erstveröffentlichung in FORUM PSYCHOSOMATIK 1/98 - Auszug aus dem Festvortrag anlässlich der Verleihung des Forschungspreises zur Psychosomatik der MS im November 1997.)

(Eine zusammenfassende Darstellung zu unterschiedlichen Sichtweisen in der Psychosomatik der MS wurde unter dem Titel "Seelisches Erleben bei MS" in FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99 veröffentlicht.)

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