Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00 |
Teil 2 (letzter Teil): "Psychosomatische
Aspekte der Multiplen Sklerose" von Gabriele Häusler
Aufstellung von Hypothesen über die
psychosomatische Pathogenese der multiplen Sklerose
Folgende Ausführungen enthalten Hypothesen zu einem Arbeitsmodell
zur Pathogenese der multiplen Sklerose. Die Ideen für dieses Modell
basieren auf der Grundlage von Mitscherlichs psychosomatischem Konzept zur
Chronifizierung von Krankheiten. Den Hypothesen liegen neben den relevanten
Erkenntnissen der psychosomatischen MS-Forschung die Ergebnisse meiner eigenen
Untersuchung zugrunde.
- Der psychosomatischen Erkrankung an einer multiplen Sklerose geht
eine psychoneurotische Fehlentwicklung voraus, die sich symbolisch in einer
primitiven affektiven Körpersprache erhält. Die oralen
Bedürfnisse des Kindes konnten von der Bezugsperson nicht erfüllt
werden. Die darüber entstandenen Frustrationen erzeugen aufgrund des
infantilen Größenselbst Mordphantasien, die mit infantilen
Abwehrformen der Projektion und projektiven Identifizierung verleugnet werden.
Das fehlende Ausagieren von Angst und Aggression führt
phänomenologisch zu einer happy-go-lucky Person (Grinker
1950), mit lächelnder oder ausdrucksloser (Paulley 1976)
äußeren Maske. Die Gefühle von Angst und Aggression werden
durch Verleugnung, Abspaltung und projektive Identifizierung abgewehrt, bleiben
jedoch als Hochspannung im Körper bestehen.
Die Individuation ist
zugunsten abhängiger Bedürfnisse wegen mangelndem Aggressionsausdruck
eingeschränkt. Große Trennungsängste und
Versorgungswünsche verhindern eine Ausbildung klarer Grenzen zwischen
Selbst- und Objektpräsentanzen. Die Imago der nur guten oder
nur bösen Mutter ist nur mangelhaft zu einem sowohl
guten als auch bösen Objekt integriert worden,
weil dauerhafte Identifizierungen wegen des großen feindseligen
Potenzials nicht hergestellt werden konnten. Eine mangelnde Objektkonstanz
behindert die Entstehung des Selbsterlebens und beeinflusst auch die
Konsolidierung der Individualität. Es entsteht keine einheitliche und von
der Objektrepräsentanz abgegrenzte unabhängige
Selbstrepräsentanz.
- Ein realer oder phantasierter Objektverlust stört das
psychische Gleichgewicht der Abwehrmechanismen des MS-Betroffenen. Konflikte
mit einem ambivalent besetzten Objekt, das einen Platz in der infantilen
Beziehungskonfiguration des MS-Patienten einnimmt, aktivieren die traumatisch
erlebte Objektbeziehung bzw. den Objektverlust. Die großen
Trennungsängste und abgewehrten Individuationsversuche lösen
Stressreaktionen im Organismus aus, die keine adäquate Abfuhr finden. Die
jahrelang unter Hochspannung gehaltene Aggression und Angst dürfen wegen
ihrer Bedrohlichkeit nicht in das Bewusstsein gelangen und sprengen das
mühsam aufrechterhaltene psychische Gleichgewicht mit ihren
Abwehrstrukturen.
- Durch Regression werden die im Laufe der infantilen Entwicklung
erlangten Reifungsvorgänge rückgängig gemacht (Resomatisierung
affektiver Vorgänge). Die Regression vollzieht sich auf der
körperlichen Ebene und äußert sich im somatischen Symptom. Der
MS-Betroffene regrediert physiologisch auf ein infantiles Niveau der
motorischen Aktivität und der Wahrnehmung, was innerlich verborgen immer
vorhanden war.
- Die regressiven Vorgänge gehen einher mit einer Ich-Verarmung.
Der Betroffene ist von einer Stimmung der Hilfs- und Hoffnungslosigkeit erfasst
und projiziert Feindseligkeit und sein Scheitern auf die äußere
Welt. Er erlebt die Erkrankung als von außen kommend, wird von ihr
getroffen und sieht keine Verbindung zu seiner Lebensgeschichte.
Anmerkung
Erstveröffentlichung in FORUM PSYCHOSOMATIK, 2/1994.
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