Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 2: "Zur Bedeutung einer chronischen Krankheit für die Betroffenen" von Bettina Sonnack

Krankheitsausbruch

So gut wie alle MS-Betroffenen geben bereits dem Ereignis des Krankheitsausbruchs einen Sinn, der sich an den Erfahrungen orientiert, die für die Lebensgeschichte der Betroffenen prägenden Charakter haben. In 90% der untersuchten Fälle zeigte sich, dass der Krankheitsausbruch in Zusammenhang mit wichtigen Lebensereignissen oder mit schweren Lebenskrisen stand.

Das hierbei aufgetretene Krankheitsgeschehen trug in der Regel den Charakter einer “Episode”. Dabei stellt sich die Frage, ob dieser episodenhafte Charakter mit demjenigen der Situation, in welche das Geschehen fällt, unmittelbar zusammenhängt, d.h. mit ihr auch wieder verschwindet und wiederkehrt beim Zusammentreffen vergleichbarer Auslösemomente.

2/3 der Frauen und 1/3 der Männer sahen ihre Situation bei Krankheitsausbruch als ausweglos und hoffnungslos an, so dass die Folgerung möglich wird: Die MS bietet die Möglichkeit, eine Identitäts- oder Existenzkrise zu überwinden und zu einer Identität zu kommen, die der Persönlichkeits- und Bedürfnisstruktur der Betroffenen in größerem Maße als die vorherige Identität entspricht.

Wenn man nun alle Meinungsäußerungen zum Thema Krankheitstheorie zusammenfasst, die historischen und soziogeografischen Umstände sowie die seelischen und körperlichen Belastungen betreffend, so neigen mehr als zwei Drittel aller Befragten zu einer sozio- und psychogenen Erklärung als Krankheitsursache. Die Mehrheit der befragten MS-Betroffenen deutet die MS als ein Phänomen, welches unmittelbar mit historischen und sozio-ökonomischen Verhältnissen verknüpft ist.

Die Bedeutung der MS im Leben der Betroffenen

„Bedeutung” ist ein sehr umfassender Begriff. Er fasst die unterschiedlichsten Aspekte zusammen, zu denen etwa folgende zählen:
Welche Belastung stellt die MS für die Betroffenen dar? Welche Rolle spielen krankheitsbezogene Maßnahmen im Alltag der Betroffenen? Welchen Platz nimmt die MS ein als Thema, als Instrument der Interessendurchsetzung und Legitimation der Existenz? Und welche Auswirkungen bringt die MS für die Identität der Betroffenen mit sich? Auf all die Fragen will ich versuchen, eine Antwort zu geben beziehungsweise Arbeitshypothesen dazu aufzustellen.

Zuerst einige Bemerkungen zur Belastung der Betroffenen im Alltag und zu den krankheitsbezogenen Maßnahmen:
Frauen schaffen es offenbar eher, die MS in ihren Alltag zu integrieren und fühlen sich weniger belastet als Männer. Wichtig ist auch, dass mit zunehmender Krankheitsdauer die Belastung weniger empfunden wird trotz stärkerer Beeinträchtigungen. Das heißt je schneller und besser die MS in den Alltag integriert wird, desto geringer ist die Belastung für die Betroffenen.

Wie zentral wiederum die krankheitsbezogenen Maßnahmen in ihrer Bedeutung für den Alltag der Betroffenen sind, hängt ausschließlich von der subjektiven Sinnverleihung und der Funktion der MS im sozialen Kontext der Betroffenen ab. Bei den meisten Betroffenen sind die krankheitsbezogenen Maßnahmen nicht das wichtigste strukturgebende Element im Alltag, die MS wird eher im Rahmen der Lebensthematik zur Interessendurchsetzung eingesetzt. Das heißt in den meisten Fällen gelingt es MS-Betroffenen, ihre Erkrankung und die daraus resultierenden Maßnahmen so weit zu integrieren, dass ein Gleichgewicht in ihrem Alltag und ihren Beziehungen erreicht wird.

Bei der Frage nach dem instrumentellen Charakter der MS fällt auf, dass diese im Alltag zum einen als Machtmittel eingesetzt wird oder aber eine sinngebende Funktion zur Erklärung und Legitimation der Existenz erhält. Im ersten Fall dient die MS primär als Mittel zur Abgrenzung gegen Leistungsanforderungen und emotionale Verpflichtungen; dies gilt für zwei Drittel der Befragten, davon 80% Frauen. Im zweiten Fall ist die MS Manifestation der Überzeugung, nach welcher ein Scheitern und Rückzug aus sozialen Positionen oder auch ein schweres Lebensschicksal erklärt wird; dies gilt für ein Drittel der Befragten, davon 80% Männer.

Bei 52% der Befragten stellte die MS ein beherrschendes und immer wiederkehrendes Thema dar im Sinne eines Instrumentes, mit dem ein bestimmter Zweck auch gegen den Willen anderer durchzusetzen ist. Dies betrifft knapp zwei Drittel Frauen, aber nur gut ein Drittel der Männer. Hier muss nach drei Schwerpunkten unterschieden werden:

a) Die MS als Kompensation einer sozialen Deklassierung

In dieser Gruppe sind 8 Frauen und alle 14 Männer, bei denen die MS ein beherrschendes Thema darstellt. Ihnen liefert die MS die Legitimation, ein Scheitern in Beruf und Ehe oder einen Rückzug aus sozialen Positionen zu rechtfertigen. Die MS hebt die vorher erfolglos bekämpfte Deprivation nach sozialer Deklassierung auf und schafft ihnen eine neue Perspektive, nämlich an einer höheren sozialen Identität festzuhalten. Doch da eine Kluft zwischen vorgestellter und tatsächlich vorhandener sozialer Identität besteht, ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt und läuft auf einen Prozess der Selbstzerstörung hinaus. Entsprechend ungünstig sind die Krankheitsverläufe.

Bei Frauen ist diese Haltung nicht im selben Ausmaß selbstzerstörerisch, da ihnen die MS eher als ein Mittel der Legitimation dient, sich freiwillig auf ein begrenztes und überschaubares soziales Feld zu beschränken und sich aus sozialen Positionen zurückzuziehen. So nimmt die MS bei ihnen eher einen positiveren Verlauf.

Gelingt also eine Adaption an die Lebensumstände, ist der Krankheitsverlauf eher günstig. Gelingt ein Anknüpfen an eine verlorengegangene soziale Identität nicht, so ist der Verlauf der MS mit großer Wahrscheinlichkeit ungünstig.

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