Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 5 (letzter Teil): "Symposium zur Psychosomatik der Multiplen Sklerose - Erfahrungen, Konzepte, Perspektiven" von Sigrid Arnade

Einen Teppich weben

Podiumsdiskussion: Pespektiven für Forschungsaktivitäten

Um denkbare Forschungsansätze und -aktivitäten ging es während der abschließenden Podiumsdiskussion, bei der vier der ReferentInnen des Tages mit der Moderatorin Sigrid Arnade das Podium bildeten: Dr. Gerlinde Schock, Dr. Hans Strenge, Dr. Siegfried Tonscheidt und Dr. Ulrich Schultz-Venrath, der für Dr. Günter H. Seidler einsprang.

Schultz-Venrath berichtete, er habe positive Erfahrungen mit einer Schmerzarbeitsgruppe gemacht und schlug die Gründung einer solchen MS-Arbeitsgruppe für die psychosomatischen Fragen der MS-Forschung vor: „Es geht erstmal darum, einen basalen Teppich zu weben, auf dem man arbeiten kann.“ Als Forschungsthemen regte er neben Einzelfallstudien und Untersuchungen über Persönlichkeitsstrukturen bei MS-Betroffenen ein ökonomisch orientiertes Thema an: Inwieweit wirkt sich Psychotherapie kostensenkend im weiteren Krankheitsverlauf aus? Für solch eine Studie veranschlagte er einen Zeitrahmen von mindestens fünf Jahren.

Auch Strenge hielt eine Kosten-Nutzen-Rechnung für ein sinnvolles Forschungsvorhaben. Er sprach sich ferner dafür aus, MS-Betroffene in einer frühen Krankheitsphase in eine Studie einzubeziehen und mit Hilfe der Kernspintomographie neurologisch zu überwachen. Dadurch ließe sich vielleicht klären, welche Symptome somatisch, welche psychisch bedingt seien, und wie das zusammenhängt. Grundsätzlich sei auch er dafür, „auf dem Teppich zu bleiben oder einen zu weben, wenn man noch nicht darauf ist.“

Gerlinde Schock konnte sich ebenfalls Forschungen am ehesten mit Neuerkrankten vorstellen. Als Kontrollgruppe schlug sie diejenigen vor, die sich nicht psychotherapeutisch behandeln lassen wollen, denn schließlich könne man niemanden dazu zwingen. Mit ihren Vorrednern stimmte sie darin überein, dass sie einen Zeitraum von wenigstens fünf Jahren für realistisch und Untersuchungen mittels Kernspintomographie für unerlässlich hielt.

Tonscheidt ergänzte die Vorschläge um ein weiteres Thema: die Korrelation zwischen neurologischer Beeinträchtigung und subjektiver Lebenssituation und Lebenszufriedenheit des einzelnen MS-Patienten. Er zeigte die Probleme auf, die sich der Psychotherapieforschung immer stellen, wenn sie seriös sein will und wies auf die besonderen Schwierigkeiten bei multipler Sklerose hin: „echte prospektive Studien sind für MS nie möglich.“ (In einer prospektiven Studie werden nichterkrankte Menschen auf bestimmte Parameter untersucht und über einen langen Zeitraum beobachtet. Man stellt dann fest, wer MS bekommen hat und wer nicht, die Red.) Auch die von Schock vorgeschlagene Selbstselektion mache die Ergebnisse einer solchen Studie fragwürdig, wenn es sich auch nicht anders regeln ließe. Weiter sei der Spontanverlauf bei MS so extrem variabel, dass es generell schwer sei, zu Aussagen zu kommen.

„Seriöse psychosomatische Forschung ist schwierig“, stimmte Schultz-Venrath zu. Angesichts der vielen verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren, die es gibt, schlug er für eine Forschungskonstellation vor, sich auf ein Standardverfahren zu einigen: „Das ist der Teppich, der gewebt werden muss.“

Im Verlauf der Diskussion wurden immer wieder die Ängste und Einstellungen der Therapeuten, der Hausärzte und der Neurologen im Umgang mit MS-Patienten angesprochen. Auch die Einstellungen der Krankenkassen spielen eine Rolle. Diese Themen wurden gleichfalls als mögliche Forschungsfelder benannt.

Gerlinde Schock wies darauf hin, dass die MS-Patienten in den neuen Bundesländern zur Zeit primär andere Sorgen haben: Wohnungs- und Hilfsmittelversorgung. Außerdem sei die Therapeutendichte und damit das psychotherapeutische Angebot nicht so hoch wie in den alten Bundesländern. In Gesprächen mit MS-Betroffenen habe sie die Erfahrung gemacht, dass psychosomatische Zusammenhänge abgelehnt werden, weil das für viele bedeutet, selbst an der Erkrankung schuld zu sein.

Immer wieder wurde die Frage der Kosten und der Forschungsfinanzierung angesprochen. Dazu Schultz-Venrath: „Wir müssen neue Wege gehen. Wenn das Forschungsdesign seriös ist, wenn es Hand und Fuß hat, dann werden sich auch Geldgeber finden.“ Dem stimmte Tonscheidt zu: „Wir dürfen uns nicht an den Vorgaben durch die gängige Kostenregelung orientieren. Die Richtlinien entsprechen nicht den Bedürfnissen von MS-Patienten.“

Abschließend griff die Moderatorin den Vorschlag von Schultz-Venrath auf, eine MS-Arbeitsgruppe zu gründen, die arbeitet, stabil zusammenbleibt, Ergebnisse publiziert und Veranstaltungen anbietet. Für diese Arbeitsgruppe meldeten sich spontan 23 InteressentInnen. Die Sitftung LEBENSNERV erklärte sich bereit, für die Arbeitsgruppe die koordinierenden Aufgaben zu übernehmen. Ein erstes Treffen ist für den Sommer ‘93 geplant. Bleibt abzuwarten, wie der Teppich aussehen wird, den die Arbeitsgruppe zu weben gedenkt.

Anmerkung

Erstveröffentlichung in Rundbrief Nr. 2, Winter 1992/93 und leicht gekürzt für diese Ausgabe.

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