Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Kleine Chronologie: Von der Idee bis hin zum Forschungsprojekt: "Krankheitsbewältigung als biographischer Gestaltungsprozess"

von Hedwig Rosa Griesehop

Im vergangenen Jahr (November 1997, d. Red.) wurde Brigitte Holtkotte und mir der Forschungspreis der Stiftung LEBENSNERV für unsere Diplomarbeit „Multiple Sklerose – Multiple Bewältigungsformen“, verliehen. Geehrt und sehr erfreut endete das letzte Jahr. Inzwischen hat sich einiges getan und entwickelt und ich erzähle nun der Reihe nach, wie es anfing und wie es weiterging. Eine kleine Reise von der Idee bis hin zum Forschungsprojekt.

Der Reihe nach: In der Diplomarbeit werteten wir Interviews aus, in denen Betroffene über ihre Krankheit und über ihre Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung erzählten. Herausgearbeitet wurde die Prozesshaftigkeit des Erkrankungsgeschehens, die subjektive Erfärbung und Verarbeitung der Krankheit, wenn die Diagnose „gefallen“ und eine Ordnung gefunden werden muss, an die sich die Betroffenen zu halten versuchen.

An die Ergebnisse der Diplomarbeit anknüpfend machte ich mich daran, einen Forschungsantrag zu schreiben, um meinen vielen Fragen zu Krankheit, Krankheitsbewältigung und Biographie nachgehen zu können. Und es hat geklappt.
Seit dem 1. Mai 1998 gibt es das Forschungsvorhaben „Krankheitsbewältigung als biographischer Gestaltungsprozess“, (eine empirische Untersuchung von Krankheitsbewältigungsprozessen Multiple Sklerose erkrankter Frauen und Männer) an der Universität Bremen. Ich bin im Rahmen des Instituts für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung tätig.

Darstellung des Forschungsvorhabens:

Bisherige Untersuchungen berücksichtigen nur einzelne Aspekte der Lebenssituation Multiple Sklerose erkrankter Menschen und analysieren sie zumeist ausschließlich im Hinblick auf die Krankheitsfolgen. Es fehlt eine umfassende Analyse der Lebenssituation der Kranken, die eine subjekte Gewichtung der Probleme zulässt und die Wechselwirkung zwischen Krankheit und Lebensgeschichte mit berücksichtigt. Um Elemente in der Genese von Bewältigungsprozessen in Erfahrung zu bringen, ist es notwendig, Eigenperspektiven und das Selbstverständnis der Betroffenen zu erfassen.

Der Ansatz meines Forschungsvorhabens ist, Krankheitsbewältigung sowie die Krankheit selbst als biographisches Geschehen zu verstehen. „Nicht nur der menschliche Körper erkrankt, sondern das Kranksein erstreckt sich auf alle Sphären des Lebens“ (Jacob, 1978, Kranksein und Krankheit, S. 179).

Im Sinne Viktor von Weizsäckers (Der Gestaltkreis, 1950) frage ich nach dem spezifisch Menschlichem in der Krankheit, nach der Gestaltungsarbeit des Subjekts, im Sinne eines Lebensentwurfs. Wie verbinden sich Lebensgeschichte, Krankengeschichte und Krankheitsbewältigung zu einem Lebensentwurf?

Ziele und Fragestellungen

Im Vordergrund des Forschungsvorhabens steht das erkenntnisleitende Interesse, anhand biographischer Interviews subjektive Entwicklungsbedingungen und Entwicklungsverläufe im individuellen Umgang mit der Erkrankung Multiple Sklerose bei jungen Erwachsenen zu erfassen und auf ihren lebensgeschichtlichen Bedeutungskontext abzuklopfen. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen folgende Fragestellungen:

  1. Krankheitsbewältigung als biographisches Geschehen und als subjektiver Gestaltungsakt.
    Welche subjektive Bedeutung erhält die Krankheit durch die lebensgeschichtliche Konstruktionsleistung der Betroffenen und welche zu bewältigenden Anforderungen ergeben sich daraus für den erkrankten Menschen?
    Ziel der Untersuchung ist der Versuch, den Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Krankheitsbewältigung aus den biographischen Selbstthematisierungen, den subjektiven Sinnsetzungen und individuellen Rekonstruktionsleistungen der Erkrankten heraus darzustellen.

  2. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verarbeitung von Erkrankungen.
    Die zentrale Frage ist: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit der Krankheit und Unterschiede in den Handlungsspielräumen? Beziehen sich diese Unterschiede auf soziale Rollenmuster oder sind sie Ausdruck einer anderen Qualität der Erfahrung?
    Das Ziel ist es, geschlechtsspezifische Erfahrungs- und Bewältigungsmuster sowie Lern- und Lebensräume innerhalb individueller Lebensgeschichten aufzufinden und zu interpretieren.

  3. Praxisbezogene Relevanz
    In jeder erzählten Lebensgeschichte stecken auch Berichte über Lern- und Möglichkeitsräume der Betroffenen, die für die Praxis von großer Bedeutung sein können, wenn wir uns als BegleiterInnen, UnterstützerInnen einer patientenorientierten Profession verstehen wollen.
    Welche praxisrelevanten Erkenntnisse lassen sich aus den Einzelfallanalysen und ihrem systematischen Vergleich ableiten, die sowohl für die medizinische als auch psychologische Behandlungs- und Beratungspraxis von Bedeutung sein könnten? MS-Erkrankte brauchen Hilfen und Unterstützung, aber brauchen Frauen und Männer unterschiedliche Angebote zur Krankheitsbewältigung?
    Wie müssen professionelle Angebote aussehen, die auf die Bedürfnisse von Frauen und Männern zugeschnitten sind und gleichzeitig die Gestaltungspotenziale, die durch die Erkrankung entdeckt werden, stützen?

Ziel ist es, praktische Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen zu ziehen und Maßnahmen zur psycho-sozialen Begleitung sowie Ansätze für rehabilitative Arbeitsfelder zu entwickeln. Durch die Analyse subjektiver Erfahrungen und lebensgeschichtlicher Konstruktionen zur Krankheitsbewältigung von MS kann möglicherweise eine Erweiterung des Handlungsspielraums für Betroffene und Professionelle gelingen.

Das Forschungsvorhaben findet in Kooperation mit dem Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke (Dr. Mette Kaeder, Dr. Martin Kuthe, ärztlicher Leiter Eberhard Dickmann), mit der Klinik am Hainberg, Bad Hersfeld (Dr. Wolfgang Dahlmann) sowie Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen, statt.

(Erstveröffentlichung in FORUM PSYCHOSOMATIK 2/1998.)

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