Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 3 (letzter Teil): "Die Gestaltung der Identität beim Erzählen der Lebensgeschichte" von Christian Roesler

Die „Trotzdem-Haltung“

Eine ganz andere Form, mit der Krankheit im Leben umzugehen, stellt die Erzählerin Frau D. dar, heute 65, die Mitte dreißig erkrankte. Sie schildert, dass die Diagnose MS sie zwar enorm erschüttert habe, dass sie dann aber in der Folge die Krankheit „hingenommen“ und sich dahinein gefügt habe. Für sie war es in ihrer gesamten mittleren Lebensphase von zentraler Bedeutung, dass sie die Lebensaufgaben, die sie an sich gestellt sah (Kinder aufzuziehen, die alte Mutter zu pflegen, den Haushalt zu führen), trotz ihrer Krankheit pflichtgemäß erfüllen konnte. Bei der Schilderung dieser Lebensphase erwähnt sie ihre Krankheit und ihr eigenes Leiden kaum, hat wohl auch damals keine Rücksicht darauf genommen, und kann gerade daraus ihr Leben heute als gelungen präsentieren. Für diese Erzählerin wird also die Pflichterfüllung auch gegen die eigene Krankheit und darüberhinaus zur Sinnstiftung.

Krankheit als Kohärenzstifter

In der Identitätsforschung wird häufig betont, dass eine der wichtigsten Funktionen der Identität die Herstellung von Kohärenz des Lebens ist, dass also das eigene Leben und die Erfahrungen darin als etwas Zusammenhängendes, Einheitliches erlebt werden können, dass es gleichsam einen „roten Faden“ durch das eigene Leben gibt (Linde 1993). Die Erzählerin Frau D. hat dabei eine ganz besondere Form der Kohärenzherstellung gefunden: die Krankheit selbst ist der rote Faden in ihrem Leben. Denn sie gestaltet ihre Lebensgeschichte entlang einer ganzen Kette von Krankheiten, die schon direkt nach der Geburt beginnt und sich dann später in der MS nur fortsetzt. Diese Sichtweise ermöglicht es ihr sogar, eine Kohärenz ihres Lebens mit dem ihrer Eltern und weiterer Vorfahren herzustellen, die alle an Krankheiten aus dem neurologischen Bereich litten. Heredität, die Vorstellung, die Gestalt des eigenen Lebens geerbt zu haben beziehungsweise die Linie der Vorfahren fortzusetzen, wird für sie zu einem umfassenden Erklärungs- und Sinnstiftungsmuster.

Wandlung des Lebens

Schließlich soll noch eine Form der Sinnfindung genannt werden, die von einigen der Erzähler aus der Gesamtuntersuchung beschrieben wird: hier bewirkt die Konfrontation mit der Krankheit, die Auseinandersetzung mit Leiden, mit der Verunmöglichung mancher Lebensziele eine Wandlung der Persönlichkeit hin zu einer größeren Reife, mehr Wissen um das Leben, mehr innerer Sicherheit. Als Beispiel soll hier eine Schilderung von Frau E. dienen, die beschreibt, wie sie erstmals in eine Reha-Klinik kam und dort erstmals die Spätfolgen von MS zu sehen bekam. Zunächst beschreibt sie sich als schockiert davon und voller Angst, auch einmal so behindert zu sein, will zunächst fliehen, setzt sich dann aber doch dieser Erfahrung aus. Neue Sicherheit gewinnt sie dann aus einer zunehmenden Erfahrung mit ihrer Krankheit, mit dem Hineinfinden in ein ihr gemäßeres Leben und aus der Erfahrung, dass sich ihr Leben fortsetzt, die Krankheit Teil des Lebens wird und sie auch mit der Krankheit ein sinnvolles Leben führen kann. Ihre gesamte Lebensschilderung ist so angelegt, dass sie als ein Zugewinn an Reife und Zufriedenheit erscheint.

So zeigen sich im Überblick bei den verschiedenen Erzählern unterschiedliche Stile und Strategien, ihrem Leben mit der Krankheit einen Sinn zu geben und ihre Identität bei dieser Infragestellung entweder zu behaupten oder neu zu bestimmen. Die eigene Lebensgeschichte zu erzählen kann dazu dienen, den Sinn und Wert des eigenen Lebens zu fassen, in eine Form zu bringen und die rote Linie nachzuzeichnen, die sich durch das Leben zieht, auch wenn es durch eine chronische Krankheit einmal unterbrochen schien.

Literatur

Glinka, H.-J.
Das narrative Interview.
Weinheim; München: Juventa. (1998)
Linde, C.
Life stories. The creation of coherence.
New York, Oxford: Oxford University Press. (1993)
Riessman, C.K.
Narrative analysis.
Newbury Park: Sage. (1993)
Rosenthal, G.
Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen.
Frankfurt/New York: Campus. (1994)

Anmerkung

Erstveröffentlichung in FORUM PSYCHOSOMATIK 2/99.

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