Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 2 (letzter Teil): "Literaturüberblick zur Psychosomatik der MS" von Sigrid Arnade

4) Weitere psychosomatische Denkansätze

In der jüngeren Vergangenheit entstanden einige komplexere psychosomatische Modelle, die sich nicht den beiden vorangegangenen Abschnitten zuordnen lassen.

1983 veröffentlichte der Österreicher Jonas seine These, derzufolge MS etwa als schleichender Selbstmord zu betrachten ist: Er zieht Parallelen zu einigen Tierarten, bei denen normalerweise friedlich im Darm lebende Parasiten aktiviert werden, wenn sie bei Rangkämpfen unterliegen. Die Tiere sterben dann. Vergleichbare Mechanismen vermutet Jonas bei MS-Betroffenen. Aufgrund traumatischer Erlebnisse habe der Mensch resigniert und sei von Hoffnungslosigkeit geprägt. Das könne sich in Depressionen äußern, oder quasi alternativ als Autoaggression, als Selbstelimination. Hier ist eine Parallele zu der Arbeit von Jeliffe von 1921 festzustellen.

Nach der Therorie von Sattmann-Frese von 1989 verhilft die MS den Betroffenen dazu, Anteile zu leben, die die Betroffenen sonst nicht leben würden. Er beschreibt Beispiele: Ein Kind beschließt (natürlich unbewusst) aufgrund schlechter Erfahrungen, „nie wieder bedürftig, nie wieder von anderen abhängig zu sein“. Durch die MS wird der Mensch unfreiwillig abhängig, so dass der Körper das entstehen lässt, was der Mensch benötigt. Das natürliche Bedürfnis nach Abhängigkeit, nach Umsorgtwerden kann nun gelebt werden.

Sattmann-Frese vertritt die Ansicht, dass man die Symptome überflüssig machen kann, wenn man lernt, sie zu verstehen und ihre Botschaft zu integrieren, also beispielsweise lernt, ein gesundes Mittelmaß zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu finden. Dazu sei meistens professionelle psychotherapeutische Unterstützung notwendig. Bei alledem dürfe die medizinische Behandlung nicht zu kurz kommen

Debets, ein niederländischer MS-betroffener Arzt, veröffentlichte 1992 seine Arbeitshypothese. Er geht davon aus, dass traumatische Erfahrungen in frühen Entwicklungsphasen, eventuell noch in der Gebärmutter als Ungeborenes, dazu führen, dass Impulse blockiert werden. Dadurch käme es zu einer Anhäufung von Überträgerstoffen im Nervensystem. Diese Abfallstoffe müssten durch das Immunsystem beseitigt werden, welches also aktiviert würde. Irgendwann könne bei ständiger Wiederholung das Gleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten werden, und die Abwehrreaktion richte sich dann gegen das eigene Nervensystem.

5) Krankheitsverarbeitung

Während es bei den bislang vorgestellten Arbeiten um Forschungen und Hypothesen zur MS-Ursache ging, sind besonders in den vergangenen beiden Jahrzehnten die Studien zur Krankheitsverarbeitung in den Vordergrund getreten. Fachleute sprechen vom „Coping“ und untersuchen, wie MS-Betroffene mit ihrer Krankheit leben und welche Bewältigungsformen sich günstig auf die Lebenszufriedenheit und unter Umständen auf die körperliche Befindlichkeit auswirken.

Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema seien hier die Arbeiten von Muthny mit seinen Kollegen von 1992 genannt: Diese Forscher verglichen Menschen mit Krebs, Nierenversagen, Herzinfarkt und multipler Sklerose. Dabei stellten sie fest, dass die MS-Betroffenen die höchsten Depressionswerte und die geringste Lebenszufriedenheit aufwiesen. Die niedrigsten Depressionswerte und die höchste Lebenszufriedenheit wurde hingegen bei den Menschen mit Herzinfarkt festgestellt. – Befragt zu den eigenen Theorien zur Krankheitsentstehung dominierte bei den MS-Betroffenen die Vererbungs-Hypothese, bei den Herzinfarkt-PatientInnen dagegen die Stress-These. – Von den Betroffenen wurde ein ausgeprägter Bedarf an psychosozialen Angeboten geäußert.

In ihrer Coping-Studie von 1995 beschreiben Rumpf und Wessel eine Gruppe von MS-Betroffenen, die durch realistische Sichtweisen auf das persönliche Leben, problemorientiertes Bewältigungsverhalten, Selbstaufbau und Sinnsuche weniger depressive Verstimmungen und mehr Lebensqualität erfahren. Entsprechendes stellte ein Forscherteam um Shnek ebenfalls 1995 fest: Je größer der eigene Handlungsspielraum wahrgenommen wird, desto geringer ist die Gefahr depressiver Verstimmungen.

Obwohl die Bedeutung einer gelungenen Integration der Krankheit in den Alltag kaum noch bestritten wird und auch die positive Wirkung psychotherapeutischer Begleitung in einigen Untersuchungen bestätigt wurde (Lemere 1966, Busse und Kronsbein 1981, Gergaut-Rösch et al. 1990), erhalten die Betroffenen selten professionelle Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung. Eine Gruppe um Kießling befragte 847 MS-Betroffene nach ihren Erfahrungen mit psychologischer Betreuung und stellte fest, dass nur 50 der Befragten Erfahrungen mit psychotherapeutischen Verfahren gemacht hatten. In seiner Veröffentlichung von 1990 kritisiert er die Vernachlässigung der psychologischen Seite der Erkrankung.

6) Gegenwärtige Denkansätze und Ausblick

Bereits seit etwa zehn Jahren beschäftigt sich die Psychoneuroimmunologie mit den Beziehungen zwischen Psyche, Nerven- und Immunsystem. Dabei ist festgestellt worden, dass diese Systeme nicht unabhängig voneinander arbeiten, sondern sich gegenseitig beeinflussen. Für die multiple Sklerose wurden bislang mehr Fragen aufgeworfen (Waksman 1994) als Antworten gefunden. Dennoch kann diese Forschungsrichtung dazu beitragen, ganzheitliches, vernetztes Denken auch hinsichtlich der multiplen Sklerose zu verbreiten.

Neuerdings beschäftigen sich immer mehr ForscherInnen mit den subjektiven Krankheitstheorien. Diese Forschungsrichtung geht der Frage nach, was die Krankheit MS auf dem Hintergrund der Biographie des einzelnen Betroffenen für die Identität des Individuums bedeutet. Es geht also um eine sehr individuelle Betrachtungsweise, bei der die einzelnen Betroffenen ernst genommen werden. Im Gegensatz zu früheren psychosomatischen Hypothesen wird nicht mehr das Gemeinsame aller MS-Betroffenen gesucht, sondern jede und jeder wird in ihrer oder seiner Individualität wahrgenommen. Dabei entdecken die Forschenden verschiedene Möglichkeiten der Betroffenen, die Krankheit MS in ihr Leben zu integrieren und dem Leben mit der Krankheit Sinn zu verleihen. Für die Betroffenen kann das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte dazu beitragen, sich die eigenen Strategien sowie den Sinn und Wert des eigenen Lebens bewusst zu machen. Bei der Preisvergabe der Stiftung LEBENSNERV wurde 1997 eine Arbeit zu dieser Thematik ausgezeichnet (Griesehop und Holtkotte 1996); bei der Preisverleihung im März 2000 wird wiederum eine Arbeit zu subjektiven Krankheitstheorien ausgezeichnet (Schubert 1999).

Ähnlich wie es in der pharmakologischen Therapie der MS heutzutage eine Fülle verschiedener Behandlungsmöglichkeiten gibt, tritt auch die Forschung zu psychosomatischen Zusammenhängen nicht mehr auf der Stelle: Wenn die Forschenden die Suche nach einheitlichen, einfachen Erklärungsmodellen aufgeben und sich auf die individuelle Wahrnehmung der unterschiedlichsten Facetten einer Person einlassen, wird der Blick frei für neue Forschungsperspektiven und Denkansätze. Außerdem können die einzelnen Betroffenen dadurch sicherlich effektiver unterstützt werden als bisher.

Anmerkung

Dieser Artikel enthält Elemente der Texte von Sigrid Arnade zu diesem Thema, die zuerst in Rundbrief Nr. 1 von 1992 und FORUM PSYCHOSOMATIK 2/98 sowie von Klaus Heutmann in FORUM PSYCHOSOMATIK 2/99 veröffentlicht wurden.

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