Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00 |
Teil 2 (letzter Teil): "Laudatio" von Dr. Hans Strenge, Universität Kiel
Die zweite wichtige, in die Zukunft weisende Frage nach den
Möglichkeiten, aktiv Einfluss zu nehmen, gipfelte ganz überwiegend in
der Meinung: "Intensiver leben".
Aus Untersuchungen der Arbeitsgruppe
um Muthny aus dem Jahre 1992 wussten wir bereits einiges über die
subjektiven Vorstellungen von MS-Patienten. Danach stehen Vererbung und
Alltagsstress in der Meinung der Betroffenen als Auslöser an oberster
Stelle; vier von fünf Erkrankten glauben, dass seelische Faktoren
zumindest mitverantwortlich seien. Seither sind keine vergleichbaren
Untersuchungen durchgeführt worden.
Erst Frau Dr. Schubert hat
sich erneut mit diesem Thema befasst und in ähnlicher Weise die von
Patienten geäußerte Bedeutung von chronischem Stress herausgestellt,
der dann zur Erschöpfung der Abwehrkräfte führen könnte.
Die neue Herausforderung ihrer Befunde lautet: Wie lässt sich das von
vielen Patienten favorisierte Konzept eines intensiveren Lebens realisieren?
Interessant wäre sicherlich, die Betroffenen selbst zu Wort
kommen und ihre Erfahrungen schildern zu lassen, beispielsweise ob sie
genügend "Anleitung zum Glücklichsein" in ihrem persönlichen
Umfeld, in der Selbsthilfegruppe oder im therapeutischen Kontakt erhalten. Auch
ganz konkrete, zum Teil tabuisierte Fragen wie nach der Bedeutung der
praktizierten Sexualität oder der ausgeübten Berufstätigkeit als
Beitrag auf dem Weg eines intensiveren Lebens können nur die Betroffenen
selbst beantworten.
In den letzten Jahren sind große
Anstrengungen unternommen worden, die Wirkfaktoren von Therapie zu verstehen.
Dabei hat sich als ein ganz wesentliches Element die Bedeutung der sogenannten
"therapeutischen Arbeitsbeziehung" herausgestellt. Die Forschungen auf diesem
Sektor haben gezeigt, dass eine günstige Arzt-Patienten-Beziehung nach
einer ausreichenden Flexibilität der subjektiven Krankheitstheorien
verlangt und die Erarbeitung eines gemeinsamen Krankheitsverständnisses
voraussetzt. Dazu allerdings müssen beide Seiten gehört werden und in
gleichem Umfang zu Wort kommen. Dies ist nicht immer selbstverständlich,
denn bisweilen wird der Austausch über dieses Thema von den Therapeuten
nicht angestrebt oder auch vermieden.
Es ist auch zu beobachten, dass
das professionelle Krankheitsverständnis einseitig vorgeprägt ist
durch den institutionalisierten Interessenrahmen auf Seiten des Mediziners.
Einige Patienten wählen unter diesen Vorzeichen den Weg des geringsten
Widerstandes, indem sie eine besondere Beziehungsform mit doppelter
Buchführung konstellieren: Sie verhalten sich auf der einen Seite an den
vorgegebenen Rahmen angepasst und sozial erwünscht, indem sie ihre Fragen
und Wünsche filtern, weil sie befürchten, dass ansonsten das
Interesse der Ärzte erlischt. Auf der anderen Seite suchen sie weiter nach
einer personalen Beziehung, die die Bedrohlichkeit der Erkrankung annehmen und
die Trauer über das Verlorene aushalten kann. Bisweilen findet sich eine
Halt gebende Person mit freimütig offeriertem Krankheitsmodell nur
außerhalb des schulmedizinischen Rahmens.
Über die
Hälfte der ambulant behandelten MS-PatientInnen in einer
Universitätsklinik lassen sich zusätzlich homöopathisch,
phytotherapeutisch oder mit Vitaminen und Spurenelementen behandeln, und ein
großer Teil wendet auch Entspannungsmethoden an. Wie Erlanger Forscher
herausgefunden haben, sind dies vor allem medizinisch gebildete, in der
Selbsthilfe engagierte Frauen. Diese Gruppe sieht in Stress und psychischer
Belastung den wesentlichen krankmachenden Faktor, initiiert in Eigenregie
Selbsthilfe und erhält sich dadurch Eigenständigkeit und
Unabhängigkeit.
Für die Zukunft stellt sich die Frage, ob
derartige Verhaltensweisen von betreuenden Medizinern, zumindest von in der
psychosomatischen Grundversorgung kompetenten Neurologen oder
Allgemeinärzten, wertschätzend gewürdigt und in ein individuell
ausgerichtetes psychosomatisches Gesamtkonzept unter Einschluss der modernen
Immunprophylaxe überführt werden können.
Arbeiten wie
die heute von der Jury prämierte Studie sind bei diesem Vorhaben
unverzichtbar. Es ist uns allen nur zu wünschen, dass Frau Dr. Schubert
auch in Zukunft die Lösung dieser wichtigen Fragen mit ihrem
wissenschaftlichen Engagement, ihrer Empathie und ihrer Kreativität aktiv
unterstützt.
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