Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00

Rede der Preisträgerin Dr. Ulla Schubert

Teil 1 von 2 Teilen

Zwei gedankliche Ausgangspunkte meiner medizinischen Doktorarbeit über "Subjektive Krankheitstheorie bei Multiple Sklerose Patienten" möchte ich zu Anfang meiner Ausführungen erwähnen: Zum einen handelt es sich dabei um das seit den 50er Jahren zunehmende Interesse der Forschung an der Kenntnis der subjektiven Vorstellungen des Patienten von Gesundheit und Krankheit, d.h. die Erforschung der gedanklichen Konstrukte des Betroffenen über Wesen, Entstehung, Beeinflussbarkeit und Behandlung der Erkrankung. Zum anderen ist dies die nahezu alltägliche Erfahrung in der sogenannten "Bewegungssprechstunde" der neurologischen Universitätsklinik der Universität zu Köln. Es ist die Erfahrung, dass nämlich gerade an Multipler Sklerose erkrankte Patienten die schulmedizinische Betreuung unterbrechen und sich anderen Therapieformen unterziehen.

Hieraus ergaben sich die grundlegenden Überlegungen: Welche Vorstellungen von der Genese (Entstehung, d. Red.) ihrer Erkrankung favorisieren MS-Patienten? Welche theoretischen Kontrollvorstellungen und letztlich welche Bewältigungsstrategien entwickeln die Betroffenen, die sich auf Dauer mit einer in der Symptomausprägung so wechselhaften Erkrankung wie der Multiplen Sklerose täglich auseinandersetzen müssen? Es stellt sich also die Frage "welche subjektive Krankheitstheorien finden wir bei MS-Patienten?"

In meiner Dissertation wurden deshalb 43 Patienten mit klinisch gesicherter MS, einem mittleren Lebensalter von 38 Jahren und einer mittleren Krankheitsdauer von 68 Monaten bezüglich ihrer subjektiven Krankheitstheorie befragt. Als Erhebungsinstrument dienten hierbei zwei Fragebögen zu individuellen Verursachungs- und Beeinflussbarkeitsvorstellungen, ein autobiografisches sowie ein offenes Interview, worin die zentralen Themenbereiche der subjektiven Krankheitstheorie vertieft werden sollten.

Neben Stress in aktuellen Beziehungen, Belastung durch eine schwere Kindheit und schicksalhaften Einflüssen gaben die Patienten vor allem die Erschöpfung der seelischen und körperlichen Abwehrkräfte als Ursache der Krankheitsentstehung an. Vertiefend zeigte sich, dass damit eine Überlastung in der Auseinandersetzung mit dem persönlichen Umfeld (zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in den jeweiligen Beziehungen) gemeint ist. Dazukommt aber ebenfalls eine Erschöpfung der Abwehrkräfte durch zu hohe Ansprüche an sich und durch zu grosse Strenge gegen sich selbst, durch Unterdrückung innerer Ängste und Gefühle.

Nach der Kontrolle der Erkrankung gefragt, wird diese entweder verdrängt, übergangen oder aber akzeptiert und möglichst in ihrer Bedeutung für das weitere Leben abgeschwächt. Wichtigste Vorstellung erscheint aber, das Leben mit der Erkrankung selbst in die Hand zu nehmen, neue Umgangsformen mit der Krankheit zu suchen oder aber gegen die Erkrankung zu kämpfen. Dabei wird gleichzeitig versucht, die versteckten Gefühle und Ängste offenzulegen und sich mehr zu gönnen.

Zusammenfassend vertreten die untersuchten MS-Patienten ein Ursachenmodell, welches vorwiegend stressorientiert ist. Hierbei werden somatische und psychische Faktoren berücksichtigt und können nebeneinander gelten.
Bezüglich der Kontrollvorstellungen dominiert ein aktives, die Eigeninitiatve und -Verantwortlichkeit in den Vordergrund stellendes Modell. Der Patient muss sich nicht zwingend zurückziehen und die Erkrankung als "gegeben" hinnehmen, sondern er kann auch agieren, kann verändernd und integrierend wirken.

Zur Verdeutlichung der prädominanten (vorherrschenden, d. Red.) subjektiven Krankheitstheorie soll ein Patient zitiert werden:
"So wie ich seit 15 Jahren lebe: morgens früh raus, und ... so um sieben Uhr an zu arbeiten, mit viel Hektik und Stress und in vielen Ländern unterwegs, mit vielen Menschen. Ich glaube, dass man das Stress nennt, Hektik, Entscheidungen, Telefon, Auto rumrasen, ja, wie immer, wie die zwölf Jahre zuvor, nichts geändert. Aber die Belastung, die, ich glaube das kann man wirklich sagen, die Belastung seitdem ich also nach dem Studium arbeite, die ist überdurchschnittlich, und mit vierzig Stunden hat sowas nichts zu tun. Und das ist mir schon klar, dass so was nicht in den Kleidern stecken bleibt, das ist mir schon klar."

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