Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/00 |
Teil 2: "Erzählen von Krankheit und Behinderung als Identitätssuche und Bewältigung" von Dr. Gabriele Lucius-Hoene
Im Erzählen konstruieren wir aus dem bedeutungslosen und
kontinuierlichen Ereignisstrom um uns herum höchstpersönliche und
sinnvolle Erfahrungen. Wir tun dies, indem wir ihn gliedern, aus diesem Strom
bestimmte Elemente auswählen, miteinander verknüpfen und mit
Bedeutung versehen: so fängt es an, dann passiert dieses, und so hört
es auf; dieses führt zu jenem, etwas entsteht, kulminiert zu einem
Höhepunkt oder einer Krise, und löst sich in einer Erkenntnis oder
einer Moral. Aus dem amorphen (gestaltlosen, d. Red.) Strom des Zeitablaufs
gliedern sich Gestalten, Sinneinheiten, Bedeutungen; wir verstehen, was
geschieht. Diese Erzählaktivität ist uns im allgemeinen nicht
bewusst; unsere alltäglichen Erfahrungen scheinen sich quasi selbst zu
erzählen, von selbst zu Geschichten zu gerinnen - aber wenn wir
vergleichen, wie verschiedene Zeugen eines Ereignisses zu höchst
unterschiedlichen Geschichten mit ganz unterschiedlichen Aussagen und
Folgerungen kommen, staunen wir darüber, wie jede die Persönlichkeit
des Erzählers und seine individuelle Weltsicht widerspiegelt.
Wie wir unsere verschiedenen Wahrnehmungen zu einem Knoten
schürzen, welche Aspekte wir miteinander verbinden und welche Bewertungen
wir ihnen auferlegen, bleibt also unsere ureigenste Leistung. Überspitzt
könnte man sagen, die Möglichkeit, etwas zu einer Geschichte zu
gestalten, lässt uns überhaupt erst bestimmte Erfahrungen machen. So
ist für unsere eingangs zitierte Erzählerin die Begegnung mit der
alten Dame nicht ein Zufallselement im Vorbeirauschen der Eindrücke - als
solches hätte sie es kaum erinnert - sondern eine Schlüsselerfahrung,
die sie selbst so gestaltet. Eine genauere Textanalyse enthüllt die
rhetorischen Strategien, mit denen sie uns diese Erfahrung vermittelt und
pausibel macht:
Aus ihren Reflexionen über das für sie so
wichtige und schwierige Thema Genesung und Zeitbedarf heraus erinnert sie sich
plötzlich an die Begegnung auf dem Krankenhausflur und verdichtet sie in
eine kleine Vignette. Der Körper braucht Zeit - diese schlichte
Erfahrungstatsache, die sie wahrscheinlich auch vorher schon oft gehört
hatte, wird zur höchstpersönlichen Erkenntnis, ja fast zur
Erleuchtungserfahrung und zur hilfreichen Formel durch die Person der alten
Frau. Diese Frau charakterisiert die Erzählerin in einer ganz bestimmten
Weise: sie spricht liebevoll-ironisch von der "alten Tante", bezeichnet sie als
ganz alt und klapprig, aber eben auch tapfer und stoisch ihre Runden drehend
und konstruiert sie damit in einem Gegensatz zu sich selbst, die sich jung und
ungeduldig in den Gängen herumtreibt: die alte, hinfällige Frau zeigt
Würde und Geduld mit ihrem Schicksal und Verständnis für ihren
Körper, so dass sie selbst, die soviel jüngere, davon lernen kann.
Gerade diese Kontraste, die die Erzählerin herstellt, machen die Aussage
der Frau glaubwürdig und machen damit auch ihre eigene Erfahrung dieses
alltäglichen Satzes "Der Körper braucht Zeit" authentisch,
eindrücklich und wirksam über die bloße Floskel hinaus.
Durch diesen Bedeutungsrahmen, den die Erzählerin ihr gibt, wird die
Begegnung zum Glücksfall und die Episode zu einer
Schlüsselgeschichte, quasi zu einem erzählerischen Talisman, der in
Zeiten der Ungeduld und der Resignation als hilfreich beschworen werden
kann.
Solche erzählten Geschichten, die einem Hörer zugute
kommen, entfalten ihre eigene Wirkungskraft. Sie sind nicht nur Wiedergabe von
Ereignissen, sondern liefern einen Mehrwert an Bedeutung. Indem der
Erzähler sie aus seiner Gefühls- und Gedankenwelt heraus entstehen
lässt, zieht er den Hörer in diese Welt mit hinein, er lässt ihn
quasi in seinen eigenen Schuhen laufen, seine eigene Perspektive einnehmen und
dieselbe Erfahrung machen. In unserem obigen Beispiel sehen wir plötzlich
den Krankenhausflur vor uns, fühlen die Frustration und Ungeduld der
Erzählerin, werden von Respekt vor der alten Dame erfüllt und tragen
eine Erkenntnis davon. Dem Charisma und der Überzeugungskraft einer
solchen Erzählung kann der Hörer kaum widerstehen.
Aber auch
ohne Hörer spielen solche erzählerischen Erfahrungsaufschichtungen
eine wichtige, wenn nicht zentrale Rolle in unserem Seelenhaushalt. Sie
kristallisieren unsere Erfahrungen und machen sie uns in unseren inneren
Monologen und Reflexionen verfügbar. Wir sind Erinnerungen, sagt
uns der amerikanische Neuropsychologe Daniel
Schacter in seinem neuen Buch, und man könnte
noch weitergehen und sagen: Indem wir diese Erinnerungen zur Sprache bringen,
sind wir unsere Erfahrungsgeschichten, und wir bestimmen darüber,
wie wir sie erzählen. Man könnte sogar sagen, dass unsere
Geschichten mehr von uns wissen, als wir selbst: das zur Sprache bringen
schafft Selbsterkenntnis, und die Personen, die wir im Rahmen unserer Forschung
um lebengeschichtliche Erzählungen bitten, sind hinterher oft verwundert,
betroffen und beglückt, so viel über sich erfahren zu haben, was
ihnen neu vorkommt, obwohl doch jedes Wort aus ihrem Mund stammte.
voriger Teil (1) ** nächster Teil (3)
voriger Artikel ** nächster Artikel
Inhalt von FP 2/00 ** FP-Gesamtübersicht
Startseite