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FORUM PSYCHOSOMATIK 1/01

Subjektive Krankheitstheorie von Multiple Sklerose-Patienten im Vergleich zwischen Chile und Deutschland

von Susanne Junginger

Multiple Sklerose in Chile

In Chile ist im Vergleich zu Deutschland eine sehr geringe Prozentzahl der Bevölkerung von Mulitple Sklerose betroffen. Die Schätzungen schwanken zwischen 200 und 1000 Erkrankten (1,5-10 pro 100.000, BRD: 80-160/100.000). Genaue Zahlen existieren für Chile nicht. Die Schätzungen kommen durch Vergleiche mit anderen lateinamerikanischen Ländern zustande.
Die Symptome und der Verlauf der Krankheit in Chile scheinen sich nicht grundsätzlich von den Verläufen in Deutschland zu unterscheiden. Aus einer Studie von Alvarez und Castillo über die Initialsymptome und das klinische Bild der Multiplen Sklerose in Chile geht hervor, dass keine regionalen chilenischen Besonderheiten bestehen.
Relevant für die subjektive Krankheitstheorie MS-Betroffener in Chile ist hingegen das geringe Vorkommen und damit der geringe Bekanntheitsgrad der Krankeit. Außerhalb der Ärzteschaft ist die Krankheit Multiple Sklerose unbekannt. So wird die subjektive Krankheitstheorie von den Betroffenen weitgehend unabhängig von Allgemeinwissen odern Massenmedien gebildet...
Die Rahmenbedingungen für chronisch Kranke sind in Deutschland und in Chile sehr unterschiedlich. In Deutschland wird es beispielsweise als soziales Recht angesehen, dass allen Bürgern die gleiche Gesundheitsversorgung zusteht, die im Fall von Multipler Sklerose auch die Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen beinhaltet. Körperlich beeinträchtigte MS-Patienten haben beispielsweise ein Anrecht auf einen Rollstuhl, einen Behindertenausweis und damit verbunden einen Schutz vor Entlassung, behindertengerechtes Wohnen und wenn nötig Hilfen zur täglichen Versorung. In Chile sind einige dieser Rechte, wie Rehabilitation, behindertengerechtes Wohnen und auch nur ein Rollstuhl nicht selbstverständlich, sondern können meist nur gegen Bezahlung in Anspruch genommen werden, andere, wie beispielsweise ein Arbeitsplatzschutz bestehen gar nicht.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Diese Studie hatte den Sinn, die subjektive Krankheitstheorie MS-Erkrankter eines kulturell von Deutschland verschiedenen Landes zu untersuchen. Neu an dieser Fragestellung war, dass Chile ein Land mit sehr unterschiedlichen Lebensstandards ist. So fällt eine Untersuchung der chilenischen Unterssuchungspopulation in sich sehr vielfältig aus. Die Einflüsse von materiellen Möglichkeiten und sozialer Umgebung können in Chile aufgrund klarerer Unterschiede markanter herausgearbeitet werden, als das in Deutschland möglich wäre. Desweiteren bestand die Möglichkeit des Vergleichs mit einer zuvor durchgeführten Studie aus Köln. Der Vergleich zwischen MS-Betroffenen zweier Länder ermöglicht die Darstellung, inwieweit die Kultur jedes Landes Einfluss auf die subjektive Krankheitstheorie hat.

Die chilenische Studie umfasst 42 MS-Betroffene, die über die Archive zweier staatlicher Krankenhäuser, über die Sprechstunde eines Neurologieprofessors und über die Selbsthilfeorganisation für Multiple Sklerose Erkrankte kontaktiert wurden und über ihre subjektive Krankheitstheorie befragt wurden. Als Erhebungsinstrumente dienten neuropsychologische Tests, ein standardisierter Fragebogen zu Ursachen- und Beeinflussbarkeitsvorstellungen und ein halbstrukturiertes Interview.

Das mittlere Alter der Patienten beträgt 41,4, Jahre, die mittlere Krankheitsduaer 10 Jahre. Die mittlere Krankheitsbeeinträchtigung nach Kurzke beträgt 16,8 Punkte, d.h. vereinfacht, dass ein Drittel der Probanden bettlägerig oder im Rollstuhl sind, ein Drittel mit Hilfe von Krücken geht und ein Drittel leicht bis gar nicht beeinträchtigt sind. 38% der Befragten gehören der Unterschicht an, 50% der Mittelschicht und 12% der Oberschicht.

Durch neuropsychologische Tests wurden höhergradige kognitive Defizite bei den Probanden, die in die Studie aufgenommen wurden, ausgeschlossen. Im Beck Depressions Inventar zeigten sich bei ca. 40% der Studienteilnehmer keine Depression, bei ca. 30% eine milde Depression und bei 30% eine mäßig bis starke Depression.

Beim Ursachenfragebogen zeichneten sich sechs Items ab, die bevorzugt mit dem Ausbruch der Krankheit in Verbindung gebracht wurden. Davon benennen zwei Items psychische Ursachen. Die innerpsychische Ursachenzuschreibung "zu hohe Ansprüche an sich selbst" wurde insgesamt am häufigsten mit der Krankheit in Zusammenhang gebracht und auch das zwischenmenschliche Item "Stress in persönlichen Beziehungen" nimmt eine wichtige Rolle in der Ursachenzuschreibung ein. Ähnlich häufig wurden die naturwissenschaftlichen Ursachenzuschreibungen "Überbelastung der körpereigenen Abwehrkräfte" und "Veranlagung, Vererbung" genannt. Auf Platz fünf und sechs folgen die "magischen" Items "Schicksal" und "Zufall".

Im Kontrollfragebogen wurde von den chilenischen MS-Betroffenen die Wichtigkeit des eigenen Handelns in den Vordergund gestellt. Die Rolle anderer bei der Bewältigung der Krankheit und das Nach-außen-tragen der Krankheit wurde eher abgelehnt. Am höchsten bewertet wurde von den chilenischen MS-Betroffenen "kämpfen", "Selbstsicherheit suchen", "die Probleme selber lösen", "Information suchen", "die Krankheit als Schicksal nehmen" und "grübeln".
In den Interviews wurden fünf Gruppen der subjektiven Krankheitstheorie herausgearbeitet. Am häufigsten wurde eine psychosoziale Ursachenzuschreibung gewählt (33%) gefolgt von mechanistischen, polykausalen Vorstellungen (29%), magischen Krankheitstheorien (17%) und naturwissenschaftlichen Krankheitstheorien (14%). 7% der chilenischen MS-Betroffenen formulierten keine subjekte Krankheitstheorie.
Klar wurde, dass die chilenichen MS-Betroffenen der Unterschicht häufig magische Krankheitstheorie oder gar keine Krankheitstheorie formulieren.

Mit fünf Fallbeispielen konnten zwei Thesen dargestellt und bestätigt werden.
1. Die Lebensgeschichte und Lebensumstände der MS-Betroffenen nehmen Einfluss auf die subjektive Krankheitstheorie und den Umgang mit der Krankheit.
Der im Lebensverlauf erlernte Umgang mit Problemen und Lebensereignissen wird auch beim Auftreten einer chronischen Krankheit wie der Multiplen Sklerose weiter verfolgt.

2. Verlauf der Krankheit als weiterer wichtiger Einflussfaktor auf die Krankheitstheorie
Ein plötzliches, beängstigendes Einsetzen der Krankheit begünstigt eher magische Theorien als ein langsamer, nicht lebensbedrohlicher Beginn der Krankheit.

Der Vergleich zwischen Interviews und Fragebögen ergab wie erwartet, dass mit unterschiedlichen Erhebungsmethoden auch unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden. In dieser Studie wurden die Ergebnisse der Interviews als Grundlage genommen, da Missverständnisse schon im Gespräch aufgeklärt werden konnten und die Strukturiertheit dem Probanden ermöglicht, sein Empfinden der Wirklichkeit mit seinen eigenen Worten darzustellen. Die Fragebögen dienten als ergänzende Informationsquelle. Folgend werden kurz die Ergebnisse der fünf Krankheitstheoriegruppen dargestellt.

Die Probanden, die keine subjektive Krankheitstheorie formulierten, zeigten in den Fragebögen einen unsicheren Umgang mit ihrer Krankheit. Sie kreuzten viele Ursachenzuschreibungen an und gaben auch im Bewältigungsfragebogen ihrer Hilflosigkeit Ausdruck.

Die Patienten, die naturwissenschaftliche Krankheitstheorie formulierten, zeigten eine hohe Konsistenz ihrer Theorie in Interviews und Fragebögen. Die MS-Betroffenen dieser subjektiven Krankheitstheorie scheinen ihre Krankheit zu akzeptieren. Sie sehen ihre Krankheit als etwas von außen Gegebenes und nur schlecht Beeinflussbares an.

Die MS-Betroffenen, die magische Krankheitstheorien formulierten, gaben in den Fragebögen vor allem zwischenmenschliche Probleme und innere Ängste als Ursache ihrer Krankheit an. Im Bewältigungsfragebogen gaben sie ein weit größeres Bedürfnis an, ihre Probleme mit der Krankheit nach außen zu tragen, als der Durchschnitt der chilenischen MS-Betroffenen.

Mechanistische, polykausale Krankheitstheorien wurden vor allem von jüngeren MS-Erkrankten formuliert. Individuell und konsistent kreuzten sie im Fragebogen ihre Krankheitstheorie an. Besonders wichtig empfindet diese Gruppe das intensive Leben mit der Krankheit.

Auch die fünfte und zahlenmäßig größte Gruppe der psychosozialen Krankheitstheorie antwortet in Fragebögen und Interviews konsistent. Ihr Umgang mit der Krankeit ist geprägt von kämpferischen, grübelnden und sich ablenkenden Handlungen...

Im Überblick kann man klar herausstellen, dass Krankheitstheorie und Krankheitsverarbeitung kulturell geprägt sind. Die Krankheitstheorien sind im Vergleich sicher nicht so unterschiedlich, wie zum Beginn der Studie erwartet. Eindeutig ist, dass in Chile Religion, Zufalls- und Schicksalsglaube eine größere Rolle spielen, jedoch beschreibt nur eine Minderheit der chilenischen MS-Betroffenen magische Krankheitstheorien als wichtigste Ursache ihrer Krankheit. Der überwiegende Teil der chilenischen Probanden hängt wie die deutschen Probanden einem multifaktoriellen Stressmodell an. Interessanterweise sind die Krankheitsverarbeitungen weit unterschiedlicher als die Krankheitstheorien. Eine Rolle spielen dabei die unterschiedlichen sozialen Rahmenbedingungen. Sicher sind nicht allein die sozialen und finanziellen Mittel entscheidend für eine erfolgreiche Krankheitsverarbeitung, doch konnte in der chilenischen Studie aufgezeigt werden, dass die MS-Betroffenen der Unterschicht weit mehr mit Depressionen und schwierigen Lebenssituationen zu kämpfen haben als die Betroffenen der Mittel- oder Oberschicht.

Als Schlussfolgerung dieser Studie ist festzustellen, dass interkulturelle Studien Ergebnisse erbringen können, beispielsweise in Bezug auf Faktoren, die auf die Krankheitstheorie Einfluss nehmen, die in Studien nur eines Kulturkreises untergehen können. Andererseits bringt die Studie in einem fremden Kulturkreis Probleme des Erfassens der Lebensbedingungen und kulturellen Umgangsformen mit sich. Der Aufwand einer solchen Studie ist dementsprechend hoch.

Für weitere Studien interessant wäre es, mehr über die Entwicklung von Krankheitstheorien im Krankheitsverlauf und in sich verändernden persönlichen Situationen zu erfahren. Eine Längsstudie könnte diese Probleme angehen.
Die vorliegende Studie konnte vielleicht einen Hinweis der Wichtigkeit sozialer Absicherung Behinderter zeigen und die Aufmerksamkeit des Arztes auf das subjektive Erleben eines chronisch Kranken lenken. Erst durch Erfragen der Lebensumstände, des Krankheitsempfindens und der Krankheitsverarbeitung des Erkrankten ist eine langjährige gute Arzt-Patienten-Kommunikation mit gemeinsamer Auswahl geeigneter Therapieverfahren möglich.

Kontaktadresse der Autorin

Dr. Susanne Junginger
Rennbahnstr. 65
50737 Köln
Tel.: (0221) 42 00 132

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