Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/01

MS und Marathon

Laufen und Rennen ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Als Kind rannten wir Jungs quer über die Felder unserer Gemarkung, wenn der Feldschütz mit seinem Fahrrad und Hund hinter uns her war. Als Schüler war das Laufen Kompensation für mich, da ich kein Fußball spielen konnte, und deshalb immer wieder von den anderen Jungs ausgelacht wurde.
Als junger Mann lief ich in verschiedenen Laufgruppen mit und fand darin Anerkennung und Bestätigung.

Mitte dreißig war es dann soweit, ich wollte meinen ersten Marathon laufen. Doch es sollte nicht sein. Im Abschlusstraining knickte ich um und verstauchte mir den Knöchel. Nach längerer Pause schloss ich mich dann meiner alten Laufgruppe wieder an und war total überrascht, dass meine Knie anfingen zu schmerzen, so dass ich den Lauf abbrechen musste. (Ein bekannter Sportarzt diagnostizierte mir Arthrose und sah mich schon im Rollstuhl sitzen, wenn ich seine Behandlung nicht akzeptieren würde). Das Laufen verlor seinen Reiz für mich, doch ganz aufgeben konnte ich es nie.

Mit 44 Jahren schien dann alles vorbei zu sein - Diagnose MS.
Mit Sehstörungen fing sie an, ging weiter zu Gleichgewichtsstörungen, - sie ließ mich an meinem Speichel verschlucken und raubte mir zu guter letzt noch meinen Geschmacksinn.
Hatte ich zunächst noch geglaubt, dass das alles nur vorübergehend und einer momentanen Stressbelastung zuzurechnen sei, so verlor ich jetzt meine Ruhe und Geduld und setzte mich mit meiner Hausärztin in Verbindung. Diese überwies mich umgehend an einen Neurologen zur Computertomographie.
Mit dem Arztbericht in der Hand ging ich zu einem Freund, einem Arzt und bat ihn um Übersetzung und Erklärung. Er zögerte. Doch als ich ihn noch einmal eindringlich darum bat, sagte er schließlich :"Verdacht auf Multiple Sklerose!"
Am nächsten Morgen bekam ich einen Platz in der Klinik und alle möglichen Untersuchungen fingen an, einschließlich einer Rückenmarkspunktion. Es dauerte dann noch einige Tage, bis ich endlich die endgültige Diagnose "Multiple Sklerose" erhielt. Der Spannungsbogen war inzwischen so groß, dass ich diese schon wieder als Erleichterung empfand - jetzt war es endlich gesagt.

Ich fiel in viele schwarze Löcher, kam irgendwie wieder heraus und fiel in das nächst größere.
Bilder zogen an mir vorbei, in denen ich mich selbst im Rollstuhl oder mit Krücken sah. Die Zukunft war dunkel und schwarz geworden.
Einige Wochen vor dem Schub hatte ich eine Gestalttherapie angefangen. Dies kam mir jetzt zu Gute. Die Therapeutin ermunterte mich immer wieder zum Malen - mit Wachsmalstiften dem Körper über die Hände Ausdruck zu geben. Natürlich war über lange Zeit die Krankheit Thema der Therapiestunden. Und immer wieder erschrak ich, wenn ich ein Lichtspiel sah - jetzt kommt wieder ein neuer Schub. Oder ich sah einen behinderten Menschen, in Wirklichkeit oder auf einem Bild - so wird es dir auch ergehen. Ich veränderte aber auch mein Leben. Ich vermied und vermeide Stresssituationen, sowohl in beruflicher, als auch privater Hinsicht. Denn dieser Stress war es, der mich meines Erachtens in die MS geführt hat.

Inzwischen sind sieben Jahre vergangen und ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die keinen Schub mehr in Folge hatten, so dass ich jedes Jahr zweimal Geburtstag feiern kann, den realen Geburtstag und zu dem Zeitpunkt, an dem ich wieder einmal sagen kann: Ein weiteres Jahr ohne Schub.

Im Laufe der Jahre gewann ich wieder mehr Zutrauen und Vertrauen in meinen Körper. Da sich alle Symptome weitestgehend zurückgebildet hatten, fing ich wieder vorsichtig an zu laufen. Zunächst probierte ich Walken aus, um dann wieder bei langsamen Laufgruppen einzusteigen. Gleichzeitig meldete ich mich bei einer Funktionsgymnastikgruppe an, um Koordination und Muskeln zu trainieren. Der gezielte, langsame Muskelaufbau kam auch meinen Knien zu gute, die Knieprobleme kamen nicht mehr. Wichtig war aber auch, dass ich mich in der Gruppe wohl und geborgen fühlte.

Inzwischen hatten Freunde angefangen, für die Marathondistanz zu trainieren und bald auch ihre ersten Läufe erfolgreich hinter sich gebracht. Zunächst war mir dieser Gedanke noch ganz fremd und ich begnügte mich mit den Läufen innerhalb der Gruppe. Doch er kam immer öfter und setzte sich bald bei mir fest. "Nein, das darfst du nicht, das kannst du nicht. Riskiere nicht deine Gesundheit!" Die innere Stimme war deutlich. Auch Außenstehende äußerten sich in der Sprache meiner inneren Stimme.
Es gab aber auch einige Personen und Ärzte, die in einem Marathonlauf keine unbedingte Gefahr oder Auslöser für ein Voranschreiten der MS sahen. Nach bestandener medizinischer Untersuchung versuchte ich Veröffentlichungen zum Thema "Leistungssport und MS" zu finden, blieb aber zunächst erfolglos. Erst recht spät, ich war schon auf dem Trainingshöhepunkt, erhielt ich noch einen Artikel zum Thema "Multiple Sklerose und Sport" Fussnote-hin, doch dieser Bericht konnte mich in meinem Vorhaben nur bestätigen. Auch mein mich betreuender Neurologe hatte keine Einwände gegen einen Marathonlauf. Als ständiges Motto wurde mir jedoch nahegelegt: "Achte auf die Zeichen deines Körpers und missachte sie/ihn nicht!"

Ein Jahr trainierte ich für das große Ziel, joggte, wenn mir/meinem Körper danach war, oder zog die Laufschuhe auch hin und wieder einmal aus, wenn mir nicht danach war. Dieses kam jedoch im Laufe dieses Jahres immer seltener vor. Ich spürte sogar noch einen weiteren positiven Effekt: Erkältungen, die ich sonst mehrmals im Verlaufe eines Jahres hatte, blieben in diesem Jahr ganz aus.
Und dann war es soweit: Ich lief meinen Marathon. Und da ein Marathon vorab mit dem Kopf gelaufen wird, lief ich ihn sicher und mit dem guten Gefühl, dass mir nichts passieren wird.

Wie ich oben schon erwähnte, lernte ich immer mehr auf meinen Körper zu hören, auf ihn zu achten. Die Ganzheitlichkeit, d.h. die Einheit von Körper, Geist und Seele ist ein wesentliches Prinzip der Gestalttherapie. Für mich bedeutete das, die hohen Ansprüche, die ich an mich stellte, verbunden mit einem hohen Anspruch an Perfektion, immer wieder zu spüren und zu überprüfen und meinen Gefühlen und Ängsten mehr Raum zu geben. Ich lernte mich zu öffnen, wurde weicher und erlangte dadurch mehr Offenheit für und Verständnis bei meinen Freunden und bei nahestehenden Personen.
Dazu gehört aber auch, mir Zeit zu geben. Denn vieles, was ich zunächst als ganz dringend empfinde, womit ich mich unter Druck setze, mir Stress mache, erledigt sich von selbst, lässt sich nicht erzwingen. Manche Veranstaltung und Aktion, auf die ich mich schon lange gefreut habe, lasse ich ausfallen, weil es mir jetzt, heute, diese Woche zu viel ist.
Und dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Ich muss ihn immer wieder neu anstoßen, muss immer wieder aufs Neue in mich hineinhören. Und oft ist es eine gute, richtige Entscheidung, und dann freue ich mich darüber.

Es mag seltsam klingen, wenn ich sage, dass ich, wenn auch nicht immer, eine gewisse Dankbarkeit verspüre - Dankbarkeit dafür, dass mir mein Körper ein Zeichen gesetzt hat: "So kannst du nicht weitermachen. Lerne mich zu schätzen und zu akzeptieren!" Das Leben ist mir dadurch leichter, reicher geworden.

(Der Autor möchte nicht genannt werden. Name und Anschrift sind der Redaktion aber bekannt, HGH.)

Fussnote-zurueck Multiple Sklerose und Sport
Akt Neurol 2000;27: 258-261
Georg Thieme Verlag,
Stuttgart - New York
ISSN 0302-4350

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