Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/03

2. Ausgangssituation

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, und trotz intensiver Forschung ist die Ursache der MS immer noch unbekannt. In der BRD sind etwa 120.000 Personen von MS betroffen. Zu etwa 40 Prozent sind MS-Betroffene auf Hilfsmittel wie Stützen, Rollstuhl, etc. angewiesen. Der Verlauf der MS ist unvorhersehbar. Die Krankheit verläuft manchmal gleichmäßig fortschreitend (= progredient), meist aber in Schüben, die sich zu Beginn der Krankheit zeitweilig zurückbilden. Die körperliche Seite der Erkrankung wird mit großem Aufwand erforscht, den psychischen Fragestellungen wird jedoch bislang zu wenig nachgegangen.


3. Problemstellung Projektskizze

Aus der Literatur ist bekannt, dass die Diagnosemitteilung und der Verlauf einer Multiplen Sklerose tiefe Spuren in der Lebensgeschichte der Betroffenen hinterlassen. Häufig führen die Symptome dieser bisher unheilbaren chronischen Erkrankung zum Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, zu Selbstwertproblemen und Resignation, da die gesamte Identität der Betroffenen erschüttert wird. Obwohl niemand diese Tatsache bezweifelt, werden die Betroffenen mit ihren Angehörigen und FreundInnen doch weitgehend alleine gelassen.


Der "Peer-Counseling-Ansatz"

Ein Angebot an psychischer Unterstützung, das diesen Tendenzen erfolgreich entgegenwirken könnte, wird bisher kaum vorgehalten. Und dort, wo es vorhanden ist, erfolgt die Unterstützung durch nichtbetroffene Fachleute, meist NeurologInnen, PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen oder SozialarbeiterInnen. Dieser traditionelle Ansatz hat jedoch seine Grenzen, da er von vielen MS-Betroffenen als bevormundend, von oben herab oder zu medizinisch orientiert erlebt wird. Abhilfe kann in diesem Falle die ergänzende Unterstützungsform des "Peer-Counseling" (Betroffene beraten Betroffene) bringen. Der Begriff "Peer-Counseling" stammt aus der weltweiten "Independent Living -Bewegung" behinderter Menschen, die für Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Eigenverantwortung eintreten. Hier sind die BeraterInnen "peers", "Gleiche", also Menschen, die ähnliches erlebt haben wie ihre GesprächspartnerInnen.

Bei der gemeinsamen Suche nach einem besseren Weg mit der Krankheit bringen die betroffenen BeraterInnen ihre eigenen Erfahrungen mit ein: ihre Mühen und Ängste, aber auch ihr Selbstvertrauen und ihren Mut. Es ist unseres Erachtens nicht unbedingt notwendig, dass bei allen Beraterinnen und Beratern die gleiche medizinische Diagnose gestellt worde ist, sondern es kommt entscheidend auf das gemeinsame Merkmal der eigenen Behinderung bzw. chronischen Erkrankung an. Das Ziel des "Peer-Counseling" ist, behinderte Ratsuchende in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und sie in ihrem Selbsthilfepotenzial zu unterstützen, eigene Problemlösungen zu entwickeln. Dadurch, dass der Berater oder die Beraterin zum einen selber behindert oder chronisch krank ist, zum anderen zusätzlich die fachliche Qualifikation als BeraterIn mitbringt, kann sich eine größere Vertrauensbasis entwickeln und eine Vorbildrolle wahrgenommen werden.



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