Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/03


Vielmehr wünschen sie sich einen Heilkundigen, der "dialogisch" (im Sinne Martin Bubers) im Patienten einen Bruder sieht und der Therapie nicht allein als Reparatur, sondern im ursprünglichen Wortsinn von therapeuein versteht.

Berufene und unberufene Medizinkritiker mahnen, die moderne Heilkunde verliere parallel zum technischen Fortschritt ihre Sprache: Technik versus Sprache. Infolge fachtechnischer Einengung der medizinischen Expertensprache, die durch den Gebrauch und Missbrauch von (unnötigen) Fremdwörtern, Abkürzungen und modischen Anglizismen immer patientenfremder werde, sowie infolge distanzierter "Averbalität" kühler Heiltechniker, sei die Bevölkerung in ihren emotionalen, irrationalen und metaphysischen Bedürfnissen, ihrem Leiden und ihren Ängsten unbefriedigt.

Integrative Ärzte sind sich der Gefahr einer sprachlosen, deshalb undurchschaubaren und furchterregenden Technik bewusst. Sie wissen, dass nicht die Apparate an sich das Gesicht der modernen Medizin prägen, sondern die mangelhafte Sprache, mit der die Technik an den Patienten herangetragen wird. Sie bemühen sich neben der technischen Fertigkeit auch um die Kunst des geduldigen Hinhörens und des einfühlsamen Wortes. Sie wissen, dass der hilfreiche Einsatz der Apparaturen neben dem manuellen Geschick auch den subtilen Umgang mit dem ärztlichen Wort erfordert. Sie beherzigen: "Je mehr Technik, desto mehr Sprache." (Linus Geisler)

Aus einer in Urzeiten matriarchalen Heilkunde ist über die Jahrtausende eine machtvolle Medizintechnik, gleichzeitig eine durch und durch männliche Wissenschaft geworden. Ihr ist das Yin-Prinzip, die weibliche Seite mit ihrer Beziehungsfähigkeit, mit ihrer intuitiven Weisheit, ihrer synthetischen Kraft und ihrem ökologischen Bewusstsein verlorengegangen. Übermäßig wurde ihr das Yang-Prinzip, die mathematische Raison, das Männlich-Rationale, das Analytische und das oft maßlos Kompetitiv-Expansive aufgepfropft.

Sollte es einer künftigen Heilkunde gelingen, ihre Heiltechnik zur Heilkultur zu erweitern, dann muss ihren Jüngern eine Synthese männlicher und weiblicher Werte gelingen. In Ärzten und Ärztinnen sind weibliche Kräfte gefordert, um echte Partnerschaft zu ermöglichen und die drohende Sklerokardie moderner Medizintechnik aufzuweichen. Der Arzt von morgen, wie er uns als Wunschbild vorschwebt, muss Väterliches und Mütterliches in sich entfalten: "Un père maternel" sollte er sein. Ähnlich hat dies Karl Jaspers ausgesprochen mit der Feststellung: "Unter Tränen kann man nicht operieren" und seiner gleichzeitigen Mahnung: "Dass in der Kühle das Herz wachbleibe". Vor 100 Jahren hat der Internist Bernhard Naunyn ein vielzitiertes Postulat formuliert. Es stammt aus einer Epoche, als die Begeisterung über das mechanistische Konzept und die gewonnene Wissenschaftlichkeit noch ungetrübt triumphierte: "Die Medizin wird Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein." Dieser Satz muss heute so abgewandelt werden: Die Medizin im dritten Jahrtausend muss dem Ruf des Komplementären folgen. Sie wird mehr als spezialisierte Heiltechnik und naturwissenschaftliches Expertentum sein, nämlich auch einfühlsame Partnerschaft, damit Heilkultur. Nur dann wird sie die richtige, die zeitgemäße und menschengerechte Medizin sein!

Dr. Frank Nager, Jahrgang 1929, war Chefarzt am Kantonsspital Luzern und ist seit 1976 Professor für Medizin an der Universität Zürich.

(Der vollständige Essay erschien in dem Buch "Gesundheit, Krankheit, Heilung, Tod - Betrachtungen eines Arztes" in der Reihe "Kultur in der Zentralschweiz" der Stiftung Akademie 91, Maihof Verlag, Luzern 1997. Wir danken dem Maihof Verlag für die freundliche Abdruckerlaubnis.

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