Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/05

Taubstumme Medizin*



Von Adolf Muschg

Es ist schwer, über das Rendezvous, das ich gerade hinter mir habe, keine Satire zu schreiben: Ich wurde bereits dafür bestraft, daß ich es gewünscht hatte. Aber Sie sind ja schon untersucht? stellte der Mann fest, dem ich gegenübersaß; Ihnen fehlt nichts! Richtig war so viel: Es hatte sich für meine Beschwerden trotz Abklärung kein organischer Grund finden lassen – immerhin bestand das theoretisch alarmierende Symptom fort und ging mit hartnäckigen Schmerzen zusammen, das schien mir Grund genug, die Meinung einer bekannten, freilich auch – sagen wir’s vorsichtig – für ihre militärische Kürze bekannten Koryphäe einzuholen.Die Koryphäe sah in meinem Besuch zuerst die standespolitische Unregelmäßigkeit, einen Mißbrauch der freien Arztwahl und einen Anschlag auf ihre kostbare Zeit. Ich war doch bereits untersucht, was wollte ich mehr? Ich saß als Querulant da, bevor er sich die Mühe genommen hatte, mir die Hand zu geben. Das theoretisch alarmierende Symptom erklärte er gleich für irrelevant; für meine Schmerzen interessierte er sich schon gar nicht. Die schien er einfach für eine private Schwäche zu halten, was ich dem Vergleich mit Schwerstleidenden entnahm,
zu dem er sich gleich herausgefordert fühlte.
„Subjektiv“ war, wie ich später bemerkte, ein Schimpfwort für ihn: Als objektiv ließ er nur
gelten, was er tasten konnte, und auch auf seinen spezialisierten Griff besaß ich noch lange kein
Recht. Ich gehörte auf den ersten Blick zu denen, an denen er nichts fand: also fehlte mir nichts!
Mein Kopf brauchte eine Weile, um mit der einfachen Tatsache fertig zu werden, daß dieser
Mann vor mir erst reaktionsfähig war, wenn sein Messer gefragt
wurde: daß er alles noch nicht Operable als Bagatelle zu behandeln gewöhnt war. „Man kann
nicht operieren“, hatte mich vor Jahren ein Urologe in einer deutschen
Mittelstadt wissen lassen, ohne meine laienhafte Bestürzung zu bemerken. Gemeint war: Ich
war kein Fall für eine Operation, also, nach chirurgischen Maßstäben,
nicht heilbar. Muß ich sagen, daß meine Emotionen die Korrektur solchen Sprachgebrauchs nicht
mitmachten, die mein Kopf vernünftigerweise gebot? Daß ich mich nicht nur medizinisch gänzlich
im Stich gelassen, sondern auch als Person gedemütigt und in meinem Leiden verhöhnt fühlte?
Solche Gefühle stempelten mich zum Neurotiker, der Mann warnte mich ausdrücklich vor ihnen; jede
Andeutung aber, daß ich in erster Linie die objektive Würdigung meiner Situation vermisse, faßte er
als persönliche Zumutung, ja als Beleidigung der gesamten Ärzteschaft auf. Als er sich dann doch
zu einigen Routineuntersuchungen herbeiließ, weigerte er sich, mir ihre Resultate mitzuteilen: wozu
ich das wissen wolle? Mir blieb am Ende nur der merkwürdige Trost, daß der Mann nicht verfehlt
hätte, mir einen sehr gravierenden Befund in dürren Worten mitzuteilen: dafür war er bekannt.
Der Mann ist eine Koryphäe, aber ich habe bisher vermieden, ihn einen Arzt zu nennen. Nach
allem, was wir heute über das Wechselverhältnis Arzt-Patient und sein therapeutisches Potential
wissen können, ist der Mann von überragender Inkompetenz. Reagiere ich meine Bitterkeit an einem
untypischen Einzelfall ab? Mir scheint, man muß von der Misere autoritärer Schulmedizin in Einzelfällen
reden – und typisch werden sie einfach dadurch, daß sie einem selbst immer wieder zustoßen,
wenn auch nicht immer in so klassischer Grobheit. Ärzte, die aus nie eingestandener, nie bewältigter
Angst vor dem Patienten nur noch in der Reduktion auf ihre spezialisierte, aber verkümmerte
Objektivität leben, sind auch gesellschaftliche Unglücksfälle. Ihre Medizin ist nicht nur im strikten
Wortsinn unmenschlich, sondern versagt auch vor ihren eigenen Kriterien: denen der Effizienz, der
Ökonomie, des wissenschaftlichen Fortschritts. Sie stellt die größere Belastung des Gesundheitswesens
dar und ist für dessen Ausuferung stärker verantwortlich als Legionen von Tablettenkonsumenten und sogenannten
Hypochondern, ja selbst als Druck der pharmazeutischen Industrie. Denn Spezialisten,
die menschliche Analphabeten sind, werden für den Patienten zum Teil seines Leidens. Indem die
Schulmedizin den Menschen von seiner Krankheit trennt, vertieft sie sein Gefühl der Ohnmacht gegen
diese und versäumt es, ihn an ihre – und das heißt ja wohl: an seiner – Heilung zu beteiligen. Eine solche
Medizin liefert den Kranken seiner Krankheit, die sie zu heilen vorgibt, erst richtig aus, denn sie
bestärkt ihn in der Furcht, daß sein Körper etwas ihm Fremdes, Undurchsichtiges, im Grenzfall: Unheilbares sei.
Ja, diese Medizin steht unbewußt auf der Seite der Krankheit, denn sie braucht sie zu ihrer eigenen
Bestätigung; insofern macht sie krank. Sie ist zu teuer, nicht nur volkswirtschaftlich, aber auch
dies. Denn sie treibt unvorstellbaren Verschleiß mit wertvollen und unersetzlichen Gütern: mit der gesunden
Natur in jedem Kranken, der Wege gezeigt werden könnten, ihre eigene Heilung zu betreiben,
die Krankheit nicht mehr nötig zu haben. Der Kurzschluß an diagnostische Apparate ist dafür
ein Hilfsmittel, das der Arzt selbst darstellt, wenn und insofern er ein beziehungsfähiger Mensch ist:
Diese Heilkraft wird durch die heutige medizinische Ausbildung, vorsichtig ausgedrückt, nicht geweckt.
Es müßte schon dem Vorkliniker klargemacht werden, daß ein Arzt, der nur Spezialist ist, auch als Spezialist nicht genügt. Denn es gibt keine Therapie, die den Namen Heilkunst verdient, ohne Rücksicht auf den Kontext,
auf den individuellen Sinn der Krankheit; auf das, was sie sagen will. Diese Sprache aber muß man
lesen lernen. Verlange ich vom Arzt etwas, was die Gesellschaft als Ganzes nicht leistet – eine universale Kompetenz
über alle Gräben der Fachwissenschaften hinaus, und schon fast im Bereich der Magie? Aber nein: Ich wünsche mir als Patient nichts weiter als den zureichenden Fachmann. Zu dem würde gehören, daß er den Menschen, bevor er ihn untersucht,
wahrnimmt. Zu dem würde gehören, daß er die Grenzen seines Faches so gut kennt, daß er sich getraut, den Patienten an dieser Kenntnis zu beteiligen. Denn diese Grenzen sind es, wo der Patient für seine Gesundheit selbstverantwortlich
tätig werden kann und soll. Zum ärztlichen Fachmann, den ich meine, gehört etwas scheinbar so Einfaches,
daß er sehen und hören kann; und etwas offenbar so Schwieriges, daß er sprechen lernt. Idealerweise
müßte eine Sprechstunde eben dies sein: eine Stunde Gespräch über die Krankheit, die
dem Patienten etwas Bestimmtes sagen will. Dieses Gespräch ist indessen nicht nach Minuten, sondern
an seiner Qualität zu messen. Findet es wirklich statt, kann es viele Medikamente und Konsultationen
erübrigen. „Wir behandeln den Menschen als einen Lebendigen“, habe ich einen Barfußarzt in der Mandschurei
sagen hören. Um nichts Geringeres ginge es: den Menschen als Kranken zu würdigen und als Lebendigen
zu behandeln. Als ein italienischer Fürst des 16. Jahrhunderts den Arzt und Philosophen
Cardano um ein Rezept gegen sein Übelbefinden bat, schrieb ihm Cardano zurück: Um dem
Herrn dienen zu können, müsse er, Cardano, ihn über längere Zeit bei allen Verrichtungen beobachten,
beim Essen, Gehen, Reden, Schlafen und Regieren: ohne diese Information sei an keine Diagnose
oder gar Therapie zu denken. Mir scheint, die moderne Medizin müßte wieder eine Ahnung entwickeln
für die Maxime solcher Heilkunst; und ihr ganzer Fortschritt müßte dafür eingesetzt werden,
daß sie nicht nur Fürsten zugute kommt.




*Unveränderter Abdruck des Artikels
„Taubstumme Medizin“ in der
Frankfurter Rundschau vom
13.03.1979 (in alter deutscher
Rechtschreibung) mit freundlicher
Genehmigung des Autors.
Adolf Muschg (Jahrgang 1934)
gehört zu den bedeutendsten
Schriftstellern der deutschsprachigen
Literatur. Seit 2003 ist der
Schweizer Autor Präsident der
Akademie der Künste Berlin.
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