Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/07

Forschung aktuell
Erfahrungsinstrument Körper, Stigma und MS





Ein Forschungsbericht von Nina Grytten und Per Maseide,
zusammengefasst und auszugsweise übersetzt von H.- Günter Heiden

Der nachstehende Forschungsbeitrag, veröffentlicht in der Zeitschrift Chronic Illness im Jahr 2005, kommt aus Norwegen und befasst sich aus einer eher ungewohnten Perspektive mit dem Unterschied zwischen der rein medizinischen MS-Identität und der sozialen MS-Identität. Die AutorInnen sind Nina Grytten und Per Maseide. Nina rytten arbeitet am Nationalen Multiple Sklerose Kompetenzzentrum in der Haukeland Universitätsklinik in Bergen und Per Maseide ist Sozialwissenschaftler an der Universität Bodö.

Ungewohnt war für mich und wird wohl auch für viele LeserInnen die Begrifflichkeit sein. Was man unter „Stigma“ versteht, mag noch allgemein geläufig sein, doch im englischen Originaltext heißt es im Titel des Aufsatzes „What expressed is not always what is felt: coping with stigma and the embodiment of perceived illegitimacy of multiple sclerosis“. Wie um aller Welt soll man den zweiten Teil des Titels nur übersetzen? Fangen wir beim vermeintlich leichteren „illegitimacy“ an, das Illegitimität, Ungesetzlichkeit, Unrechtmäßigkeit oder Unehelichkeit bedeutet,
nach meinem Verständnis aber am besten mit dem etwas altmodischen Begriff des „Makels“ übersetzt werden könnte. „Perceived illegitimacy“ werde ich also als einen „wahrgenommenen Makel“ oder „für sich erkannten Makel“ übersetzen.
Bleibt der Begriff „embodiment“. In den Wörterbüchern wird das Wort klassisch mit „Verkörperung“ oder Ausgestaltung“ übersetzt. „To be the embodiment of the evil“ steht demnach für „das Böse in Person sein“. Etwas altmodisch, aber recht treffend, könnte man unter „embodiment“ auch so etwas wie „Inkarnation“ verstehen. leichzeitig steht „embodiment“ aber auch für einen neueren Begriff in der Sozialpsychologie und der Klinischen Psychologie. Nach Aussagen der freien Enzyklopädie Wikipedia wird dieser neue Begriff verwendet, „um die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche zu betonen. Es ist nicht nur so, dass sich psychische Zustände im Körper ausdrücken (¸nonverbal´ als Gestik, Mimik, ..., Körperhaltung), es zeigen sich auch Wirkungen in umgekehrter Richtung: Körperzustände beeinflussen psychische Zustände. Beispielsweise haben Körperhaltungen, die aus irgendeinem Grund eingenommen werden, Auswirkungen auf Kognition (z.B. Urteile, Einstellungen) und Emotionalität.“
Erst wenige Monate alt ist eine Veröffentlichung aus dem Berner Hans Huber-Verlag über Embodiment. Dort heißt es im Vorwort: „Jede Fachperson, die Menschen berät, therapiert oder erforscht, ohne den Körper mit einzubeziehen, sollte eine Erklärung für dieses Manko abgeben.“ Embodiment befasst sich also mit einer Art Wiederentdeckung oder
Neubewertung der Körperarbeit, es geht um eine „Rückeroberung des wichtigsten Erfahrungsinstrumentes des Menschen: den Körper.“ Aus diesem Grund ist für mich die Übersetzung von „embodiment“ mit „Verkörperung“ oder besser Ver-Körperung“ zwar angemessen, aber meines Erachtens immer in dem letztgenannten weiten Sinn der Rückeroberung der Wechselwirkungen von Geist und Körper zu verstehen – und das ist – für Menschen, die eine psychosomatisch rientierte Grundüberzeugung haben, eigentlich doch nicht so ganz neu. Ich möchte also eine auszugsweise Übersetzung versuchen, die die Kernaussagen zusammenfasst und die Hintergrundliteratur auslässt.

„Was man ausdrückt, ist nicht immer das, was man fühlt“
Umgang mit Stigma und der Verkörperung von
wahrgenommenem Makel bei Multipler Sklerose.



von Nina Grytten und Per Maseide


Zusammenfassung
Gegenstand:
In dieser Studie untersuchten wir das Stigma, das von Menschen mit multipler Sklerose (MS) und ihren Angehörigen erlebt wird. Wir beschreiben coping als „Eindrucks-Management“ des Körpers, um Stigma und erlebtem Makel entgegenzuwirken.
Methode: Vierzehn Menschen, darunter solche mit MS in mittleren und späteren Verläufen der Erkrankung und ihre Angehörigen wurden offen interviewt. Die Interviewswurden aufgezeichnet und ergaben schließlich ein 500-seitiges Dokument.
Ergebnisse: Die Funde deuten auf eine Dimension von Stigma hin, die aus der „ver-körperten“ Wahrnehmung eines erlebten Makels besteht. Die Interviewten berichteten reale und gefühlsmäßige Vorteile von absichtlichem Ver-schweigen oder Informieren über ihre MS, um das soziale Urteil in Begegnungen zu beeinflussen. Diskussion: MS-Betroffene verwenden eine Taktik von Interesse wahrender Aufdeckung, durch die sie ihr Selbst zu schützen versuchen. Dabei wird die Strategie einer präventiven Aufdeckung gewählt, um Unterstützung von anderen zu erhalten. Weiterhin wird eine Strategie der Verheimlichung von MS absichtlich genutzt, um die Betroffenen vor Ausschluss aus sozialen Zusammenhängen, besonders in Bezug auf die Arbeitswelt zu schützen.
Wir bedienen uns in diesem Aufsatz des Verständnisses einer „sozialen Konstruktion“ von „Behinderung“ und des sozialen Modells, um den sozialen Ausschluss herauszuarbeiten und darzustellen, wie ein Makel als körperliche Erfahrung kommuniziert wird ...
Das soziale Modell von Behinderung platziert Behinderung direkt in die Gesellschaft. Es bezieht sich auf das Versagen, angemessene Dienstleistungen und Vorkehrungen zu schaffen, die behinderte Menschen benötigen: „Man wird nicht als behinderte Person geboren, sondern als behindert betrachtet.“ (Das soziale Modell sieht natürlich auch, dass es eine medizinisch feststellbare „Schädigung“ gibt. Die Bezeichnung „Behinderung“ ergibt sich jedoch erst im Zusammenspiel dieser Schädigung mit den Auswirkungen gesellschaftlich vorhandenen Barrieren, Anm. d. Übers.)
In diesem Bericht untersuchen wir, wie Menschen mit MS ein spezielles „Informations-Management“ nutzen, um einer Stigmatisierung in sozialen Begegnungen entgegenzuwirken. Nach Goffmann besteht ein Stigma in einer „ungewünschten Unterschiedlichkeit“, einer Eigenschaft, die tief herabwürdigend und bei der die Person, die damit versehen ist, als „anders als die anderen“ und als „weniger wünschenswert“ wahrgenommen wird. Goffmann unterscheidet weiter zwischen dem „Herabgewürdigten“, der eine offensichtliche Unterschiedlichkeit besitzt und dem „Herabzuwürdigenden“, der das Potential einer nicht sofort sichtbaren Unterschiedlichkeit besitzt.
Zu einem Stigma kann es in unserem Zusammenhang führen, wenn man nicht in der Lage ist, den eigenen Körper zu kontrollieren. Der Körper stellt normalerweise den objektiven Ausdruck von inneren Verfassungen dar, die ja nicht direkt beobachtet werden können. Der Körper spielt auch eine zentrale Rolle dabei, wie sich Personen zu anderen Personen in der alltäglichen Begegnung verhalten. Ein unkontrollierbarer Körper und die daraus resultierende Erfahrung sozialer Abwertungsind Umstände, die das Selbst und die soziale Identität bedrohen.
Obgleich eine Person eine feststehende medizinische MS-Identität hat, je nach Verlauf der MS, hat er oder sie nicht notwendigerweise eine feststehende soziale MS-Identität. Als eine sozial bestimmte Größe kann sie unterbrochen und unterschiedlich je nach Ort oder Zeit sein. Der Besitzer kann seine Identität manipulieren oder kann sie bei Gelegenheit einführen, falls es unbequem wird. Unsere Frage ist also: In welchen Situationen wird ein Stigma konstruiert und wie gehen Menschen mit der täglichen Erfahrung von Stigma um?







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