Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/07


Das Immunsystem und die Psyche

Was die Abwehr schwächt
und wie die Psyche sie stärken kann




von Annerose Scheuermann

Es ist sicher kein Geheimnis, dass es einen Zusammenhang zwischen Gefühlen, Befinden, Gedanken und der Immunreaktion gibt. Die meisten Menschen können an sich selbst beobachten, dass sie besonders während oder nach stressigen Lebensphasen für Infekte anfälliger sind als in Zeiten, in denen es ihnen richtig gut geht. Um so verwunderlicher mutet es an, dass sich erst vor gut 25 Jahren die Psychoneuroimmunologie (PNI) der Erforschung der Zusammenhänge von seelischem Erleben, dem Nerven- und Hormonsystem und der Immunreaktionen gewidmet hat1. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Studien über die Aktivitäten des Immunsystems unter Stress angelegt und viele Zusammenhänge der komplexen Reaktionen entschlüsselt. So wurde u.a. bekannt, dass die Kommunikation im Körper netzwerkartig stattfindet. Das Netzwerk der vielen verschiedenen Immunzellen und -botenstoffe ist mit den Netzen der Hormone, der Nerven und des Gehirns verbunden. Sie greifen ineinander, reagieren aufeinander und bedingen sich gegenseitig, sind also wesentlich komplexer als vermutet.
Demgegenüber steht eine wissenschaftlich- medizinische Forschung, die zwar einräumt, die komplexen Immunmechanismen noch immer nicht bis ins kleinste Detail verstehen zu können, die aber auch weiterhin am Mittel der „wissenschaftlichen Doppelblindstudien“ festhält, also den Versuch unternimmt, die Wirkung medizinisch eingreifender Maßnahmen als objektiv eindeutig und statistisch messbar darzustellen. Dabei müssen subjektive und natürliche Heilungsvorgänge möglichst unberücksichtig bleiben beziehungsweise ausgeschaltet werden.
Die PNI ihrerseits ist bemüht, in wissenschaftlichen Studien die Eigenkräfte des Organismus zu verstehen. Sie wird teilweise noch immer scharf kritisiert und als wissenschaftlich unhaltbar abgewertet. Nichtsdestotrotz hat sie zueinem besseren Verständnis der Selbstheilungsmechanismen beigetragen und macht deutlich, wie dringend wir eine Medizin brauchen, die den Menschen mit Körper und Psyche im Ganzen berücksichtigt.

Verirrte Immunantwort
Die Anfälligkeit der Menschen in der modernen Gesellschaft für Infektionen und Tumorerkrankungen auf der einen Seite und die immunologische Überreaktion in Form von Allergien und dem Angriff auf körpereigene Zellen, die Autoimmunerkrankungen, auf der anderen Seite lassen vermuten, dass die Orientierung des Immunsystems mehr und mehr gestört ist. Neben Faktoren wie veränderter denaturierter Lebensweise, Ernährung und Bewegungsmangel, Umweltverschmutzung, Chemikalien, Giften, Strahlung und genetischen Dispositionen scheint besonders psychosozialer Stress eine wichtige Rolle zu spielen.
Zahlreiche PNI-Studien belegen, dass Virusinfektionen unter Stress weniger gut vom Körper unter Kontrolle gehalten werden können. So testeten PsychologInnen der University of Ohio beispielsweise die Auswirkungen einer Prüfung auf StudentInnen. Der Stress senkte den Spiegel der Antikörper und die Aktivität der natürlichen Killerzellen. Dieser Effekt dauerte sogar einen Monat an. Darüber hinaus wurden bei vielen StudentInnen schlummernde Herpes-Viren aktiviert, besonders bei denen, die sich als „einsam“ ezeichneten. ForscherInnen der internationalen Gesellschaft für PNI „Pnirs“ 2 resümierten in ihren Studien, dass auch die Anfälligkeit gegen das Epstein-Barr-Virus, welches u.a. an der Entstehung einiger Krebsarten beteiligt sein soll, unter Stress deutlich erhöht ist. Eine andere Untersuchung macht die Gefahr der Zellveränderung nach einer Infektion mit HP-Viren (Warzen-Viren, d. Red.) deutlich. Es gibt verschiedene HP-Viren, und nur einzelne stehen im Verdacht, zu krebsartigen Zellveränderungen beizutragen. So wurde auf dem HP-Virus 16, welches als krebsauslösend eingestuft wird, ein stressempfindliches Gen entdeckt, das unter Stressreizen besonders aktiv wird.
In einer Studie der Ohio State University wurde die Wundheilfähigkeit in Relation zur Stimmung in der Beziehung von Ehepaaren untersucht. 30-minütige Streitereien konnten die Heilung bereits um einen Tag verzögern. Feindseligere Paare weisen sogar eine 60-prozentige Verzögerung auf. Sie haben einen geringeren Interleukin-6-Spiegel, die Wundheilung wird jedoch von einem erhöhten Wert angeregt. In Folge eines Konfliktes kann es zu einer übersteigerten Interleukin-6 Reaktionkommen, was ebenfalls die Wundheilung verzögern kann. Das zeigt, wie vielschichtig Immunreaktionen sind.
In einer Untersuchung von Personen, die ihre dementen Angehörigen länger als acht Jahre pflegten, zeigte sich sogar eine um neun Tage verzögerte Wundheilung. Auch die Angst vor einer Operation verzögert den nachfolgenden Heilungsprozess und kann postoperative Komplikationen zur Folge haben. Scheinbar wird die Wundheilung durch Gefühle von Stress, Angst und Depression negativ beeinflusst, und dies um so stärker je größer gleichzeitig Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein sind.
Aus der Metaanalyse von mehr als 300 Studien geht hervor, dass sich kurzzeitiger Stress positiv auf das angeborene Immunsystem auswirken kann, gleichzeitig aber auch negativ auf das erworbene Immunsystem.3 Untersuchungsgegenstand waren beispielsweise die Anspannung von Fallschirmspringern kurz vor dem Sprung oder ein öffentlicher Vortrag vor StudentInnen.
Der Verlust des Lebenspartners war ebenfalls häufiger Gegenstand von Untersuchungen. Dabei zeigte sich besonders dann eine Schwächung der Immunreaktion, je stärker der überlebende Partner unter Depression oder unter Zwangsstörungen litt. Generell belegt ist die Verbindung zwischen einer hohen emotionalen Belastung und verringerten Immunaktivitäten, besonders bei Menschen über 40 Jahren, was eventuell mit der zusätzlichen Zellalterung zu erklären ist.
Die Vernetzung des Immunsystems mit dem Hormonsystem zeigt sich auch daran, dass sich das Krankheitsgeschehen im Körper umgekehrt auch auf die Psyche auswirkt. So lösen bestimmte Botenstoffe des Immunsystems Stimmungsschwankungen und Gedächtnisstörungen aus. Menschen, die unter chronischen Entzündungen leiden, können mit Depression und Müdigkeit auf diese reagieren.
Im Einfluss der Hormone auf das Immunsystem könnte auch eine Erklärung für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Häufigkeit von verschiedenen Immunerkrankungen liegen.

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