Niyazi Kaya ist eher ein leiser Typ. Sehr höflich, kein Mensch, der auftrumpft. Doch irgendwann ist ihm der Kragen geplatzt. Da hat er bei den Verwandten in der Türkei ein Machtwort gesprochen: „Er ist ein normaler Mensch“, habe er gerufen, und wirft dabei die Hände in die Luft, „Seht das auch so, sonst: AufWiedersehen.“ Danach ging es besser. Geholfen haben jedoch vor allem die Gespräche mit dem Kölner Psychologen Ali Kemal Gün und der Austausch in der Selbsthilfegruppe „Gemeinsames Leben“ in Düsseldorf, einem Treffpunkt für türkische Eltern mit behinderten Kindern. Dort hat auch die Familie Kilinc Rat und Hilfe gefunden. Fatih ist stark gehbehindert. Auch seine Eltern empfanden sein Handicap zunächst als Katastrophe. Erst hieß es: Er wird nicht überleben. Dann hieß es: Er wird nie laufen können, niemals die Schule schaffen, nie selbständig werden. Mittlerweile hat Fatih Kilinc die Handelsschule erfolgreich abgeschlossen und absolviert eine Ausbildung zum Verwaltungsangestellten. „Das alles verdanke ich meinem Vater, meiner ganzen Familie“, sagt der 22- Jährige. Heute schüttelt Vater Nuri Kilinc, 60, den Kopf über „die falsche Scham.“ Und der Bruder Aytekin, 32, bereitet eine Internetseite zur Beratung von Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen vor – auf Türkisch, Deutsch und Englisch. „Gegen die Barrieren im Kopf“, sagt er.

Nach den Erfahrungen des Psychologen Oktay Korkmaz kapseln sich viele Eltern behinderter Kinder ab. „Sie trauen sich mit ihren Kindern nirgends hin“, sagt der Psychologe vom Verein „Gemeinsames Leben“. Leiden und Behinderung empfänden sie als Schande. Oft verzichteten sie auch auf Hilfe. Neulich sei eine Familie mit ihrer 18-jährigen geistig behinderten Tochter zu ihnen gekommen und hätten sich nach einem Behindertenausweis erkundigt. „Sämtliche Möglichkeiten – Schule, Therapien, Werkstatt – alles verpasst“, stellt Korkmaz resigniert fest.

Auch Cornelia Kauczor vom Netzwerk Migration und Behinderung in Essen erlebt in ihrer Beratungspraxis, dass viele Angehörige des türkisch-arabischen Kulturkreises Familien mit behinderten Kindern eher ausgrenzen. Eigenes Fehlverhalten, aber auch Neid und der „böse Blick“ würden von vielen türkischen, kurdischen und albanischen Eltern für die Behinderung ihres Kindes verantwortlich gemacht. Die Pädagogin kritisiert, dass die meisten Angebote nur auf deutsche Familien zugeschnitten seien. Dabei gebe es ein doppeltes Sprachproblem: Zum einen fehlt es an Übersetzern und Informationsmaterial in den jeweiligen Sprachen; zum anderen fehlt das interkulturelle Verständnis.

Nach Ansicht von Oktay Korkmaz brauchen die Betroffenen dringend „Leute, die sie aus ihren Verstecken rausholen.“ Deshalb ist, so die einhellige Forderung von Experten, eine bessere Vorbereitung von deutschen Ärzten auf ihre ausländischen Patienten dringend notwendig. Vor allem geht es um ein besseres Verständnis der kulturellen und religiösen Hintergründe. Ein solches Verständnis ist bisher so gut wie gar nicht ausgeprägt. Vorreiter auf diesem Gebiet ist die Universität Gießen. Hier können angehende Ärzte das Fach „Interdisziplinäre Aspekte der medizinischen Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund“ belegen.

Dieselbe Grundidee steckt hinter Initiativen, sogenannte Gesundheits- oder Integrationslotsen als Mittler zwischen den Kulturen auszubilden. So hat das Ethno-Medizinische Zentrum in Hannover das Projekt „MiMi – Mit Migranten für Migranten“ entwickelt. Dabei werden gut integrierte Zuwanderer aus 15 Sprachgruppen von Fachleuten aus dem Gesundheitswesen geschult. Sie bieten muttersprachliche Informationsveranstaltungen zum deutschen Gesundheitssystem und zu Vorsorgeangeboten an. Andere übersetzen in Krankenhäusern und Arztpraxen. „Vor allem muss mit den Not-Dolmetschern Schluss sein“, fordert Varinia Morales vom europäischen Projekt „SpraKuM“, Sprach- und Kulturvermittler. Es könne nicht angehen, so die Projektleiterin, dass die griechische oder türkische Putzfrau des Krankenhauses übersetze, „wenn eine Magen-OP ansteht oder ein Herzschrittmacher eingesetzt werden soll“.


Info:

www.bkk-promig.de



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