Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/08 |
Niyazi Kaya ist eher ein leiser
Typ. Sehr höflich, kein Mensch,
der auftrumpft. Doch irgendwann
ist ihm der Kragen geplatzt. Da
hat er bei den Verwandten in der
Türkei ein Machtwort gesprochen:
„Er ist ein normaler Mensch“,
habe er gerufen, und wirft dabei
die Hände in die Luft, „Seht das
auch so, sonst: AufWiedersehen.“
Danach ging es besser. Geholfen
haben jedoch vor allem die Gespräche
mit dem Kölner Psychologen
Ali Kemal Gün und der Austausch
in der Selbsthilfegruppe
„Gemeinsames Leben“ in Düsseldorf,
einem Treffpunkt für türkische
Eltern mit behinderten Kindern.
Dort hat auch die Familie Kilinc
Rat und Hilfe gefunden. Fatih ist
stark gehbehindert. Auch seine Eltern
empfanden sein Handicap zunächst
als Katastrophe. Erst hieß
es: Er wird nicht überleben. Dann
hieß es: Er wird nie laufen können,
niemals die Schule schaffen, nie
selbständig werden. Mittlerweile
hat Fatih Kilinc die Handelsschule
erfolgreich abgeschlossen und absolviert
eine Ausbildung zum Verwaltungsangestellten.
„Das alles
verdanke ich meinem Vater, meiner
ganzen Familie“, sagt der 22-
Jährige. Heute schüttelt Vater Nuri
Kilinc, 60, den Kopf über „die falsche
Scham.“ Und der Bruder Aytekin,
32, bereitet eine Internetseite
zur Beratung von Menschen mit
Behinderung und deren Angehörigen
vor – auf Türkisch, Deutsch
und Englisch. „Gegen die Barrieren
im Kopf“, sagt er.
Nach den Erfahrungen des
Psychologen Oktay Korkmaz kapseln
sich viele Eltern behinderter
Kinder ab. „Sie trauen sich mit
ihren Kindern nirgends hin“, sagt
der Psychologe vom Verein „Gemeinsames
Leben“. Leiden und Behinderung
empfänden sie als
Schande. Oft verzichteten sie
auch auf Hilfe. Neulich sei eine Familie
mit ihrer 18-jährigen geistig
behinderten Tochter zu ihnen gekommen
und hätten sich nach
einem Behindertenausweis erkundigt.
„Sämtliche Möglichkeiten –
Schule, Therapien, Werkstatt –
alles verpasst“, stellt Korkmaz resigniert
fest.
Auch Cornelia Kauczor vom
Netzwerk Migration und Behinderung
in Essen erlebt in ihrer Beratungspraxis,
dass viele Angehörige
des türkisch-arabischen Kulturkreises
Familien mit behinderten
Kindern eher ausgrenzen. Eigenes
Fehlverhalten, aber auch Neid
und der „böse Blick“ würden von
vielen türkischen, kurdischen und
albanischen Eltern für die Behinderung
ihres Kindes verantwortlich
gemacht. Die Pädagogin kritisiert,
dass die meisten Angebote nur auf
deutsche Familien zugeschnitten
seien. Dabei gebe es ein doppeltes
Sprachproblem: Zum einen
fehlt es an Übersetzern und Informationsmaterial
in den jeweiligen
Sprachen; zum anderen fehlt das
interkulturelle Verständnis.
Nach Ansicht von Oktay Korkmaz
brauchen die Betroffenen
dringend „Leute, die sie aus ihren
Verstecken rausholen.“ Deshalb
ist, so die einhellige Forderung
von Experten, eine bessere Vorbereitung
von deutschen Ärzten auf
ihre ausländischen Patienten dringend
notwendig. Vor allem geht
es um ein besseres Verständnis der
kulturellen und religiösen Hintergründe.
Ein solches Verständnis ist
bisher so gut wie gar nicht ausgeprägt.
Vorreiter auf diesem Gebiet
ist die Universität Gießen. Hier
können angehende Ärzte das
Fach „Interdisziplinäre Aspekte
der medizinischen Versorgung
von Patienten mit Migrationshintergrund“
belegen.
Dieselbe Grundidee steckt hinter
Initiativen, sogenannte Gesundheits-
oder Integrationslotsen als
Mittler zwischen den Kulturen auszubilden.
So hat das Ethno-Medizinische
Zentrum in Hannover das
Projekt „MiMi – Mit Migranten für
Migranten“ entwickelt. Dabei werden
gut integrierte Zuwanderer
aus 15 Sprachgruppen von Fachleuten
aus dem Gesundheitswesen
geschult. Sie bieten muttersprachliche
Informationsveranstaltungen
zum deutschen Gesundheitssystem
und zu Vorsorgeangeboten an.
Andere übersetzen in Krankenhäusern
und Arztpraxen. „Vor allem
muss mit den Not-Dolmetschern
Schluss sein“, fordert Varinia Morales
vom europäischen Projekt
„SpraKuM“, Sprach- und Kulturvermittler.
Es könne nicht angehen,
so die Projektleiterin, dass die
griechische oder türkische Putzfrau
des Krankenhauses übersetze,
„wenn eine Magen-OP ansteht
oder ein Herzschrittmacher eingesetzt
werden soll“.
Info:
www.bkk-promig.de
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