Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/09

Subjektive Krankheitstheorien von
Pflegenden zu Multipler Sklerose:
eine Studie aus der Pflegewissenschaft


Von Gabi Stummer

Das Forschungsinteresse zur Dissertation „Subjektive Krankheitstheorien von Pflegenden zu Multipler Sklerose“ wurde aus der Praxis heraus angeregt. Eine Multiple-Sklerose (MS) Betroffene berichtete von ihrer Erfahrung, dass Pflegende MS-Betroffene als Personen beschreiben, die ganz bestimmte, eher negative Eigenschaften haben. Dieser Meinung nachgehend war das Ziel der Studie, Annahmen von Pflegenden zu MS und über MS-Betroffene aufzuzeigen. Von der Autorin wurde festgelegt, dass die subjektiven Krankheitstheorien von Pflegenden zu MS nach den Kriterien des Forschungsprogramms „Subjektive Krankheitstheorien“ beschrieben werden sollten.

Definiert wurden subjektive Krankheitstheorien von Pflegenden in Anlehnung an Aymanns & Filipp (1997: 18; 1998: 131) als Wissens- und Überzeugungssysteme, in denen Annahmen zur Krankheitsursache, Annahmen über die Persönlichkeit der Betroffenen und Annahmen zum Umgang mit den Betroffenen organisiert sind. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Pflegende Informationen im Alltag, in privaten und beruflichen Begegnungen mit Betroffenen und in der Ausbildung erhalten. Es ist jedoch wenig darüber bekannt, ob Pflegende die in der Ausbildung vermittelten Inhalte übernehmen und ob und wie Annahmen aus anderen Lebensbereichen sich neben diesen Inhalten in das Gesamtbild über Betroffene einordnen.

Um die Annahmen der Pflegenden beschreiben zu können, wurden 222 examinierte Pflegende aus dem stationären und ambulanten Bereich in einer quantitativen Querschnittsstudie durch eine Liste mit Annahmen zur Krankheitsursache (Schubert, 1999), dem Big Five Inventory (BFI; Rammstedt, 1997) und der Jefferson Scale of Physician Empathy (JSPE; Hojat: 2007) befragt.

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Pflegenden mehrheitlich keine der ihnen vorgelegten 28 Krankheitsursachenannahmen (KU-Annahmen) für eindeutig krankheitsauslösend halten. Die am höchsten favorisierten, als „etwas“ krankheitsauslösend angesehenen zwei KU-Annahmen, waren „Veranlagung/Vererbung“ und „Überbelastung der körpereigenen Abwehrkräfte“. Die am wenigsten in Frage kommenden KU-Annahmen waren „Strafe für falsches Handeln“, „falsche Erziehung“, „schlechte Gedanken, schlechte Wünsche“. Bei den mehrheitlich am höchsten favorisierten KU-Annahmen sind sich die Pflegenden nicht einig. Auch bei der an dritter Stelle favorisierten KU-Annahme „Zufall“ liegt keine einheitliche Meinung der Pflegenden vor. Die mehrheitlich am wenigsten favorisierten KU-Annahmen sind deutlich polarisiert und sind damit als sozial geteilte Annahmen zu werten. Bei „Strafe für falsches Handeln“, „falsche Erziehung“ und „schlechte Gedanken, schlechte Wünsche“ gehen jeweils etwa 90% der Pflegenden davon aus, dass hierdurch MS „gar nicht“ verursacht wird.

Aufzuzeigen ist, dass der Arbeitsort und die KU-Annahmen in direkter Beziehung zueinander stehen. Die medizinische KU-Annahme „Veranlagung/Vererbung“ wurde von den Pflegenden im Krankenhaus im Vergleich zu den Pflegenden im Alten- und Pflegeheim höher und im Vergleich zum ambulanten Bereich signifikant höher bewertet, wogegen die Mehrzahl der anderen KU-Annahmen niedriger bewertet wurde. Bei Pflegenden sind die Dimensionen – womit die Verknüpfungen der KUAnnahmen untereinander gemeint sind – je nach Umfeld (Arbeitsort und Ausbildung) unterschiedlich. Auch liegen zwischen den KU-Annahmen von Pflegenden aus dieser Studie und vonMS-Betroffenen, die Schubert (1999) befragt hatte, mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten vor.

Bei den Annahmen über die Persönlichkeit der Betroffenen kann von sozial geteilten Annahmen gesprochen werden. Pflegende sind gegenüber MS-Betroffenen neutral eingestellt. Es kann eine minimale Tendenz aufgezeigt werden, dass die Pflegenden die MS-Betroffenen mehrheitlich für etwas emotional labil halten.

Über die Antworten zum Umgang mit den Betroffenen zeigt sich, dass die Pflegenden ihre eigene empathische Orientierung gegenüber den Betroffenen hoch einschätzen. Pflegende mit Kontakt zu Betroffenen sind ihnen gegenüber am empathischsten.

Für die Pflege lassen sich aus den Ergebnissen der Studie mehrere Schlussfolgerungen ziehen. Auf pflegerelevante Ursachenannahmen muss verstärkt in der Aus- und Fortbildung eingegangen werden. Pflegende müssen Informationen zu MS aus allen Bereichen erhalten, dies schließt ein, dass sie sich intensiv mit den Annahmen der Betroffenen auseinandersetzen. Den Pflegenden muss bewusst gemacht werden, dass das Umfeld (Ausbildung und Arbeitsort) und der Kontakt mit den Betroffenen Einfluss auf ihre Annahmen über die Krankheit und über die Betroffenen nimmt. Dass Pflegende den Betroffenen keine bestimmten Persönlichkeitseigenschaften zuweisen, deutet auf wenig Vorurteile gegenüber MSBetroffenen bei Pflegenden hin. Dies und dass Pflegende Empathie im Umgang mit den Betroffenen für wichtig halten, wirft ein durchaus positives Licht auf die Pflegenden.

Die Autorin, Gabi Stummer, ist Diplom Pflegewirtin (FH) und Doktorandin an der Universität Halle, Institut Pflegewissenschaft Kontakt: gabistummer@web.de



Literatur

AYMANNS P.& FILIPP S. –H. (1997):

Elemente subjektiver Theorien über Krebspatienten aus der Sicht von Angehörigen, Pflegekräften und Nicht-Betroffenen. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, V (1), 17-32.

AYMANNS P. & FILIPP S. –H. (1998):

Soziale Wahrnehmungsprozesse als Vorläufer sozialer Unterstützung bei Krebspatienten. In: Koch U. & Weis J. (Hg.) Krankheitsbewältigung bei Krebs und Möglichkeiten der Unterstützung. Stuttgart: Schattauer, S. 131-140.

HOJAT M. (2007)

Empathy in Patient Care. Antecedents, Development, Measurement, and Outcomes. Springer Science+ Business Media, New York, NY Rammstedt B. (1997) Die deutsche Version des Big Five Inventory (BFI): Übersetzung und Validierung eines Fragebogens zur Erfassung des Fünf-Faktoren- Modells der Persönlichkeit. Bielefeld: Universität, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaften, Diplomarbeit.

SCHUBERT U. (1999)

Subjektive Krankheitstheorie bei Multiple Sklerose Patienten. Köln: Universität, Medizinische Fakultät, Diss.











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