FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 20. Jahrgang, 1. Halbjahr 2010

Peter Henningsen:
Psychotherapie bei Multipler Sklerose*

Vielen Dank Frau Arnade, Herr Heiden, ich freue mich wirklich, heute hier zu sein. Vor über 18 Jahren habe ich einen meiner ersten Vorträge in der Psychosomatik überhaupt auf Ihre Initiative hin in Stadtlengsfeld gehalten. Ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern: 1991 ging es um den damaligen Stand von Psychoneuroimmologie und Multipler Sklerose (MS). Angesichts dieser langen Verbindung freue ich mich, heute in diesem Rahmen zu diesem Thema mit dem Symposium zu beginnen.

Das ist jetzt ein relativ konventioneller Vortrag, in dem ich versuche, kurz auf die Zusammenhänge „ Multiple Sklerose und Psyche“ aus ärztlich-psychosomatischer Sicht einzugehen. Ich tue dies in vollem Bewusstsein, dass es auch noch alle möglichen Dimensionen gibt zu dem Thema: aus der Betroffenenperspektive, aus der Perspektive anderer Wissenschaften und so weiter, die jetzt nicht vorkommen. Dann möchte ich kurz die Evidenzlage anreißen, was gibt es bisher an Studien zu „Psychotherapie bei MS“ und abschließend ein Fazit ziehen.

MS ist eine sehr häufige, chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die in Deutschland mit einer Prävalenz von 1,5 Promille mit Erstmanifestation im jüngeren Erwachsenenalter auftritt. Im Verhältnis von 2 zu 1 sind Frauen betroffen. Die MS hat unterschiedliche Verlaufsformen, die mit den beiden Enden des Spektrums „schubförmig“ und „primär progredient“ verlaufen und mit Mischformen davon. Aus neurologischer Sicht geht es therapeutisch einerseits um die Therapie des Schubs, andererseits um eine immunmodulatorische Therapie, die die Wahrscheinlichkeit von Schüben und dem weiterem Fortschreiten der Erkrankung reduzieren soll. Es geht außerdem um die Therapie der Komplikationen, wenn solche eingetreten sein sollten. Ein besonderes Thema bei der Erkrankung, insbesondere in ihrem frühen Stadium, ist ihre unsichere Prognose. Man sagt, es ist am Anfang ganz schwer vorherzusehen, wie sie weiter verlaufen wird. Wichtig dabei ist aber die Aussage, dass sie nicht immer sehr schwer verläuft, sie ist nicht von dies 30 bis 50 Prozent der Patienten mit MS in irgendeiner Phase ihrer Erkrankung betrifft.

Wenn ein Patient mit MS eine Depression hat, ist nicht ohne weiteres klar, wie dies zu erklären ist. Es gibt Fälle, bei denen es klare Hinweise darauf gibt, dass die Depressivität auch etwas mit den organischen Läsionen zu tun hat. Aber das mischt sich mit Medikamenteneffekten, gerade bei der immunmodulatorischen Therapie, die bei manchen Patienten Stimmungsveränderungen auslösen kann und natürlich mit dem ganzen Komplex dessen, was man reaktive Depression nennt: Das Depressiv-Werden im Erkennen, im Sich-Auseinandersetzen, im Sich-Zurechtfinden mit dieser Erkrankung.

Ein in letzer Zeit besonders diskutiertes Thema ist die Fatigue. Ich weiß auch nicht, warum sich der Begriff „Fatigue“ und nicht „Erschöpfung“ oder „Müdigkeit“ eingebürgert hat. Es gibt Studien, die besagen, dass dies 80 Prozent der Patienten betreffen kann. Jeder Patient, der davon betroffen ist, muss erhebliche Anpassungsleistungen bei der Auseinandersetzung, der Bewältigung, der Identitätsfindung usw. aufbringen.

Wenn wir uns die Anpassungsleistungen ganz generell beim Erleben körperlicher Erkrankung einmal aus der Sicht der Medizinpsychologie anschauen, dann muss man sich, je nach Erkrankung, mit einer ganzen Reihe von Themen auseinandersetzen: der Lebensbedrohlichkeit, der möglichen Irreversibilität, der Progredienz, der Unvorhersehbarkeit, die ja bei der MS eine besonders große Rolle spielt, der reduzierten Leistungsfähigkeit, der durch die Erkrankung entstehenden Abhängigkeit von Ärzten, Personal und Angehörigen. Wir wissen aus anderen Studien und bei anderen Krankheitsbildern, dass unter dem Thema „Progredienz-Angst“, also Angst vor dem möglichen Fortschreiten der Erkrankung, das Abhängigkeitsthema eine ganz große Rolle spielt. Es gibt aber auch den wichtigen Aspekt des „Posttraumatic growth“, ich weiß nicht, ob es dafür eine deutsche Entsprechung gibt, also Krankheit als Krise und Chance. Man kann in der Auseinandersetzung mit der Krankheit auch Zugang zu ganz wichtigen Aspekten zu seiner eigenen Lebensbilanz und den Lebensprojekten gewinnen, was durchaus auch positive Aspekte beinhaltet.

Wer sich eher aktiv und problemfokussiert informiert, wer sich überlegt, was kann ich an Unterstützung bekommen, hat eher eine bessere Prognose in seiner Anpassung an die Erkrankung als jemand, der tendenziell eher den Kopf in den Sand steckt. Die Frage, wie jemand verhaltensorientiert ist, ob er aktiv agiert oder eher passiv vermeidet, hat ganz viel damit zu tun, wie er sowohl kog nitiv als auch emotional diese Erkrankung erlebt. Das läuft unter dem etwas komischen Titel der „Krankheitsrepräsentanz“. Dabei geht es darum: Wie erlebe ich die Erkrankung? Welche Vorstellung von der Heilbarkeit habe ich? Wie geht es mir emotional damit?

Wenn jemand Symptome imSinne der Anpassungsreaktion, der Belastungsreaktion entwickelt, dann ist klar, dass es um typische depressive Symptome und Angstsymptome geht.Wichtig ist es, immer daran zu denken, dass körperliche Symptome manchmal auch Ausdruck von einer solchen Belastungsreaktion sein können. Das ist dann nicht immer leicht von möglichen körperlichen Beschwerden im Rahmen der Grunderkrankung zu trennen, muss aber immer auch als Möglichkeit aus ärztlicher Sicht erwogen werden. Nicht alles, worüber ein PatientmitMS an Beschwerden klagt, darf alsAusdruck derAktivität der Grunderkrankung interpretiert werden, das kann auch ein Ausdruck einer Belastung sein.

Das war jetzt die somatopsychische Betrachtungsrichtung. Anders herum: psychosomatisch. Was gibt es an Evidenzen dafür, dass psychische Faktoren in irgendeiner Form den Verlauf der Erkrankung beeinflussen? Hier weiß man mittlerweile relativ gesichert mit einer Meta-Analyse, dass belastende Lebensereignisse bei der Auslösung von Schüben eine Rolle spielen. Wohlgemerkt, nicht bei der Entstehung der Erkrankung oder bei der Gesamtprognose, aber bei der Frage, zu welchem Zeitpunkt Schübe der Erkrankung auftreten. Es ist also eindeutig, dass es einen Zusammenhang zwischen belastenden Lebensereignissen und Schubauslösung gibt.

Es gab in den 50er Jahren eine Autorin, Paulley, die gesagt hat, wer an MS erkrankt, der hat eine prädisponierende Persönlichkeitsproblematik. Das ist eine ganz analoge Diskussion zur Krebspersönlichkeit und beides gilt nicht mehr. Das war vollkommen spekulativ und durch keine saubere Studie nachgewiesen, ist aber in den Köpfen mancher Psychotherapeuten immer noch drin. Darum ist es mir auch ein Anliegen, deutlich zu sagen, dass es dafür wirklich keine Grundlagen gibt.

Wozu Psychotherapie bei MS? Nicht jeder braucht das, aber sie ist sinnvoll, wenn jemand in seinem Anpassungsprozess Unterstützung brauchen kann oder bei der Verbesserung der Lebensqualität, oder wenn Symptome auftreten wie Depressionen. Sehr wichtig ist, uns klar zu machen, dass es nicht um die Behandlung angenommener pathogener Persönlichkeitsstörungen geht. Das ist wirklich praktisch relevant! In meiner Zeit in Heidelberg gab es Probleme in der Kommunikation mit niedergelassenen PsychoanalytikerInnen, die diese Theorie so prima fanden, dass sie daran mit den Patienten arbeiten wollten.

Jetzt zur Evidenzbasierung: Es gibt die Cochrane Collaboration, eine Organisation, die therapeutische Evidenzen der Medizin mit Reviews und Meta-Analysen untersucht und es gibt auch zum Thema „Psychologische Intervention bei MS“ ein Review. In einer Übersicht über 16 Studien1 wurde festgestellt, dass kognitive Verhaltenstherapie bei der Behandlung von Depressionen zur Unterstützung des Coping bei Patienten mit MS geeignet ist.

Es gibt noch ein anderes Cochrane- Review zur Exercise-Therapie. Das ist nicht im engeren Sinne Psychotherapie, sondern eher eine krankengymnastische Therapie. Sie ist geeignet zur Verbesserung der Muskelkraft, hat einen geringen Effekt auf die Stimmung, aber ist nicht geeignet, die Fatigue, die Erschöpfung, im Erleben zu reduzieren.

1 Thomas PW, Thomas S, Hillier C, Galvin K, Baker R. Psychological interventions for multiple sclerosis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2006, Issue 1

Eine ganz interessante Studie ist vor ein paar Jahren sehr hochrangig im „Archives of General Psychology“ veröffentlicht worden: eine per Telefon 10 durchgeführte kognitive Verhaltenstherapie ist ebenso wirksam bei Depressionen bei Patienten mit MS wie einfacher „emotional support“, der keine spezifische Psychotherapie war. Das eine ist etwas wirksamer als das andere, zumindest im ersten Jahr nach der Behandlung. Und dann gibt es eine Studie, die sich im Sinne einer randomisiert kontrollierten Studie auch das Thema der Fatigue bei MS angesehen hat: Es wurde gezeigt, dass sowohl kognitive Verhaltenstherapie wie Entspannungstherapie die Erschöpfungssymptome bei MS reduzieren kann.

Damit komme ich auch schon zum Fazit: Man kann also sagen, dass Psychotherapie – auf einer nicht sehr großen, aber doch immerhin ordentlichen wissenschaftlichen Basis – zur Unterstützung des Coping, zur Behandlung der Depressivität und der Fatigue wirksam ist. Ich finde es am sinnvoll - sten, es unter diesem Aspekt ganz grundsätzlich zu sehen: der Behandlung einer Körper-Selbst-Störung. Psychotherapie sollte nicht mit dem Ziel durchgeführt werden, den Verlauf der neurologischen Grunderkrankung zu beeinflussen.

Es ist wichtig, rechtzeitig eine Indikation zu stellen und das erfordert, dass die Neurologen mit den Patienten so kommunizieren, dass psychische Belastungen überhaupt erkennbar werden können. Das ist nicht selbstverständlich, wenn es immer um die Frage der nächsten immunmodulatorischen Therapie und Ähnliches geht. Es muss darum gehen, dass nicht von vornherein körperliche Beschwerden automatisch ursächlich der Grunderkrankung zugeschrieben werden. Wichtig ist, als Neurologe zu sehen, dass es auch von Seiten des Patienten Ängste gibt, sich diesen Aspekten der Erkrankung zuzuwenden und dass es manchmal Motivationsarbeit braucht, bis ein Patient bereit ist, sich auch mit dieser Seite der Erkrankung zu beschäftigen. Bei all dem ist eine gute Kooperation von Neurologen, Psychotherapeuten und wer sonst noch im Umfeld aktiv ist, wichtig! Das alte Modell „der Psychotherapeut sitzt in seinem Kämmerlein und spricht mit dem Patienten und nie (Hv. PH) mit irgend jemand anderem“ ist bei solchen Erkrankungen sicherlich nicht das hilfreichste Modell, sondern dass die Behandler beispielsweise miteinander telefonieren ist sicher von Vorteil. Vielen Dank!

* Die Mitschrift wurde bearbeitet von H.- Günter Heiden



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