FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 2. Halbjahr 2011

Medizin – nicht nur für Männer*

von Annette Schavan

Jedes Mädchen, das heute in Deutschland geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 83 Jahren, jeder Junge von 77 Jahren. Unsere Gesellschaft stellt sich mit der Reform der Renten- und Sozialsysteme darauf ein, dass ihre Mitglieder älter werden. Doch es muss eine weitere Reform hinzukommen, wenn der gerechtfertigte Wunsch erfüllt werden soll, gesund alt zu werden. Unser Medizinsystem muss umdenken und sich darauf einstellen, die biologischen und psychosozialen Unterschiede von Mann und Frau in Forschung und Praxis zu berücksichtigen.

N och immer achten Ärzte bei Erkrankungen zu wenig auf geschlechtsspezifische Unterschiede. Das hat zur Folge, dass falsche Diagnosen gestellt und falsche Therapien eingeleitet werden und es mitunter zu einer erhöhten Sterblichkeit kommt.

Die geschlechtsspezifischen Einflussfaktoren etwa auf die Entstehung einer Krankheit und ihren Verlauf, auf Risikofaktoren, Diagnostik und Therapie versucht die Gendermedizin zu verstehen – ein vergleichsweise junges Forschungsgebiet, auf das aufmerksam zu schauen ist, auch weil die geschlechterspezifischen Unterschiede bei Gesundheit und Krankheit umso sichtbarer werden, je älter Menschen werden.

Doch was unterscheidet Frauen und Männer? Frauen werden beispielsweise älter als Männer. Laut Statistischem Bundesamt waren 2009 in Deutschland mehr als 56 Prozent der über 60-jährigen Menschen Frauen. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig. Zum einen gibt es verhaltensbedingte Ursachen, denn Männer leben gesundheitsriskanter als Frauen. Lungenkrebs etwa ist nach Herzerkrankungen die häufigste Todesursache – rund 32 500 Männer erkranken jährlich an Lungenkrebs; bei den Frauen sind es rund 14 600. Auch wenn wir wissen, dass die Lungenkrebsrate bei Männern vergleichsweise gleich bleibt und bei Frauen steigt, ist es so, dass die Raucherquote bei Männern 31, bei Frauen 21 Prozent beträgt. Frauen sind zudem eher bereit, Präventionsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen als Männer. Krebsfrüherkennungsuntersuchungen nutzen etwa 15,5 Millionen Frauen, aber nur 3,5 Millionen männliche Versicherte.

Die Forschung weiß heute also, dass es geschlechterspezifische Unterschiede bei Entstehung und Verlauf von Erkrankungen gibt, die nicht nur auf den biologischen Unterschieden zwischen Frau und Mann beruhen sondern auf sozialen, gesellschaftlichen, psychologischen und kulturellen Faktoren, wie einem unterschiedlichen Rollenverständnis, verschiedenen Lebenslagen und Lebensweisen, Rollen und Pflichten sowie einer unterschiedlichen Selbstwahrnehmung.

Der englische Begriff „Gender“ umfasst dabei sowohl die biologischen als auch die psychosozialen Aspekte der Geschlechtszugehörigkeit. Den Anstoß für eine geschlechterspezifische Forschung in der Medizin gab die Kardiologin Marianne Legato, die Ende der 80er Jahre erkannte, dass sich ein Herzinfarkt bei Männern und Frauen unterschiedlich äußern kann. Ein Grund für das Unwissen war, dass sich die medizinische Forschung in der Vergangenheit zumeist auf Männer fokussierte. Bis vor wenigen Jahren wurden nur Männer in klinische Studien eingeschlossen. Es mehrten sich Hinweise, dass diese Ergebnisse oftmals nicht eins zu eins von Männern auf Frauen übertragen werden können. So ist mittlerweile bekannt, dass Frauen anders auf einige Arzneimittel reagieren als Männer. Zudem führt die unterschiedliche Enzymausstattung von Männern und Frauen in der Leber zu einer erhöhten Häufigkeit von unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen bei Frauen.





voriger Artikel ** nächster Teil
FP-Gesamtübersicht
Startseite