FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 2. Halbjahr 2011





Leseprobe aus Kapitel 3

Das Netz der Pharmaindustrie –
Das Internet im Visier

Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen setzt sich Marion Frey an den Computer, der gegenüber ihrem Bett steht, und sucht im Internet nach Informationen über ihre KrankheitMultiple Skle rose.Wenn es etwas Neues geben sollte, einen Durchbruch in der Behandlung, ein neuesMedikament,wüsste sie sofort davon. In Internet-Foren lernt sie andere Betroffene kennen und liest deren Krankheitsgeschichte, sie fühlt sich nicht allein, man tauscht sich über Therapien aus. Jeder will wissen, ob das eine oder andere Medikament vielleicht nicht doch besser ist und die Krankheit länger aufhalten kann. „Einerseits denke ich, es geht sowieso nicht weiter, und andererseits verschlinge ich alles, was ich lese.” Gut sei es nicht, wenn man zu viel lese, aber sie mache es trotzdem. „Wenn ich mich über Nebenwirkungen und Medikamente infor miere, ist das, was ich im Internet lese, für mich eigentlich wichti ger und vertrauenswürdiger als das, was mir ein Arzt sagt.”

Ihr Leben ist aus den Fugen geraten, jeden Tag kann eine Lähmung oder dieses schreckliche Taubheitsgefühl wieder auftreten. Es gebe keinen Tag, an dem sie nicht an die Krankheit denke. Marion Frey sucht etwas, an das sie sich halten kann, und das sind für sie Informationen.

Genau das nutzen Pharmakonzerne aus. Chronisch Kranke sind für sie eine lohnende „Zielgruppe”, weil sie über Jahre Medikamente einnehmen müssen. Wenn man bei Google „Multiple Skle rose” eingibt, landet man schnell auf www.aktiv-mit-ms.de, einer bunten, übersichtlichen Internetseite, auf der uns eine attraktive MS-Patientin anlächelt. Man findet Informationen über die Krankheit selbst und Tipps für den Alltag, wie man seine Freizeit gestalten sollte oder wie sich MS auf die Partnerschaft auswirkt. Unter „Service” erfährt man alles über rechtliche Angelegenheiten, zum Beispiel „Wie versichern mit MS?”. Aber am meisten interes siert Patienten natürlich der Punkt „Therapie”.

Uns fällt auf, dass ein Medikament besonders hervorgehoben wird, das in Studien angeblich zu „deutlicher Eindämmung der MS-typischen Krankheitsprozesse führte”. Das Mittel verringere die Schübe um ein Drittel. Bei Fragen kann eine kostenlose Hotline angerufen werden. Und wer sich mit anderen Betroffenen austauschen will, dem steht ein Diskussionsforum offen. Wir bemerken, dass sich dort eine Gemeinschaft gebildet hat, die sich regelmäßig schreibt. Man spricht vor allem über ein bestimmtes Medikament namens „Copaxone”. Wer einmal Zuspruch gefunden hat, bleibt dem Forum scheinbar treu. Hinter der Seite steckt ein großer Pharmakonzern, der das MS-Medikament „Copaxone” herstellt. Den Namen der Firma kann man zwar irgendwo auf der Seite finden, aber das werden viele nicht zur Kenntnis nehmen.

Untersuchungen über das Verhalten von lnternetnutzern haben gezeigt, dass die meisten Menschen nicht darauf achten, wer eine Seite betreibt. Man schaut nicht nach, wer im Impressum steht, und selbst wenn, misst man dem keine große Bedeutung bei. Der Laie weiß nicht sofort, dass Sanofi-Aventis ein Pharmakonzern ist oder dass sich hinter manchem Betreibernamen eine Pharma agentur verbirgt. Wer als Patient im Internet Hilfe sucht, konzen triert sich auf die Krankheit.

Die Phamafirmen versuchen, auch technisch die Suche nach Informationen zu steuern. Sie nennen es „Suchmaschinen opti mieren”, damit ihr Internetauftritt auf den ersten Seiten erscheint. Google streitet ab, dass dies möglich sei. Doch ein Computerfach mann aus der Pharmabranche hat uns berichtet, dass Firmen viel investieren, um das Suchergebnis bei Google zu beeinflussen. Er meinte, es gebe zahllose technische Tricks, die hier eingesetzt wür den. Ob das stimmt, kann in den Weiten des Netzes keiner über prüfen.

Eine Internetseite, die uns merkwürdig vorkommt, ist www.lebenmit- ms.de Sie wurde in Zeitschriftenartikeln und Patientenbroschüren immer wieder als seriöse Informationsquelle empfoh len. Bei Google taucht sie als Sachergebnis zu Multipler Sklerose auf, aber als „Anzeige” gekennzeichnet. Wie kann das sein?

Auf den ersten Blick sieht die Seite nicht wie Werbung aus. Der Interessierte kann Teil einer „MS-Community” und Mitglied im „Rebi- CLUB” werden. „Clubfeeling im Netz” wird hier verspro chen und behauptet: „Wer gut recherchierte Informationen zu MS sucht oder persönliche Fragen zur Therapie hat”, sei beim „RebiCLUB” richtig. Dort könne man Erfahrungen austauschen oder einen Experten um Rat fragen.

In dem Diskussionsforum geht es dann fast nur um ein Medika ment namens „Rebif”. Wir finden Einträge wie: „Letztlich bin ich bei Rebif gelandet ... Komme jetzt ganz gut klar mit Rebif.” Oder: „Entschieden habe ich mich für Rebif ... Gründe: Mein Bauchgefühl, und das sagte mir von Anfang an Rebif”. Das hört sich so gar nicht nach MS-Patienten an, die sich hier unterhalten.

In dem Forum spielt auch das Thema Nebenwirkungen eine große Rolle. Das Medikament muss mehrmals pro Woche in ei nen Muskel, zum Beispiel am Oberschenkel, gespritzt werden. Ein Patient schreibt, er leide unter starken Nebenwirkungen von Re bif, Schüttelfrost und Kopfschmerzen. Jemand im Forum spielt das gleich darauf herunter und antwortet: „Ich hatte noch nie ir gendwelche Nebenwirkungen. Ich kann nur sagen: durchhalten.” Die Methode, dass negative Berichte über das Medikament so fort entkräftet werden, beobachten wir in dem Diskussionsforum mehrfach. Der Betreiber der Seite ist die Firma Merck Serono, die das Medikament „Rebif” herstellt.

Während unserer Buchrecherche lernen wir die Leiterin der Marketingabteilung eines Pharmakonzerns kennen. Sie verrät uns, dass in diesen Diskussionsforen nicht nur Patienten unterwegs seien, sondern auch Mitarbeiter der Pharmafirmen, die solche Diskussionen steuern. Wir fragen uns, ob das bei www.leben-mit-ms.de der Fall ist?

Die Internetseite ist extrem problematisch, ihr einziger Zweck ist offenbar, Patienten auf das Medikament „Rebif” aufmerksam zu machen.

Angeboten wird sogar eine „Patientenakademie” mit Veran - staltungen, die Betroffene besuchen können. Zwei dieser „Patien - tenakademien” haben wir selbst miterlebt. Am Ende ging es nur darum, Patienten vom Medikament Rebif zu überzeugen.

Wir haben auf einer Veranstaltung versucht, mit MS-Betroffe nen ins Gespräch zu kommen. Dass wir Journalisten und keine Patienten sind, bekam eine Vertreterin der Firma Merck Serono mit. Sie beobachtete, was wir taten und mit wem wir sprachen. Einige Tage später waren auf der Internetseite www.leben-mit-ms.de alle Hinweise auf die „Patientenakademie” verschwunden und keine neuen Termine angegeben. Ist das ein Zufall?

Hinter vielen Internetseiten zur Multiplen Sklerose, die bei der Suche in Google weit vorn auftauchen, stehen Pharmafirmen. Bei www.ms-gateway.de ist es der Konzern Bayer Schering, der Patienten auf sein Medikament „Betaferon” hinführen will. Es gibt auf diesen Seiten immer die gleichen Rubriken, eine Hotline und von jeder Firma eine Patientenzeitschrift, die man kostenlos abon nieren kann.

Wir verstehen langsam, welche psychologisch raffinierte Strate gie Pharmafirmen bei den MS-Internetseiten mit all ihren Ange boten verfolgen. Sie arbeiten nach dem Prinzip „Mut machen”. Der Hilfesuchende stößt überall auf Sätze wie: „Jeden Tag mit ei nem Lächeln beginnen”, Oder: „Wieder positiv denken”. Daneben werden Fotos mit strahlenden, äußerst attraktiven MS-Patienten abgebildet, die völlig gesund aussehen. In den Patientenzeitschrif ten benutzen die Firmen persönliche Geschichten von Betroffenen, um den Leser zu beeinflussen. Auf der Titelseite eines MS-Maga zins lesen wir von Susanne, 43 Jahre alt: „Man kann Dinge bewe gen.” Sie strahlt den Leser an, und keiner mit dieser unheilbaren Krankheit würde das Heft jetzt aus der Hand legen.



Eine weitere Leseprobe finden Sie unter:
www.hoffmann-undcampe.de/go/patient-im-visier







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