FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 23. Jahrgang, 1. Halbjahr 2013





Die Natur oder der liebe Gott (je nach Weltanschauung oder Religion) hat den Menschen als einzigartiges Geschöpf entwickelt, das u.a. zwei Beine und Füße hat, auf denen es stehen, gehen, laufen, springen, tanzen, sich verteidigen, des Lebens erfreuen, etc. kann. Es war sicherlich nicht das Ziel Gottes oder des Universums, dass der Mensch im Rollstuhl umher fahre.

Auch wenn die seit Jahrzehnten immer wieder genannte Zahl von angeblich nur 120.000 MS-Erkrankten in Deutschland vermutlich zu niedrig und die „Dunkelziffer“ viel höher sein dürfte: Bei einer bundesdeutschen Gesamtbevölkerung von rund 80 Millionen Menschen stellen wir MSler daran gerade einmal 0,15 %. Auch wenn man andere RollstuhlfahrerInnen und Behinderte mit anderen Erkrankungen hinzu rechnet: Die Mehrheit der Bevölkerung ist nun einmal nicht behindert und nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Und leider definiert in einer Gesellschaft die Mehrheit, was als „normal“ gilt. Auch vor diesem Hintergrund kann ich Ihre Aussage, dass es Ihnen (mit Rollstuhl) „wunderbar ginge und alles kein Problem sei“ für mich ganz und gar nicht teilen.

Hinzu kommt vielleicht noch ein geschlechtsspezifischer Unter-schied: Auch ohne und vor der MS war ich niemals Handwerker, Spit-zensportler oder Soldat, wollte es auch nie werden oder sein. Gleich- wohl werden in unserer Gesellschaft viele Eigenschaften und Tätigkeiten, die als „typisch männlich“ gelten, mit Körperkraft und Gesundheit assoziiert. Das beginnt beim (Breiten-) Sport und geht bis zu sämtlichen handwerklichen Arbeiten am (eigenen) Auto, Haus, Garten, an der Wohnung, etc. Von daher „nagt“ die Krankheit MS sehr stark gerade am männlichen Selbstwertgefühl und Ego. Ein Vater im Rollstuhl ist für manche Kinder mitunter stärker erklärungs- und gewöhnungsbedürftig als eine Mutter im Rollstuhl. Ich habe eine ganze Reihe von Rollstuhlfahrerinnen kennengelernt, die von ihren gesunden männlichen Partnern liebevoll umsorgt wurden.

Das Gegenteil, dass Männer im Rollstuhl von ihren (gesunden) Frauen oder Partnerinnen liebevoll und gleichzeitig „auf gleicher Augen höhe“ angenommen werden, habe ich bisher leider kaum erfahren oder wahrgenommen. Ich habe in den vergangenen 27 Jahren – also während der ganzen Zeit mit „meiner“ MS – in festen Partnerschaften mit „gesunden“ Frauen gelebt. Während meine Ex-Ehefrau mich fast 20 Jahre lang zwar liebevoll, aber zunehmend über-fürsorglich und manchmal fast bevormundend behandelt hat, ist meine zweite Partnerin auch in mehr als sieben Jahren nie wirklich mit „meiner“ MS und der zunehmenden Behinde rung klar gekommen (und hat mich Anfang dieses Jahres verlassen).

Wenn es viele Menschen gibt, „die schon lange mit wenigen Beeinträchtigungen mit ihrer MS leben und kaum Einschränkungen ihrer Lebensqualität hinnehmenmüssen“, so gönne ich es diesen Menschen von Herzen und wünsche ihnen sehr, dass es ihnen weiterhin so gut mit dieser Erkrankung geht. Auch ich habe mich über viele Jahre so gefühlt und trotz und mit MS relativ „normal“ gelebt, gearbeitet, geheiratet, Sport getrieben, „Karriere“ gemacht, zahlreiche Reisen unternommen und viele andere Dinge mehr getan, die „gesunde“ Menschen wie selbstverständlich auch tun, ohne darüber nachzudenken. Ich bin dankbar, dass es mir vergönnt war, so viele Jahre mit „meiner“ MS gut gelebt zu haben.

Seit einigen Jahren hat si ch „meine“ MS aber leider deutlich verschlechtert. Bei abnehmender Geh-strecke benötige ich seit einigen Jahren, vor allem für längere Strecken, aber immer häufiger, einen Rollstuhl. Der Begriff „längere Strecken“ ist natürlich sehr dehnbar und die „längeren Strecken“ werden immer kürzer. Da ich auch das Rollstuhlfahren sehr mühselig finde, versuche ich längere Wege zu vermeiden oder nutze von vornherein den PKW. (Womit ich von vielen Freizeitaktivitäten, wie z.B. gemeinsamen Spaziergängen mit „gesunden“ FreundInnen ausgeschlossen bin). Der Rollstuhl ist aber nur das äußere, sichtbare Symbol für die mangelnde Gehfähigkeit. Und die ist schließlich nur eines der vielen Symptome der MS, die bei mir in den letzten Jahren alle unverändert präsent sind und sich teilweise ebenfalls verschlimmert haben. Denn auch einige der nicht s ichtbaren Symptome erschweren die Teilhabe und Teilnahme am sozialen und beruflichen Leben. Aus heutiger P erspektive muss ich daher l eider sagen, dass die MS zu Recht einen schlechten Ruf hat. Da gibt es meiner Meinung nach nichts zu beschönigen!


A.R. (der vollständige Name ist der Redaktion bekannt)

Licht und Luft ans „Horrorgespenst MS“!

Danke für Ihren Artikel über den schlechten Ruf der MS. Dieses Thema beschäftigt mich seit länge-rem, und ich habe mir einige ergänzende Gedanken gemacht:

(www.zeit.de/2012/23/Schule-Inklusion)


Skurrile Blüten des negativenImages der MS sehe ich an anderen Stellen:

Aber WIR können glücklicherweise darüber sprechen und Licht und Luft an das „Horrorgespenst MS“ lassen – auf dass Wissen, Verstehen und Normalität wachsen und der Horror dorthin schrumpelt, wo er hingehört! Bettina Röser


Bettina Röser



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