FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 23. Jahrgang, 2. Halbjahr 2013

Selbstbestimmung und Peer-Beratung bei der Wiener MS-Gesellschaft

Marianne Karner bietet im Rahmen eines Pilotprojektes der MS-Gesellschaft Wien Peer-Beratung für MS-Betroffene an. Die österreichische Zeitschrift BIZEPS-INFO hat mit Marianne Karner ein schriftliches Interview geführt, das wir hier mit freundlicher Genehmigung wiedergeben:

BIZEPS-INFO: Wie sind Sie auf die Idee gekommen die Peerberatungsausbildung zu absolvieren und in der Folge Peerberatung für MS-Betroffene anzubieten?

Marianne Karner: Da ich selbst bereits seit vielen Jahren von Multipler Sklerose betroffen bin, habe ich erfahren, wie wichtig es ist, dass Peers sich z.B. in Selbsthilfegruppen untereinander austauschen und unterstützen. Und gleichzeitig habe ich zusätzlich behinderte Menschen aus der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung kennen- und das eigentliche Peer-Counseling-Gespräch schätzen gelernt.

Da ich selbst mit Persönlicher Assistenz lebe und mir die Selbstbestimmung äußerst wichtig ist, möchte ich die Grundsätze der Selbstbestimmt Leben-Bewegung anderen MS-Betroffenen vorleben, aufzeigen und sie unterstützen und begleiten, wenn sie sich ebenfalls auf diesen Weg begeben möchten. Eine qualifizierte Ausbildung ist beim Peer-Counseling einfach notwendig. Dank der MS-Gesellschaft Wien wird der organisatorische Rahmen für das Pilotprojekt "MS-Peerberatung" zur Verfügung gestellt.

BIZEPS-INFO: Wo sehen Sie die Vorteile und Herausforderungen von einem selbstbestimmten Leben mit Persönlicher Assistenz?

Marianne Karner: Die Vorteile eines selbstbestimmten Lebens werden schnell deutlich, wenn man schon gegenteilige Erfahrungen gemacht hat. Das heißt, ich entscheide selbst, wann ich aufstehe, wie ich meinen Tag gestalte und wann ich wieder zu Bett gehe. Und wenn ich aufgrund meiner Erkrankung bei diesen Tätigkeiten selbst an meine Grenzen stoße und zum Beispiel funktionstüchtige Beine oder Arme brauche, dann kann ich auf meine Persönliche Assistentin zurückgreifen. Sie setzt das um, was ich nicht oder nur mit Unterstützung kann. Aber ich bin es, die anleitet, auswählt und entscheidet. Ich bin kein passives Empfängerobjekt, sondern ein aktives Subjekt.

BIZEPS-INFO: Was sind aus Ihrer Sicht die besonderen Stärken von Peer-Counseling?

Marianne Karner: Betroffene werden von ebenso Betroffenen beraten. Dahinter stecken besonders folgende Stärken: In der Peer-Beratung gibt es kein Gefälle. Die Peers sind gleichwertig, die Kommunikation läuft auf Augenhöhe. Peer-Berater/innen wissen, wovon sie beziehungsweise die Kundinnen oder Kunden sprechen. Sie haben oft ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie sind von ähnlichen Problemen betroffen. Sie haben aber auch in diesem Prozess Stärken und positive Handlungsweisen entwickelt. Sie sind die Experten in eigener Sache.
Durch die Peer-Beratung werden Kundinnen und Kunden in ihren Anliegen gestärkt: Informationen, Rechte, Erfahrung der Akzeptanz, andere Verhaltensweisen oder Blickwinkel, alternative Handlungsmöglichkeiten.

BIZEPS-INFO: Worin sehen Sie den Vorteil bzw. die Notwendigkeit in spezifischer Peerberatung für MS- Betroffene?

Marianne Karner: MS wird zwar die Krankheit mit den 1000 Gesichtern genannt. Es ist eine vielfältige Erkrankung, die bei jedem oder jeder etwas anders verläuft. Trotzdem gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die wieder typisch sind für diese Erkrankung. Das beste Beispiel dafür ist sicherlich die sogenannte MS-Fatigue, also Müdigkeit und leichte Erschöpfbarkeit.

Dieses Symptom haben die meisten MS-Betroffenen und es ist sicherlich eines der belastendsten und hat auf alle Lebensbereiche gravierende Auswirkungen. Der Vorteil liegt eben darin, dass der/die BeraterIn ganz genau weiß, wovon der/die Kunde/Kundin spricht. Er/sie kann sich gut in den/die Kundin hineinversetzen, aber auch hilfreiche Tipps im Umgang damit weitergeben oder anregen.

Es macht sicherlich einen Unterschied, ob eine Behinderung durch Krankheit oder Unfall erworben wurde oder schon seit Geburt besteht. MS-Betroffene haben sicherlich einen längeren oder langen Prozess in der Aufarbeitung der Diagnose. Da kommen immer wieder viele verschiedene Gefühle auf: Abwehr, Unsicherheit, Verunsicherung, Hoffnung, Trauer, Akzeptanz.

Durch die meist in Schüben auftretende MS-Erkrankung ist es um einiges schwieriger, bei diesem Prozess zu einem Abschluss zu kommen. Das Eingeständnis: ja, ich bin chronisch unheilbar krank und werde vielleicht sogar eine mehr oder weniger starke, sichtbare Behinderung entwickeln, ist sicherlich nicht einfach, aber meiner Meinung nach notwendig. Die Abwehr des Themas "Rollstuhl" oder "Behinderung" kostet sehr viel Kraft. Diese Kraft könnte sicherlich besser eingesetzt werden. Peer-Beratung kann diesen Prozess auch ein Stück weit begleiten.

BIZEPS-INFO: Was wünschen Sie sich persönlich und aus Sicht einer Peer-Beraterin an Weiterentwicklung im Sinne des selbstbestimmten Lebens?

Marianne Karner: Ganz klar und einfach formuliert steht ein Wunsch an oberster Stelle: Die umgehende und vollständige Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Österreich. Inklusion, Barrierefreiheit, Peer-Counseling, Persönliche Assistenz, die neue Sicht auf behinderte Menschen sollen endlich zur Selbstverständlichkeit werden.

Der zweite Wunsch richtet sich an meine Mitbürgerinnen und Mitbürger ohne Behinderung. Sie sollten Behinderung und/oder Erkrankung nicht als etwas Negatives, sondern als etwas zum Mensch-Sein selbstverständlich Dazugehörendes sehen. Behinderung gehört zur Vielfalt des Lebens. Krankheit ist eine Herausforderung, eine von vielen Lebensaufgaben, denen wir alle in unterschiedlicher Weise gegenüber stehen.

Der dritte Wunsch richtet sich an MS-Betroffene. Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, dass es sich lohnt, sich auf den Prozess einzulassen und die Krankheit, beziehungsweise die bereits eingetretene Behinderung als Lebensumstand zu akzeptieren. Das heißt aber nicht, dass die Hoffnung auf etwaige medizinische Fortschritte bei der Behandlung von MS aufgegeben werden muss. Es ist aber wichtig im Hier und Jetzt zu leben. Es ist wichtig, sich mit anderen auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen, sich zu informieren, seine Rechte zu kennen und gemeinsam dafür zu kämpfen. Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?

Meine speziellen Wünsche bezüglich der Peer-Beratung sind:

Österreichweiter Ausbau von Peer-Beratungsstellen
Finanzielle Förderung für qualifizierte Peer-Counseling-Lehrgänge
Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den Peer-Beratungsstellen bzw. den Peer-Beraterinnen und Beratern
Modell der bedarfsorientierten Persönlichen Assistenz in jedem Bundesland
Österreichweit einheitliche Regelung
Persönliche Assistenz für alle Menschen mit Behinderung, das bedeutet weitestgehend auch für Menschen mit psychischer Behinderung oder Lernbehinderung.

BIZEPS-INFO: Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und danken für das Gespräch!


Interview: Magdalena Scharl

Info: MS-Gesellschaft Wien, Hernalser Hauptstraße 15-17, A-1170 Wien
T: 0043-1- 409 26 69, office@msges.at





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