FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 25. Jahrgang, 1. Halbjahr 2015

Leseprobe: Psyche - aus dem Buch von Sven Böttcher*

Von einem Arzt erwarten wir vernünftigerweise,
dass er Achtung hat vor der Macht des Geistes,
Krankheiten zu überwinden.
(Hippokrates)

Ich freue mich, wenn es regnet.
Denn wenn ich mich nicht freue,
regnet es auch.
(Karl Valentin)

Ich bin sicher, dass etliche MS-Varianten allein mittels seelischer Neu-Balancierung heilbar sind. Das wird Sie vielleicht überraschen, nachdem auf den vorangegangenen vielen Seiten so viel und gründlich die Rede war von Lifestyle-Änderungen, von Ernährungsumstellungen, Fett, Nahrungsmittelergänzungen und Umweltgiften - also allerlei »externen«, grobstofflichen Faktoren. Dass ich all diese Faktoren vor Seele, Geist, Psyche behandelt habe, hatte allerdings einen guten Grund, denn wie ich schon sehr weit vorn ausführte, nützt uns eine kerngesunde Psyche wenig auf dem Heilungsweg, wenn äußere Faktoren uns krank machen. Allergien lassen sich nicht wegdenken oder wegfühlen, und wer allmorgendlich eine Billardkugel auf den Schädel bekommt, der hat ständig Kopfschmerzen - selbst wenn er glücklich verheiratet ist und innerlich ausgeglichen.

Deshalb die auf diesen Seiten gewählte Reihenfolge. Erst der Ausschluss klarer externer Faktoren, dann die Frage nach psychischen und psychosomatischen Ursachen.
Leider sehen Seelenbehandler diese physischen Zusammenhänge ebenso wenig wie Körperbehandler den Zusammenhang von Seele und Krankheit. Wer einen Hammer hat, sieht halt überall Nägel, und so negieren die Schulmediziner die Rolle der Psyche, ebenso wie die Psychologen die Rolle externer Einflüsse negieren. Eben weil sie vom jeweils anderen Fachgebiet nichts verstehen. Dabei besteht dann aber leider auch bei den angeblich »ganzheitlichen« Behandlern die Gefahr, alles auf seelische Ungleichgewichte zu schieben. Die Seelen- und Psychosoma-Experten, bei denen ich selbst vorstellig wurde, hatten nämlich nicht den blassesten Schimmer davon, was zum Beispiel Mitochondrien sind, wie eine Zelle wächst und gedeiht oder warum der Darm eine Rolle bei der Genesung spielt. Oder was Lindan ist. Sprich: Diese besonderen Experten wissen gar nicht, dass Kopfschmerzen auch daher rühren können, dass ihre Patienten allmorgendlich eine Kugel auf den Kopf kriegen.

Aber nachdem Sie alle externen Faktoren von der möglichen Erdnussallergie bis zur Holzschutzmittel-Entgiftungsschwäche »abgeklappert« und entweder ausgeschlossen oder aus dem Weg geräumt haben, können wir uns endlich der psychischen Seite der MS zuwenden. Sofern keiner der externen Faktoren bei Ihnen eine Rolle spielte oder je hatte spielen können, haben Sie den ganzen Text bis hierher vermutlich eh übersprungen. Sie wissen schon, wieso.

Sicherheitshalber erinnern wir uns noch einmal an das vorher gesagte Wesentliche: Die klare Ansage von Medizinern und Naturwissenschaftlern, MS sei unheilbar, ist nachweislich falsch und vollständig kontraproduktiv. Hoffnungslosigkeit verhindert Heilung, wir selbst müssen jederzeit wissen, dass wir großen Einfluss auf unsere Gesundheit haben - und, ist diese Gesundheit temporär verschwunden, auf Selbstheilung. Die Beispiele für »MS-Selbstheilung« sind Legion - was nicht verwundert, wissen wir doch auch von allen anderen Krankheiten, welchen Einfluss die Seele auf den Krankheitsverlauf hat. Jenseits diverser strikt unwissenschaftlicher persönlicher Berichte von sogenannten Wundern finden wir auch bei Psychologen, Psychotherapeuten und Onkologen wie Dr. Bernie Siegel oder Dr. O. Carl und Stephanie Simonton haufenweise Belege dafür, welchen gewaltigen Einfluss die Psyche auf die Physis hat. Tumore verschwinden. Todkranke stehen wieder auf. Menschen wie meine Schwiegermutter weigern sich zehn Jahre lang, an »unheilbarem« Krebs zu sterben, weil sie noch zu tun haben. Zum Beispiel, weil sie ihre Enkelkinder aufwachsen sehen und ihren eigenen Kindern helfen wollen, diese Aufgabe zu bewältigen.

Die Welt ist, was wir aus ihr machen - und wir sind Mittelpunkt dieser selbst gemachten Welt. Glaube versetzt Berge, Vertrauen und Hoffnung sind wichtige Begleiter auf dem Weg zurück zu Balance und Gesundheit, denn unsere Körper wollen nichts anders als das: heil sein. Das zu wissen und obendrein dem Kosmos, Gott oder anderen Göttern zu vertrauen, dass wahlweise dieser oder jene uns helfend begleiten werden, ist essenziell für unseren Heilungsprozess. Die Gedanken und erst recht die Worte, die wir auf diesem Weg wählen, sind von entscheidender Bedeutung für die Heilung, negative wie positive Formulierungen entwickeln sich zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Weshalb wir nicht nur den Gedanken »Ich bin unheilbar krank« für immer zu den Akten legen, sondern gleich das ganze »Nicht« auf das Allernötigste reduzieren. Denn »Nicht« funktioniert nicht. Schon gar nicht in Verbindung mit einer Zukunftsprojektion, also zum Beispiel als »Ich werde nicht mehr krank sein«. Wählen Sie stattdessen die vorausschauende Formulierung »Ich bin gesund«, auch wenn es gerade jetzt noch gar nicht so weit ist, sondern nur fast. Ihr Körper hört Sie. Aber er überhört das »Nicht«, denn ein Satz wie »Du sollst nicht töten« beschwört lediglich das Bild des Tötens herauf, während der gleichbedeutende
Satz »Du sollst alles Leben bewahren« das Töten gedanklich gar nicht vorkommen lässt, sondern nur das, worum es geht: das Leben. Zutrauen bedeutet, das gewünschte Ergebnis in Gedanken und Worten vorwegzunehmen.
Der Verlauf vieler MS-Spielarten ist offenkundig von emotionalen Faktoren wie traumatischen Erlebnissen, Stress und Stimmungsschwankungen abhängig, aber auch vom Mindset der Betroffenen, ihrer generellen Lebenseinstellung. Das betrifft auch, aber nicht nur, unterdrückte Emotionen und unaufgelösten Kummer oder ebensolche inneren und äußeren Konflikte, sondern das dem Betroffenen zur Verfügung stehende Repertoire an Antwortmöglichkeiten auf die Unwägbarkeiten des Lebens. Ob hierbei allerdings fundamentale Kategorisierungen wie die Ruediger Dahlkes zulässig sind, überlasse ich natürlich Ihnen selbst. Denn, ja, natürlich las auch ich Krankheit als Sprache der Seele, wie vermutlich jeder, der schwer erkrankt. Und hatte zunächst den Eindruck, unter MS ein BILD -Horoskop zu lesen, also: »Passt, aber passt vermutlich auf jeden.« Denn hat nicht jede/r irgendwie ... Kummer? Oder Grund dazu? Solange er oder sie noch kein/e Buddhistin ist? Nach meinem Dafürhalten aber ist eben eine vergrößerte Schilddrüse nicht immer ein Zeichen für »Ich will mich schützen« und ein Magengeschwür nicht immer eines für »Man lässt mein Bauchgefühl nicht zu«, auch, aber nicht nur aus den oben genannten externen Gründen.

Vollständig recht hat Dahlke allerdings in meinen Augen mit der Kernaussage, dass Krankheit, sofern sie eben nicht durch eindeutig äußere Faktoren wie Autounfälle, Schläge auf den Hinterkopf, Drogen- oder Vitaminmissbrauch verursacht wurde, ihren Ursprung oft (oder gar immer) in einem gestörten Seelenleben des Betroffenen hat, einem aus den Fugen geratenen inneren Konflikt. Was nicht bedeutet, dass jeder, der in einer armseligen Beziehung lebt, krank wird. Ebenso wie nicht jeder erkrankt, der gemobbt wird. Ebenso wie nicht jeder, der in den Augen anderer »alles hat«, gesund bleibt. Denn auch wenn wir alle uns in verblüffend vielem verblüffend ähneln, in unseren Wünschen, Ängsten und Hoffnungen sogar zu 98 Prozent, reagieren wir doch je nach Temperament ganz unterschiedlich auf seelische Belastungen oder Ungleichgewichte.

Dahlkes Ausführungen zur MS enthalten, wie ich inzwischen auch und gerade wegen meiner neuen MS-Bekanntschaften weiß, viel Wahres, und rückblickend gestehe ich, dass ich manches auch selbst mit einem Haken versehen musste. Weshalb ich jedem rate, die Dahlke-Checkliste gelegentlich mit sich selbst zu besprechen. Denn dabei geht es um Wesentliches, das nach meiner Erfahrung aus sehr vielen Kontakten mit anderen MS-Erkrankten tatsächlich ein Grundmuster darstellt: von der »Härte gegen sich selbst« bis zur Allergie gegen Unberechenbares, von der Ungeduld über unverrückbare Ansichten bis hin zur Frage, weshalb wir uns der nachweislichen Unkontrollierbarkeit des Lebens gegenüber blind und taub stellen. Aber wer keine Lust hat, anderswo zu blättern, der merke sich doch zumindest mit einem gedachten Fragezeichen die genannten Alleinstellungsmerkmale von uns Erkrankten - und überlege sich vielleicht auch gleich, wie er seine tapfere, fleißige, präzise und starre Haltung zukünftig ein bisschen weicher und flexibler gestalten könnte.

Mir persönlich haben in diesem Zusammenhang überdies die Bücher von Dr. Walter Weber manches aufgezeigt - auch wenn der geschätzte Doktor und ich uns nach drei Terminen beinahe nicht darauf einigen konnten, wer wen behandeln sollte - und er seinen Patienten als rettungslos geheilt entließen. Ich gestehe allerdings, dass ich, als ich Dr. Weber aufsuchte, schon den größten Teil meines Weges zurückgelegt hatte, also externe wie interne Faktoren ausfindig gemacht und weitgehend korrigiert hatte. Was übrigens schmerzhaft war. Übrigens entsetzlich schmerzhaft. Sogar schmerzhafter als ein halb gelähmtes Zwerchfell. Bei Interesse an den Umständen, die mich Anfang 2008 notgedrungen zu dieser Reise aufbrechen ließen, lesen Sie gern einfach den folgenden ganz privaten Absatz (wir sind ja unter uns), aber Vorsicht: Der ist ein bisschen persönlich, und wenn Sie wie ich zum Fremdschämen neigen, lesen sie gern auf der übernächsten Seite weiter.

Kummer lässt sich nicht ertränken, Kummer schwimmt immer oben, selbst wenn man einen Tanklaster Doppelkorn über seinem Kopf ausschüttet. Aber wenn Kummer die Nase so richtig gestrichen richtig voll hat, wandert er aus. Dummerweise nicht in die Mongolei, sondern von der Seele in den Körper. Meine öden Monologe, zusammengesetzt aus einem Baukasten voller Durchhalteparolen, überzeugten nach langen Jahren vielleicht noch mein Spiegelbild, aber nicht mehr meine Seele. Allerdings hatte ich die denkbar besten Gründe, nichts an meinen Lebensumständen zu ändern, denn jede Veränderung, die mir genützt hätte, hätte meinen Kindern geschadet. Und wer selbst Kinder hat, weiß, dass ich hier keinen pathetischen Stuss schreibe, wenn ich schlicht festhalte: Die seelische Unversehrtheit meiner Kinder nahm ich nun mal weit wichtiger als meine eigene. Zumal sie ja komplett unschuldig an meinem Kummer waren. Den hatte ich mir selbst gebaut, mit großem Geschick. Das Netz, in dem ich bewegungsunfähig hockte, war ein wahres Kunstwerk, und ich hatte nicht einmal Platz .für ein Fenster gelassen, durch das ein Hoffnungsschimmer hätte fallen können. Meinem Spiegelbild erklärte ich ausdauernd, all das sei nur temporär: Werde vorbeigehen, irgendwann. Wir zwei mussten bloß durchhalten, noch ein, zwei Jahrzehnte 16 Stunden täglich arbeiten, sieben Tage die Woche, aber dann! Dann könnten wir noch mal von vorn an fangen. So lange mussten wir einfach funktionieren, nichts weiter, als Künstler/Unternehmer, ohne soziale Absicherung, ohne hilfreiche Vorfahren, ohne freigiebige Mäzene, dafür mit drei wunderbaren Töchtern. Drei Töchtern von drei Müttern mit hohen Ansprüchen. Aber, hey, Spiegelbild - das war doch wohl alles nicht so schlimm, oder? Immerhin hatte ich doch reichlich Erfolg in einem oft ziemlich coolen Job am Schreibtisch, nicht in einem Bergwerk! Und ich hatte ausreichend Geld für zwei Flaschen Wein, allabendlich. Wer mehr verlangte, mehr erwartete - Zuneigung, Liebe, Partnerschaft, Unterstützung, Nachfragen nach dem Befinden, all diesen Unsinn, der guckte offenbar zu viele romantische Sat. 1-Komödien. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Reiß dich zusammen. Was nicht tötet, härtet ab.

Stimmt. Und zwar mitten im Nervenkostüm.

Nach drei Jahren schwerer Krankheit und dem völligen Verlust allen mühsam erarbeiteten Besitzes und aller Perspektiven stand ich allerdings ziemlich nackt und unglaubwürdig vor mir selbst da, denn offensichtlich hatte irgendetwas mit dem Selbstbetrug nicht vollständig funktioniert. Offensichtlich konnte ich so ganz ohne Hoffnung doch nicht ganz so gut leben, wie ich gedacht hatte. Da ich aber weiterhin nicht wusste, wie ich irgendetwas Konkretes ändern sollte, ohne meinen Töchtern zu schaden, blieb mir an diesem Punkt eigentlich nur noch eine vernünftige, allen nützende Alternative, nämlich zu sterben. Zugegeben, auch das klang nicht nach einem optimalen Plan, denn meine Töchter liebten mich ja und würden mich vermissen, aber lebend würde ich ihnen nicht mehr allzu viel nützen können, sondern Zukünftig als arbeitsloses, nicht rentenversichertes Gemüse im Rollstuhl höchstens noch Kummer bereiten. Was ich ums Verrecken (sic) nicht wollte. Und tot war ich eindeutig wertvoller als lebendig - schließlich hatte ich als einzigen unter meinen Versicherungsverträgen meine Risikolebensversicherung nicht gekündigt, aus der meine Töchter jeweils 40.000 Euro erhalten würden, sobald ich mich in eine andere Dimension verabschiedete. Das war zwar auch nicht toll, sollte aber dennoch reichen, um sie bis zu ihren jeweils 18. Geburtstagen wenigstens so weit (mit) zu unterstützen, dass sie Abitur machen und sich ein geeignetes Leben aussuchen konnten.

Die Sache hatte mir einen Haken. Das Geld würde meine Töchter nicht erreichen. Es gab keine ausreichend dicke rosarote Brille, mit deren Hilfe ich mir hätte weismachen können, die Mütter der drei würden die von mir so kategorisch verplanten Beträge tatsächlich für zehn oder mehr Jahre festhalten können.
Und so streckte mir also das Schicksal sogar über meinen finalen, feinen Plan hinaus die Zunge heraus. Auch das hatte ich durch meine Lebenskonstruktion gründlich verbockt; nicht einmal mein Tod würde meinen Töchtern noch helfen.
Himmelarsch.
Schön, dass wir mal drüber gesprochen haben, Spiegelbild. Und was jetzt?

Wie, das klingt ein bisschen depressiv? Zu depressiv - oder nicht depressiv genug?

Gestatten Sie mir mit buddhadaistisch angehauchtem Lächeln hinzuzufügen, dass sich dankenswerterweise auch die Option »Tot bin ich mehr wert als lebendig« längst erledigt hat, denn meine Risikolebensversicherung ist mit dem 20. Geburtstag meiner ältesten Tochter 2013 ausgelaufen, und natürlich konnte ich die Police nicht verlängern. Niemand verkauft einem MS-Kranken eine Risikolebensversicherung. Das wäre ja auch regelrecht riskant.

Sollten wir uns an dieser Stelle der Depression zuwenden? Oder besser: der gefährlichen Schwelle zu diesem Gefängnis, die man tunlichst nicht überschreiten sollte? Natürlich haben meine Neurologen auch mich zwischen 2005 und 2009 immer wieder dezent auf mögliche Suizidneigungen angesprochen, sicherheitshalber, mit bereits ausgefüllten Prozac-Rezepten in der Schreibtischschublade. Ob das nicht furchtbar für mich sei, das alles? Unheilbar krank, pleite, ohne Perspektiven? Nicht? Ob mir dann nicht wenigstens der November dieses Jahr besonders grau vorkomme?

Sollten wir das vertiefen? Depressionen? Eigentlich nicht. Denn Nicht-Depressive haben wahlweise sanftes Verständnis für Depressive (»weil das biochemisch ist und keiner was dafür kann«) oder halten au contraire Depression bei Bewohnern der Nordhalbkugel schlicht und kategorisch für eine Unverschämtheit – während
Depressive eben depressiv sind und aus diversen denkbaren Gründen »vernünftigen« Erwägungen nicht unbedingt zugänglich. Also sollte ich nicht darüber schreiben. Tue es aber trotzdem. Und zwar nicht für jene, in deren Leben sich die Depression bereits eingeschlichen hat (also angeblich 50 bis 80 Prozent der MS-Kranken') und die aus dieser Abwärtsspirale aus Enttäuschung, Wut, Kummer, Paralyse und alles noch mal von vorn, einen Stock tiefer, die aus diesem Knast temporär nicht mehr freikommen. Diesen sei mit einer sanften Umarmung zugesprochen: Bitte tun Sie alles, was Sie können, um sich eine Feile zu besorgen und auszubrechen. Sprechen Sie mit einem Therapeuten. Lassen Sie sich Psychopharmaka verschreiben. Lesen Sie die richtigen Bücher. Beten Sie. Ich bin kein Therapeut. Ich schreibe hier bloß ein paar Zeilen für jene, die an der Türschwelle zum Knast stehen. Und weil ich einen Satz aus einem Patientenchat loswerden will, weiter unten.

Natürlich kenne ich einige depressiv-aggressive MS-Kranke (jedenfalls unter ihren »Nicknames«), aber die angeblich 50 bis 80 Prozent Depressiven kenne ich nicht - sondern offenkundig eine nicht-repräsentative Auswahl, nämlich lauter nicht-depressive MS-Kranke. Einige von denen, die teilweise tatsächlich schon mitten im Leben im Rollstuhl sitzen, bewundere ich aus ganzem Herzen, an anderen, weniger stark Beeinträchtigten schätze ich ihre Leichtigkeit, ihre Höflichkeit, ihre Dankbarkeit. All diese Menschen haben aber etwas gemeinsam, was sie auch angesichts unserer gemeinsamen, durchaus nicht leichten und unter Umständen lebenslänglichen »Strafe« vor Depression schützt: Sie kennen offenbar, bewusst oder unbewusst, die Geheimnisse des Lebens und des Universums und wissen, dass dieser »Angriff« nicht persönlich gemeint ist. Sowie, weit wichtiger, dass es schlimmer hätte kommen können.

Wer das nicht versteht, nicht sieht, legt einen schweren und unverrückbaren Grundstein für alle Arten von Kummer, aber zu dieser Grundsteinlegung gehört schon einiges - vor allem eine schon vor Beginn der Erkrankung eigenartige Wahrnehmung des Lebens an sich, im Kern, in der Haltung und im »Glaubenssystem«. Vor allem gehört dazu Blindheit für alle anderen. Und/oder die völlig absurde Idee, irgendetwas »verdient« oder »nicht verdient« zu haben und ungeheuren Einfluss auf das eigene Schicksal zu haben, sprich: etwas Besonderes zu sein, Anspruch darauf zu haben, dass das von uns Geplante auch tatsächlich eintritt. Hier ist sicher nicht der Ort und Platz, diesen Irrglauben im Detail als traurigen Unsinn zu entkräften, wohl aber Platz für die Feststellung, dass wir als MS-Erkrankte durchaus noch wesentlich fiesere »unverdiente« Schicksale aus der großen Lostrommel hätten ziehen können. Von Bauchspeicheldrüsenkrebs bis Schwarze-Mamba-in-der-Umkleidekabine bis Mit-bei-200-Sachen-platzendem-Vorderreifen-auf-der-A7-durchdie-Leitplanke. Natürlich hören wir das nicht gern, schon gar nicht im Augenblick. da wir unsere Diagnose gerade bekommen haben, denn jetzt brauchen wir, wollen wir zu Recht: Mitleid, Aufmerksamkeit. Zuneigung, Liebe, Umarmungen, Hilfsangebote. Die wir hoffentlich bekommen. Temporär. Tröstend. (Siehe unten zu den längerfristigen Gefahren.)

Nach diesem »erlaubten Kummer«, den wir unbedingt zulassen sollten, haben wir uns aber (mehr oder minder umgehend) dringend klarzumachen, dass wir weit weniger Pech hatten oder haben als viele andere. Und wir haben uns nicht an gestern zu orientieren (als wir noch 120 Minuten am Stück Fußball spielen konnten) oder an jenen vielen anderen, die weiterhin gesund sind. Wir haben unseren Blick energisch von gestern und von all den beneidenswerten Kerngesunden abzuwenden (wie viele kennen Sie, mal ehrlich?) und, auch wenn es uns schwerfällt, die Augen zu öffnen für die Schicksale der meisten, die mehr oder weniger weit von uns entfernt auf diesem Planeten herumlaufen. Und diese Schicksale sind in der Mehrzahl schlimmer als unser eigenes.

Klingt leicht? Nach Edeka-Hausfrauen-Küchenkalender? Na, meinetwegen. Aber Sie können das, nämlich loslassen. Nicht nach hinten schauen, sondern nach vorn - und vor allem ins Hier und Jetzt. Auf das, was Sie immer noch haben, nicht auf das wenige, was Ihnen plötzlich fehlt. Sie sind nämlich mindestens so stark wie ich und dürfen mir hier und jetzt glauben, dass ich halb gares Alphatier jedes Mal, wenn mir wieder ein(e) Mitbetroffene/r aus dem Rollstuhl von seinem »Familien-Dreamteam« schreibt oder einfach nur auf höchstem Herzensniveau vom Leben an sich, komplett nasse Augen bekomme und mich gehörig schäme, dass ich nicht noch stärker bin.

Lesen Sie sicherheitshalber noch mal nach oben, zu meiner persönlichen Schwelle zur Depression. Und zu meinen Gründen, die auszulassen. (sofern diese Gründe Sie im Detail interessieren, tun Sie mir einen Gefallen, und wenden Sie sich an www.quintessenzen.net (gebührenfrei) oder das gleichnamige Buch (erschienen bei Ludwig), denn hier wie dort finden Sie meine Lebensphilosophie in geeignet kondensierter Darreichungsform, häppchenweise sortiert und angemessen gestaltet mit lauter verbindenden Sternbildern.

Und jetzt betrachten Sie Ihre eigene Schwelle. Und treten Sie bitte zurück, zurück ins Leben. Glauben Sie mir: Sie sind stärker als ich.

Ach so, stimmt ja, der Satz, den ich loswerden wollte ... der stammt aus einem langen Chat unter Patienten im Rahmen des Patienten-like-me-Kosmos. Ausgangspunkt war die lange, bekümmerte Mail einer Betroffenen, die meinte, alles verloren zu haben, obwohl sie von freundlichen Verwandten herzlich aufgenommen worden war. Die Schwelle in Richtung Wendeltreppe nach unten hatte sie längst überschritten, aber die Antworten ihrer (objektiv weit dramatischer betroffenen) Tröster waren durch die Bank bezaubernd und überaus geduldig. Ich gestehe, dass ich so viel Geduld nicht gehabt hätte, aber der Schlusssatz eines der Tröster erscheint mir überaus weitergebenswert: »Wenn du dich besser fühlen willst, sorg dafür, dass jemand anders sich besser fühlt. Das ist ansteckend.«

Selbstanalyse, Selbstkritik und Rückweg

Mag sein, dass ich mich auf den letzten Zeilen dieses kurzen Kapitels unbeliebt mache, aber verschweigen kann ich nicht, dass nach meinem Dafürhalten bei allen Aufforderungen zur Selbstanalyse ein in der Regel verschwiegener Aspekt unsere besondere abschließende Aufmerksamkeit verdient, nämlich die Frage: Was nützt mir meine MS? Weitergehend: Welchen Teil meiner Persönlichkeit, meines Selbstbildes stellt die MS dar?
Beispielhaft räumt der an MS erkrankte Psychotherapeut Jaron Bendkower in seinem Seelenstripease-Buch Mit MS mitten im Leben selbstkritisch ein, seine MS enthebe ihn dank geeigneter sozialer Absicherung seiner vorherigen Pflicht, in einem ungeliebten Job funktionieren zu müssen. Aus persönlichen Gesprächen mit vielen Erkrankten kenne ich dieses tief verborgene Muster, das ich übrigens für alles andere als verwerflich oder auch nur für unsympathisch halte - zumal ich selbst gelegentlich, um drohendem, für mich sterbenslangweiligen Small Talk auszuweichen, meine MS als Entschuldigung vorschiebe (beziehungsweise gar nicht bewusst vorschiebe, denn ich bin dann wirklich so unfassbar müde, dass ich einfach nicht kommen kann, sorry!).

Caroline Myss hat über dieses Phänomen ein ganzes äußerst lesenswertes Buch geschrieben, trifft aber insbesondere mit ihrer grundsätzlichen Schlussfolgerung den Nagel auf den Kopf, dass wir eine Erkrankung unmöglich loswerden können, wenn diese Krankheit unseren Bedürfnissen nützt - sei es dem ganz konkreten Bedürfnis, zum Beispiel nicht smalltalken zu müssen, oder unserem viel tiefer verankerten seelischen Bedürfnis nach Zuwendung. Aufmerksamkeit oder Mitgefühl. Was uns nützt, und sei es auch nur im Kleinen, im Detail, das werfen wir nicht weg. Wir behalten sogar all das, was uns auch nur potenziell nützlich erscheint. Schauen Sie mal in Ihren Keller oder auf Ihren Dachboden.

Nun werden wir alle auf die Unterstellung, unsere schwere Krankheit nütze uns, spontan mit lauter Empörung reagieren und uns notfalls allen weiteren Diskussionen mit der Gegenfrage entziehen: »Ja, jetzt bin ich selbst schuld, oder was!?«

Aber darum geht es nicht. Es geht nicht um Schuld. Niemand hat Schuld an seiner MS. Niemand will MS haben, schon gar nicht bewusst. Niemand will krank sein. Allerdings könnte es sein, dass wir die Nebenwirkungen gut brauchen können - und das gilt es zu prüfen.

Um erneut peinlich zu werden: Ja, meine MS war (auch) aus Verzweiflung geboren, aus Kummer. Ja, meine MS war ein Hilferuf. Ja, meine MS war Ausdruck von kompletter Hoffnungslosigkeit und Überforderung: ein nicht nur für mich, sondern für jeden unüberhörbares, krachend deutliches »So. Es geht nicht mehr. Jetzt müsst ihr anderen mal machen. Ich kann nämlich nicht mehr. Ich liege. Ich kann das alles nicht mehr sehen. Ich pack's nicht mehr. Fasse es nicht. Ich kann diesen Weg nicht mehr gehen.
Ihr seid dran. Und, hallo? Helft mir!«
Wäre mein Hilferuf erhört worden (und sei es auch nur teilweise), wäre ich vermutlich immer noch krank.
In meinem Fall war es aber dummerweise (lies: glücklicherweise) so, dass die um Hilfe gerufene Kavallerie den Dienst verweigerte und einfach nicht anrückte. Hatte sich verritten. Oder verfahren. Vielleicht waren auch bloß die Pferde auf der Weide oder die ganze Kavallerie beim Friseur (mit den Pferden), jedenfalls kam keine Hilfe. Die wenigen, die gern geholfen hätten, verfügten nicht über die erforderliche Zeit oder die erforderlichen Mittel, andere, die über Zeit oder Mittel verfügten, zeigten kein Interesse am Helfen oder hatten ausdauernd Kopfschmerzen und bald neue Mobilfunknummern. Freundinnen legten meiner Frau nahe, mich umgehend zu verlassen, Freunde boten ihr an, als Ersatz für mich einzuspringen, weil »die MS-Kranken ziemlich schnell komisch zu riechen anfangen«. Selbst das sporadisch gelieferte Mitleid geriet so homöopathisch in der Dosierung, dass mir meine ganze energisch angestrebte Opferrolle förmlich um die Ohren flog.
Zum Glück.
Ich glaube, andernfalls hätte mein Unterbewusstsein mich glatt an die MS gewöhnen können.
So aber blieb nur eines für mich stehen, von meiner inneren Stimme elegant konstatiert. »Du hast absolut nichts davon. Wenn du weiter drauf bestehst, MS zu haben, dann verschimmelst du halt unter 'ner Brücke.«

Wenn Sie mich fragen, ist unsere Muttersprache oft ganz bezaubernd präzis. Denn »enttäuscht zu werden« ist etwas sehr Schönes (auch wenn es ein bisschen schmerzt). Schließlich muss jeder Ent-Täuschung eine Täuschung vorausgehen, eine Illusion, und wer - wie ich - Trugbilder nicht mag, der geht auch aus den mit der MS-Diagnose sich ergebenden Lebensveränderungen gestärkt und im Positiven verwandelt hervor. Denn auch diese Enttäuschungen, die wir infolge unserer Diagnose erleben, ermöglichen uns einen neuen und wahrhaftigeren Zugang zu denen, die uns umgeben, und zu dem, was wirklich wichtig ist - und damit einen wahrhaftigeren Umgang mit uns selbst.
Mein Weg ist garantiert nicht Ihrer, aber vielleicht gehen wir abschnittsweise parallel. Ich musste nicht nur alles loslassen, ich musste mir auch allerhand eingestehen und buchstäblich jenem Teil von mir neu begegnen, den ich auf dem Weg bis mitten hinein in meine Bewegungslosigkeit verleugnet hatte - weil ich diesen Teil ein Leben lang verprügelt hatte und Angst hatte, er werde mich wegen der vielen Narben, die ich ihm geschlagen hatte, von Herzen hassen.
Dem war aber nicht so. Ganz im Gegenteil. Unser Treffen, unsere Wiedervereinigung, war einer der denkwürdigsten Momente meines Lebens, und die Erkenntnis, die dieser Alter-Ego-Narbenmann mir bei seinem Wiedereintritt in mein Leben mitgebracht hat, steht wie eintätowiert hinter meinen Löffeln: Man kann von allen möglichen Leuten getrennt leben, aber nicht von sich selbst.

Abschließend gestatten Sie mir einen nun wahrhaftig arg feinstofflichen Hinweis in Sachen der oben geschilderten Wünsche und Abhängigkeiten: Selbst wenn Sie für sich selbst ausschließen können, dass Ihre MS Ihnen in Sachen Small-Talk-Vermeidung oder Mitleidsgewinn auch nur das Geringste nützt, hüten Sie sich bitte zuletzt vor einer noch viel feineren Gefahr, auf die mein aufmerksamer Korrespondent WH mich hinwies. Denn nehmen wir unsere temporäre Krankheit tatsächlich an, wie unvermeidlich vom Leben gewünscht und diktiert, wird mancher von uns nach einiger Zeit des Reisens auf neuen, wunderbaren Wegen den Satz unterschreiben: »Die MS hat mich mir selbst näher gebracht, und ich empfinde das als Gewinn.«
Wir behalten im Sinn, mit WH: »Gewinnen macht süchtig.«
Es soll ja sogar Menschen geben, die schreiben dann Bücher über ihre MS und verbringen den Rest ihrer Lebenszeit damit, Vorträge zu halten - aber da wir beide das wissen, sehen Sie mir nur allzu gern nach, dass Sie ab Mitte 2015 von mir und meinem Umgang mit der Erkrankung nie wieder etwas hören werden. Ich gehe davon aus, dass sie mich dann irgendwann einfach links liegen lässt.
Stattdessen hören Sie bitte etwas anderes, nämlich die Antwort auf Ihre eigene Frage: »Brauche ich meine Krankheit? Ich will Ihre Antwort nicht hören. Sie sollten sich aber mal mit sich selbst darüber unterhalten, ergebnisoffen.


*Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Leseprobe aus dem Buch von Sven Böttcher ”Diagnose: unheilbar. Therapie: selbstbestimmt”, das im April 2015 im Münchener Ludwig-Verlag erschienen ist. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung.

Sven Böttcher, geboren 1964, Bestsellerautor, Übersetzer von Douglas Adams und Groucho Marx, Fernsehfilmautor und TV-Produzent. 2005, mit Anfang 40, erkrankt er an "unheilbarer" Multipler Sklerose, sucht und findet neue Wege jenseits der Schulmedizin und nutzt die möglicherweise knappe ihm verbleibende Zeit, um seinen drei Töchtern “alles Hilfreiche für den Überlebensweg" aufzuschreiben. Das Ergebnis "Quintessenzen" wird ein Bestseller, seit 2010 ist der Autor "meistens geheilt" und meldet sich mit dem Ökothriller "Prophezeiung" sowie einigen Folgen für die preisgekrönte TV-Serie "Der letzte Bulle" als komplett arbeitsfähig zurück. Website: www.sven-boettcher.de / Blog: www.sven-boettcher.de/blog
Gemeinsam mit Prof. Dr. Jörg Spitz und Anno Jordan hat Sven Böttcher das MS-Informationsportal www.lsms.info ins Leben gerufen. Dort finden Betroffene und Interessierte regelmäßig aktualisierte Empfehlungen zu vielen Aspekten der unterschiedlichen MS-Varianten.





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