FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 2. Halbjahr 2016

Inhaltsverzeichnis

Editorial
Grußwort von Verena Bentele
Grußwort von Susanne Same
Grußwort der Andreas-Mohn-Stiftung
Mit Menschenrechten für Gesundheit und Empowerment!
Von Psychosomatik, Preisverleihungen, Peers und Projekten
Ergebnisse Thementisch 1: Perspektive 2026
Ergebnisse Thementisch 2: "Kognitive Störungen"
Ergebnisse Thementisch 3: Leben mit Schmerz
Ergebnisse Thementisch 4: MS und Empowerment
Spendenlauf: Wunde Füße fürs Empowerment MS-Betroffener
Neue Bücher

Liebe Leserinnen und Leser,

wussten Sie schon, dass die Stiftung LEBENSNERV eine Menschenrechtsstiftung ist? Wir ahnten das auch nicht, bis die Menschenrechtsexpertin Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit uns diesen Titel bei dem Symposium anlässlich unseres 25-jährigen Bestehens im September verliehen hat. Sie hat noch mehr spannende Einsichten vermittelt, wie Sie der Dokumentation ihres Vortrags in diesem Heft entnehmen können.

Das Symposium war aus unserer Sicht und auch nach Einschätzung vieler Teilnehmender eine gelungene Mischung aus Würdigung des Geleisteten und dem Aufbruch zu neuen Themen. So stießen nicht nur die Arbeitsgruppen zum Empowerment und den Stiftungsperspektiven auf positive Resonanz, sondern auch die Angebote zu „Leben mit Schmerz“ und „kognitiven Störungen“ erfreuten sich großer Beliebtheit. Jetzt planen wir, die Expertin für kognitive Störungen, Dr. Annette Kindlimann aus der Schweiz, für einen längeren Workshop einzuladen.

Das Symposium hatte noch einen ganz unerwarteten Nebeneffekt: Prof. Dr. Patrick Eichenberger (ebenfalls aus der Schweiz stammend), der regelmäßig Hauskonzerte mit hochkarätigen Musiker*innen anbietet, organisiert für den 2. April 2017 ein Benefizkonzert zugunsten der Stiftung LEBENSNERV. Nähere Informationen dazu finden Sie auf der Rückseite dieser Ausgabe. Wir freuen uns, wenn wir einige von Ihnen bei diesem Konzert wiedersehen!

Eine andere Spendenaktion ist inzwischen abgeschlossen. Die Rede ist von dem Spendenlauf von fünf Mitarbeiter*innen einer Hamburger Bank von Hamburg nach Berlin. Sie haben es geschafft, zu Fuß die Strecke zwischen den beiden Großstädten zurückzulegen. Die finanziellen Transaktionen sind noch nicht endgültig abgeschlossen, aber wie es aussieht, beläuft sich die Spende an die Stiftung auf rund 10.000 Euro – ein großartiger Erfolg! Mit dem Geld wollen wir Empowerment-Kurse für Menschen mit MS in Hamburg und Umgebung anbieten.

Nun wünsche ich Ihnen eine angenehme Lektüre, frohe Weihnachten und ein erfreuliches Neues Jahr!

Ihre

Dr. Sigrid Arnade


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Grußwort von Verena Bentele

Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

Herzlichen Glückwunsch zu 25 Jahren Stiftung LEBENSNERV, vor allem Ihnen und euch beiden, liebe Susanne Same, geborene Wolf, liebe Dr. Sigrid Arnade. Meinen ganz herzlichen Glückwunsch und vor allem meinen Dank für die Gründung der Stiftung. Das Ziel Ihrer Stiftung ist es, die psychosomatischen Auswirkungen der Multiplen Sklerose zu erforschen. Es wurde viel Zeit und Energie investiert in die Erforschung der körperlichen Symptome der Krankheit. Was das Besondere Ihrer Stiftungsarbeit ist, ist jedoch vor allem die Erforschung der Zusammenhänge zwischen körperlichen und psychosomatischen Konsequenzen oder auch Bedingungen für MS-Patientinnen und - Patienten.

Die Stiftung LEBENSNERV hat aber vor allem auch das Ziel, die Selbstvertretung zu stärken, die Betroffenen mit einzubinden und mit Medizinerinnen und Medizinern zu vernetzen. Und diese Arbeit finde ich wichtiger denn je in Zeiten, wo Teilhabe und Selbstbestimmung wichtigste Leitlinien der behindertenpolitischen Arbeit sind. Sie haben in den letzten Jahren viel gemacht und viel geschafft! Sie haben Preise verliehen, aber Sie haben vor allem auch Peer Counselorinnen und Peer Counselor ausgebildet und dazu meinen herzlichen Glückwunsch! Denn die Beratung und Unterstützung von Betroffenen selbst, ist genau das, was die UN-Behindertenrechtskonvention von uns fordert. „Nichts über uns, ohne uns!“ Das ist mit Sicherheit auch der Leitsatz der Arbeit der Stiftung LEBENSNERV. Für die nächsten Jahre wünsche ich Euch und Ihnen gute Ideen, Kreativität, und vor allem gute Unterstützung von Seiten der Politik, der Medizin und der Betroffenen.

Herzliche Grüße von Verena Bentele!


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Grußwort von Susanne Same

Stellvertretende Vorsitzende der Stiftung LEBENSNERV

Ich begrüße Sie alle sehr herzlich und freue mich, dass Sie das Jubiläum der Stiftung LEBENSNERV mit uns feiern. Die Stiftung LEBENSNERV hat sich viele Jahre immer dafür stark gemacht, dass die Psychosomatik der MS untersucht wird. Dabei waren wir ziemlich schnell in Verbindung mit Fachleuten, die sich mit diesem Gebiet schon auseinandersetzten. Die Stiftung unterstützte diese Bestrebungen. Dabei kamen in diesem Rahmen viele Fachleute zusammen, die sich gegenseitig befruchteten. Zum ersten Mal fühlten wir uns in unseren Gedanken bestätigt.

Die Idee, die Stiftung zu gründen, entsprang aus der Erfahrung von Frau Arnade und mir, dass die psychische Mitverursachung von Ausbruch und Symptomen der MS zu wenig Beachtung fand: “Diese Schübe fallen nicht vom Himmel auf mich herab, sie haben etwas mit meiner Lebenssituation zu tun“, dachte ich immer wieder. Da wir beide festgestellt hatten, dass die Psyche bei unserer MS eine wichtige Rolle spielt, hofften wir auf wissenschaftliche Untersuchungen, die unsere Erfahrungen untermauerten.

Unser beruflicher Hintergrund, Sigrid Arnade, Redakteurin bei der „DMSG aktiv“ und ich, Sozialarbeiterin in der Neurologie der Uni-Klinik Göttingen bildeten auch einen Anstoß aktiv zu werden.

Zunächst wollten wir eine Psychotherapiegruppe für MS-Patienten gründen, die wissenschaftlich begleitet sein sollte, um die Psychosomatik der MS zu erkunden. Wir standen damals in ersten Kontakten zur Leiterin der MS-Beratungsstelle in Göttingen, die einen Rahmen für ein solches Projekt bieten sollte. Einen Geldgeber für so ein Unternehmen hatten wir bereits aufgetan. Der Geschäftsführer des Bundesverbandes der DMSG war dafür schon gewonnen. Leider scheiterte trotzdem der Beginn dieses angestrebten Projektes an der mangelnden Bereitschaft der leitenden Ärztin der Göttinger Beratungsstelle. Dieser Prozess dauerte viele Monate, ohne dass ein wirklicher Anfang zustande kam. An diesem Punkt angelangt hatten wir zum ersten Mal die Idee, eine Stiftung zu gründen. Hier könnten wir ein Forum schaffen, das motivieren sollte, die psychosomatische Seite der MS zu erforschen.

Sigrid Arnade und ich legten die finanzielle Grundlage für die Stiftung aus persönlichen Mitteln an. Bald entstand auch der sehr sprechende Name "Stiftung LEBENSNERV".

Wir installierten eine Zeitschrift (erst Rundbrief, bald FORUM PSYCHOSOMATIK), die zweimal im Jahr erschien, und vom journalistischen Können von Frau Arnade und Herrn Heiden getragen wurde und wird. In dieser Zeitschrift veröffentlichten wir Beiträge, die uns für die psychosomatische Seite der MS wichtig erschienen.

Wir riefen dazu auf, dass wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Gebiet bei uns eingereicht werden sollten, die von einer von uns ins Leben gerufenen Jury (Fachleute wie Ärzte und Psychologen usw.) beurteilt werden sollten. Die besten Arbeiten, oft waren es zwei, wurden mit einem Preis ausgezeichnet. Mit diesem Preis setzten wir einen Anreiz, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen.

Auf weitere Aktivitäten der Stiftung wird Sigrid Arnade in ihrem Vortrag später noch eingehen. Ich habe die Stiftungsarbeit als stellvertretende Vorsitzende über die Jahre mal mehr, mal weniger intensiv begleitet und bin froh und stolz auf das, was wir angestoßen haben. Wir haben immer wieder Neuland betreten und später viele Nachahmer*innen gefunden. Neuland, zumindest in der MS-Szene, betreten wir auch heute, indem wir Gesundheit mit dem Thema Menschenrechte verknüpfen.

Ich wünsche der Veranstaltung einen erfolgreichen Verlauf und Ihnen allen einen angenehmen Tag mit neuen Erkenntnissen und nährenden Begegnungen!


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Grußwort der Andreas-Mohn-Stiftung

Liebe Frau Dr. Arnade, liebe Frau Same, liebe Gäste,

mein Name ist Anja Heyde, und ich freue mich, hier sein zu dürfen, zum 25 jährigen Jubiläum der Stiftung LEBENSNERV. Ich bin hier als Repräsentantin für die Andreas-Mohn-Stiftung. Für Andreas & Eva-Maria Mohn, die heute gern persönlich aus Bielefeld hier nach Berlin gekommen wären. Doch Sie selbst wissen am Besten wie schwierig es sein kann mit Multipler Sklerose. Dass es Tage gibt, manchmal auch Wochen, da ist es gut und dann wieder nicht. Die Gesundheit von Andreas Mohn lässt Reisen im Moment nicht zu.

"Wir sind traurig, heute bei dieser Jubiläumsfeier nicht bei Ihnen sein zu können. Aber wir sind in Gedanken bei Ihnen in Berlin." Das Ehepaar Mohn trägt Sie und die Stiftung im Herzen und ihre Worte und Gedanken trage ich heute zu Ihnen.

Es sind warme Worte für zwei temperamentvolle, außergewöhnliche und humorvolle Frauen - die anpacken. Die nicht lange reden, sondern handeln: Dr. Sigrid Arnade und Susanne Same, die die Stiftung LEBENSNERV vor mittlerweile 25 Jahren gegründet haben.

Man könnte meinen, anpacken und leiten sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit für Menschen in verantwortungsvollen Positionen. Aber Sie müssen sich nur umschauen in Politik, Wirtschaft und Medien, um schnell festzustellen - dort wird viel geredet und wenig gehandelt. Und wenn gehandelt wird, dann trifft es gerne mal die Falschen – wie jetzt wieder beim Bundesteilhabegesetz.

Bei so viel Reden entstehen viele, große Blasen voll mit heißer Luft. Gefüllt werden diese Blasen mit dem Engagement von Stiftern und Ehrenamtlichen. Als vor ziemlich genau einem Jahr Hunderttausende von Flüchtenden nach Deutschland kamen, hat sich das wieder gezeigt. Wie wäre die Situation wohl jetzt, wenn es all diese Menschen nicht gegeben hätte? Menschen wie Sigrid Arnade und Susanne Same und Ihre Stiftung LEBENSNERV. Deren Motto scheinbar einfach ist: Was können wir tun? Hier und jetzt!? In einem Land, in der sich die Politik aus sozialen Fragen, nahezu asozial herausgezogen hat.

Über diese eigentlich so simple Frage haben auch die Andreas-Mohn-Stiftung und die Interessenvertretung Selbstbestimmtes Leben e.V. zusammen gefunden, deren Geschäftsführerin Dr. Sigrid Arnade auch ist. Kennengelernt haben sich das Ehepaar Mohn und Dr. Sigrid Arnade in Bielefeld. Dr. Arnade war eingeladen als Referentin zu einer Veranstaltung der Mohnstiftung. 2014 war das im Februar. Wiedergesehen haben Sie sich erneut in Bielefeld – nur ein Jahr später - im Arcadia Hotel. Die ersten Flüchtlinge waren zu Tausenden erst in München und dann an anderen Bahnhöfen in ganz Deutschland gestrandet. Und Sigrid Arnade hatte schon wieder eine Antwort auf die Frage: Was können wir tun? Hier und jetzt.

"Wir können" – so ihre Antwort – „den Flüchtlingen, die neben ihrer – meist traumatischen - Fluchtgeschichte zusätzlich mit einer Behinderung leben, helfen.“ Indem wir Ihnen unbürokratisch medizinische Hilfsmittel besorgen. Denn das Gesetz sieht in der Regel nur die akute medizinische Versorgung vor.

Mit anderen Worten: Rollstühle, Gehhilfen und Hör- oder andere Geräte, die das Leben mit Behinderung leichter machen, die gibt es nicht einfach so. Sollte es aber geben. Und zwar möglichst schnell und einfach.

Das geht heute am besten über die sozialen Medien – in diesem Fall facebook. Also, so die Idee von Sigrid Arnade, sollte schnellstmöglich ein facebook-account eröffnet werden, auf dem genau solche Hilfen gesucht, gefunden, angeboten und ausgetauscht werden können. Das Ehepaar Mohn hat nicht lange überlegt und spontan Unterstützung zugesagt. Und so ist das gemeinsame Projekt „ability4refugees“ entstanden. Zuerst in Form eines Facebook-Accounts, auf dem jeder seine nicht mehr benötigten Hilfsmittel einstellen und kostenlos zur Verfügung stellen kann. Seit dieser Woche ist die Initiative auch mit einer eigenen Webseite online. Es ist ein scheinbar kleiner Beitrag – aber wenn wir uns anschauen, wie sich das gesellschaftliche Klima entwickelt hat, insbesondere im vergangenen Jahr, dann ist dieses Engagement vorbildlich.

In einer Zeit, in der rechtspopulistische Parteien und Gruppen darüber sinnieren, wie man Menschen, die scheinbar nicht in das eigene Weltbild passen - aus unserer Gesellschaft separiert und ausgrenzt, sind es genau diese Aktionen, die wir viel lauter kommunizieren müssen, weil sie zeigen, dass es eine breite und kritische Masse gibt, die über gesunden Menschenverstand verfügt und Nächstenliebe praktiziert. Wir müssen lauter sein. Weil es schon einmal eine ähnliche Entwicklung gab – in der vermeintliche Demokraten diesem Land erklärten, wer und was gut und richtig ist für die Gesellschaft. Das widerspricht Artikel 3 des GG, indem es heißt: alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Die Stiftung LEBENSNERV lebt diesen Grundsatz. Sie redet nicht nur darüber. Sie versucht seit nunmehr 25 Jahren Menschen zu unterstützen, die die Diagnose MS erhalten. Was das bedeutet, wissen die Stifterinnen sehr genau. Und auch Andreas Mohn weiß, wie sich das anfühlt. Nicht zuletzt deshalb ist er Ihnen und der Stiftung LEBENSNERV eng verbunden. Die Stiftung hat sich grundlegend der Erforschung der Psychosomatik von Multipler Sklerose gewidmet – der Erforschung von Seele und Körper gleichzeitig. Mit dem Wissen, dass man beides nicht trennen kann.

Andreas und Eva-Maria Mohn möchten Ihnen heute für Ihr jahrelanges Engagement Ihre Hochachtung aussprechen. Für Ihren unbändigen Willen und Ihre Zähigkeit, mit der Sie – Dr. Sigrid Arnade und Ihr Team – die Ziele der Stiftung verfolgen. Mit beachtlichem Erfolg. Wie Sie mit dem Ansatz der Ganzheitlichkeit und dem Empowerment – MS-Kranken wieder Halt und Kraft geben, FÜR und IN ihrem Leben, das ist großartig. Sie schaffen es, Menschen zu ermutigen und selbstbestimmt auch mit dieser Diagnose und der Krankheit zu leben.

"Dafür möchten ich Ihnen – im Namen von Andreas und Eva-Maria Mohn - danken.

Und wir möchten heute SIE ermutigen. Weiter zu machen. Wir wünschen Ihnen die Kraft und das Know-How, diesen Weg weiter zu gehen. Obwohl beide – Andreas und Eva-Maria Mohn - keine Zweifel daran haben. Aber – es gibt solche und solche Tage...

Und wir wünschen Ihnen noch mehr Freunde und Förderer auf diesem Weg, damit sie ihn in dieser Beharrlichkeit wie bisher weiter gehen können. Wir freuen uns, dass wir uns zu diesen Freunden zählen können. Und wir möchten Ihnen und dem Team zu jeder Zeit unsere Unterstützung anbieten, wenn es uns möglich ist.

Wir freuen uns, dass es Sie gibt und wir freuen uns Teil dieser Geschichte sein zu dürfen.

Herzliche Glückwunsche für 25 erfolgreiche Jahre mit der Stiftung LEBENSNERV und herzliche Grüße aus Bielefeld."

Andreas und Eva-Maria Mohn


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Mit Menschenrechten für Gesundheit und Empowerment!

Festvortrag von Claudia Lohrenscheit

Dass die Erkrankung an MS etwas mit Gesundheit zu tun hat, liegt auf der Hand! Dass Empowerment ein geeignetes Medikament mit vielen positiven Nebenwirkungen ist, hat die Stiftung in der Vergangenheit bewiesen. Aber was hat MS mit Menschenrechten zu tun? Das verdeutlichte Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit von der Hochschule Coburg in ihrem Festvortrag, der nachstehend in Auszügen dokumentiert ist. Vor ihrer Berufung als Professorin nach Coburg hat Claudia Lohrenscheit die Abteilung Menschenrechtsbildung beim Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin geleitet.

Es ist mir eine große Freude hier zu sein! In meinem Vortrag wird es um Freiheit, Gleichheit und Inklusion auf der Basis der Menschenwürde gehen. Das ist das, wofür Menschenrechte stehen und das ist auch das, wofür die Stiftung LEBENSNERV steht. Die Stiftung LEBENSNERV ist eine Menschenrechtsstiftung! Bei Menschenrechten denken viele zunächst an Menschenrechtsverletzungen. Viele denken auch an politische und bürgerliche Rechte. Die sogenannten Freiheitsrechte werden da auf den Plan geholt: Also Freiheit von staatlicher Willkür, Schutz vor Folter, Schutz vor Todesstrafe - das sind klassische Themen, die zum Beispiel Amnesty International seit vielen Jahren vertritt. Aber Menschenrechte sind natürlich viel mehr. Wir alle haben ein Bauchgefühl dafür, was Menschenrechte sind. Auch wenn Sie es vielleicht schon wissen, möchte ich ganz kurz einige Merkmale darstellen: Was sind Menschenrechte, woher kommen sie und wovon handeln sie eigentlich?

Abwehr von Unrechtserfahrungen

Zunächst: Menschenrechte sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind immer in der Auseinandersetzung mit Macht, mit Mächtigen entstanden und sie sind hart erkämpft worden als Antwort auf Unrechtserfahrungen. Menschenrechte sind auch nie sicher, sie gehen sehr oft zwei Schritte vor und einen zurück. Die Stiftung LEBENSNERV hat natürlich viel erreicht, aber wir können uns nie sicher sein, ob Standards auch ewig erhalten bleiben. Wir erleben es gerade ganz aktuell, Beispiel Flüchtlinge, wie bestimmte Gruppen vom Menschenrechtsschutz ausgenommen werden. Oder es soll nur ein halber Menschenrechtsschutz gewährt werden, wie etwa bei den Gesundheitsrechten für Flüchtlinge. Das kommt dann zu der absurden Situation, dass sich Gesundheitsdienste, Ärzt*innen, Pfleger*innen, die sich für Flüchtlinge engagieren, auf der einen Seite gelobt und mit Verdienstorden ausgezeichnet werden. Auf der anderen Seite müssen sie immer befürchten, dass sie sich strafbar machen.

Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte

Das nächste Merkmal ist ganz zentral: Alle Menschenrechte haben eine Freiheits- und eine Gleichheitsdimension. Das wird schon sehr gut deutlich im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR): "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen." Heute würde man vielleicht sagen "Geschwisterlichkeit". Oder die Behindertenrechtskonvention würde sagen "Im Geist der Inklusion". Nichts anderes heißt Inklusion: Solidarität, dass wir zueinander gehören, dass wir keinen Menschen aus seinem Mensch-Sein ausschließen. Leider wird die Freiheitsdimension sehr oft falsch verstanden: nur für die Rechte, die dies oft schon im Titel tagen: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit. Das sind klassische bürgerliche Rechte, bei denen alle ganz klar sagen "Das sind Menschenrechte!" Bei anderen Rechten, insbesondere bei wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, dem Recht auf Gesundheit, worauf ich gleich noch zu sprechen komme, oder dem Recht auf Bildung, auf Wohnung oder dem Recht auf Nahrung wird oft gesagt, das seien ja eigentlich keine Freiheitsrechte, sondern nur eine staatliche Zieldefinition. Menschenrechte formulieren ja immer Ansprüche an den Staat. Kein Staat könne aber das Recht auf Gesundheit, das Recht gesund zu sein, gewährleisten, das ginge ja gar nicht, da die Staaten unterschiedliche Ressourcen hätten. Bei den anderen Rechten müssten die Staaten ja nur etwas unterlassen.

Doch auch bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten sind die Staaten zuständig, nämlich in der Freiheitsdimension, das heißt, der Staat darf uns nicht vorschreiben, wie wir unser Recht wahrnehmen. Beispielsweise beim Recht auf Nahrung: Der Staat muss zwar alles zur Verfügung stellen, damit wir uns gesund ernähren können, aber wir entscheiden, wie wir uns ernähren wollen. Niemand kann mir also vorschreiben, ob ich Fleisch essen möchte oder nicht. Das Recht auf Nahrung bedeutet also nicht, dass mich der Staat mit 1.500 Kalorien am Tag abfüttern muss. Beim Menschenrechtsschutz versucht man, diese Verbindung der Freiheits- und Gleichheitsdimensionen über das Verbot der Diskriminierung umzusetzen.

Verbot von Diskriminierung

Ein solcher Diskriminierungsschutz ist auch besonders wichtig für verletzliche Gruppen, wie etwa für chronisch kranke oder behinderte Menschen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hält fest, dass Diskriminierung aufgrund von bestimmten Merkmalen, zum Beispiel von Geschlecht, Lebensalter, Status oder ökonomischem Hintergrund verboten ist. Das Merkmal Behinderung war 1948 noch gar nicht in der Erklärung enthalten. Da diese Merkmale aber nur als Beispiele formuliert waren, war es möglich, dass im Laufe der Zeit immer mehr Gruppen hinzukamen und so ist der Diskriminierungsschutz ausgeweitet worden und in machen Bereichen noch sehr jung: Behinderung im deutschen Grundgesetz ist erst 1994 aufgenommen worden. Noch jünger ist das Merkmal der sexuellen Orientierung, das erst im Jahr 2006 mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Berücksichtigung beim Diskriminierungsschutz gefunden hat. Sie sehen daran, dass auch in Zukunft noch neue Ansprüche auf Gleichheit, an den Schutz vor Diskriminierung hinzukommen können, aufgrund von Merkmalen, die uns heute noch gar nicht bewusst sind.

Der große Verdienst der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist das Prinzip der Inklusion, das sie neu zum Diskriminierungsschutz beigetragen hat. Diskriminierungsschutz ist das, was der Staat zu unternehmen hat, um das gleiche Ausüben von Menschenrechten zu ermöglichen. Positive Maßnahmen, um Gleichheit herzustellen, sind eigentlich erst seit der UN-BRK im Jahr 2006 mit dem Begriff der Inklusion im Menschenrechtsschutz angekommen. Inklusion muss nun in alle anderen bestehenden Menschenrechtsverträge hineingelesen werden. Ich komme auf das Prinzip der Inklusion gleich noch einmal zurück.

Menschenrechtsbildung ist wichtig

Damit Menschenrechte durchgesetzt werden und nicht nur auf dem Papier stehen, braucht man Institutionen und auch die Menschenrechtsbildung in jedem Alter. Das Wissen um Menschenrechte ist in unserem Land nicht so gut bestellt. Bei der Menschenrechtsbildung geht es vor allem darum, ein positives Verständnis und Kompetenzen von und zu Menschenrechten zu entwickeln. Das ist natürlich zuerst eine staatliche Aufgabe, aber wenn wir, als Zivilgesellschaft ihm dabei nicht auf die Finger schauen und immer wieder Unrechtserfahrungen einklagen und sichtbar machen, dann ist es oft nicht so gut gestellt um den staatlichen Schutz von Menschenrechten. Zu den Institutionen, die Menschenrechte durchsetzen können, gehören zunehmend auch Beschwerdestellen, bei denen wir ganz frei von Angst erzählen können, wo es nicht klappt mit dem Menschenrechtsschutz. Beispiel Kinderrechtskonvention: Erst jetzt entwickelt sich ein Bewusstsein dafür, dass wir für Kinder als Rechtssubjekte unabhängige Beschwerdestellen von der Kita bis zum Erwachsenenalter brauchen.

Menschenrechte sind also keine fertige Entwicklung, sondern eine "unabgeschlossene Lerngeschichte", wie Heiner Bielefeldt1 sagt. Es geht um Aufklärung, darum, einen Fortschritt zu fördern, den wir als "human" bezeichnen können.

Das Menschenrecht auf Gesundheit

Hinter dem Gesundheitsbegriff steckt ja oft eine genormte Vorstellung davon, was Gesundheit bedeutet, eine Vorstellung, die sehr exklusiv sein kann: Ist Gesundheit etwa die Abwesenheit von Krankheit? Oder wie es die Weltgesundheitsorganisation sagt "ein Höchstmaß an erreichbarem physischen und psychischem Wohlbefinden für jeden"? Ziehe ich einmal den UN-Sozialpakt aus dem Jahr 1966 hinzu, da heißt es "Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines Jeden auf das Erreichen eines Höchstmaßes körperlicher oder geistiger Gesundheit an". Ein Recht auf Gesundheit gab es vorher in dieser Form also noch nicht und das bedeutet zuallererst "Gesundheit ist kein Privileg", etwa für die Reichen oder diejenigen, die Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben.

Jetzt ist es aber so, dass gerade beim Menschenrecht auf Gesundheit nicht nur ein riesiges Wissensdefizit gibt, sondern auch ein Wahrnehmungsdefizit. Dass zum Beispiel die Stiftung LEBENSNERV eine Menschenrechtsstiftung ist, wird viele irritieren zu hören. Sie denken bei Menschenrechtsverteidigung an Rechtsanwälte, Richter, Polizei, Strafverfolgungsbehörden, aber sie denken nicht an Gesundheitsdienste als Menschenrechtsverteidiger und vor allem nicht an Patientinnen und Patienten als Menschenrechtsaktivisten. Deshalb ist Gesundheit oft ein vernachlässigtes Menschenrecht. Die Argumentation ist, dass wir erst einmal politische und bürgerliche Rechte schützen müssen und wenn wir das haben, dann können wir auch über Gesundheit reden. Aber: Menschenrechte kann man nicht teilen! Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beispielsweise hat 30 Artikel. Diese 30 Artikel werden dann später in Menschenrechtsverträge ausformuliert und diese Verträge stellen so etwas wie ein Gebäude dar und für ein Gebäude braucht man jeden einzelnen Stein. Menschenrechte bedingen einander und zum Recht auf Gesundheit gehören alle anderen Menschenrechte hinzu, beispielsweise das Recht auf Bildung. Es macht durchaus Sinn, eine gesundheitliche Bildung zu bekommen. Es macht Sinn, umfassend über Gesundheit, Krankheit, Wohlbefinden informiert zu sein, um überhaupt in der Lage zu sein, das Recht auf Gesundheit wahrzunehmen. Oder das Recht auf Wohnung - das gehört unbedingt zum Recht auf Gesundheit hinzu: Wenn ich die Wohnbedingungen, in denen ich lebe, selbstbestimmt gestalten kann, dann gehört das wesentlich mit dazu, wie ich mein Recht auf Gesundheit wahrnehmen kann.

Empowerment statt Fürsorge!

Der dritte Begriff aus dem Titel meines Vortrages "Empowerment" gehört zentral zu den Menschenrechten hinzu. Aber bei vielen löst das Irritationen aus: "Wieso Empowerment für Menschen, die krank sind? Die brauchen doch nicht Macht, die brauchen doch unsere Fürsorge, Liebe, aber doch nicht Empowerment!" Aber gerade beim Recht auf Gesundheit ist Empowerment zentral - wie bei jedem anderen Recht auch und dafür steht die Stiftung LEBENSNERV. Es geht darum, dazu mächtig zu sein, eigene Rechte umzusetzen - nicht nur für mich, sondern auch in Solidarität mit den anderen. Diese Wahrnehmungsdefizite zu überwinden, dass alles angeblich nichts mit Gesundheit zu tun hat, auch dafür steht die Stiftung LEBENSNERV und das ist ihr großer Beitrag für das Verständnis von Menschenrechten insgesamt. Wer verstanden hat, dass Empowerment, Gesundheit und Menschenrechte zusammengehören, der hat etwas Grundlegendes verstanden, das für alle Menschenrechte gleichermaßen wichtig ist.

Strukturen zur Umsetzung

Menschenrechte sind immer sehr knapp formuliert und es ist die Aufgabe der Staaten, sie herunter zu brechen für das eigene Land. Sie bekommen dazu aber Hilfestellung und diese Hilfestellung leisten die Überwachungsorgane der Vereinten Nationen, die UN-Ausschüsse. Diese lesen die Berichte der Staaten und der Zivilgesellschaft, um den Umsetzungsstand der Menschenrechte in einem Staat beurteilen zu können und sie geben dem Staat Hinweise und Empfehlungen, was besser gemacht werden könnte. Der zweite Teil der Arbeit der Ausschüsse besteht darin, dass sie Kommentare zur Auslegung der einzelnen Rechte geben. Für das Recht auf Gesundheit gibt es so einen Kommentar, der die Struktur der Umsetzung beschreibt. Die Formel dafür heißt „Triple A plus Q“, dies kommt von den englischen Begriffen, die diese Struktur prägen: Availability, Accessibility, Acceptability und Quality. Ich habe es für Sie ins Deutsche übersetzt: Das Recht auf Gesundheit muss verfügbar sein, zugänglich, akzeptabel und von hoher Qualität. Insbesondere auch die Qualität, was Forschung betrifft. Es müssen zum Beispiel auch Forschungsgebiete beachtet werden, die sonst vielleicht im Mainstream untergehen. Aber der Reihe nach – was bedeuten diese Merkmale?

Damit das Menschenrecht auf Gesundheit verfügbar ist, muss es vor allen Dingen eine funktionierende Infrastruktur geben. Es muss gesundheitliche Dienste geben, gesundheitliches Personal, das gut ausgebildet ist und gut bezahlt wird, dies ist vor allem im altenpflegerischen Bereich noch ein Problem. Verfügbar meint beispielsweise auch einen gleichen Standard im städtischen wie im ländlichen Bereich. Es gibt viele ländliche Gebiete, in denen müssen Sie beispielsweise erst einmal 30 oder 40 Kilometer fahren, um überhaupt einen Arzt zu Gesicht zu bekommen. Aber auch in Hamburg gibt es beispielsweise ganze Stadtviertel, in denen keine einzige Arztpraxis mehr vorhanden ist und zwar deswegen, weil diese Stadtviertel verarmt sind und Ärzte sagen, eine Klinik, eine Praxis kann heute nur überleben, wenn sie einen bestimmten Anteil an Privatpatienten versorgt. Und dann ziehen sich die Ärzte genau aus den Gebieten zurück, die eigentlich eine gute ärztliche Versorgung nötig haben. Hier ist die Aufgabe des Staates zu steuern, dass das Recht auf Zugang zur Gesundheit überall im Land vorhanden ist.

Zum zweiten Kriterium, der Zugänglichkeit: Das bedeutet, ich muss auch in die Arztpraxis, in ein Frauengesundheitszentrum, in ein Krankenhaus hineinkommen, unabhängig davon, ob ich ein Mann bin, eine Frau bin, im Rollstuhl sitze, ob ich alt oder jung, arm oder reich bin – der Zugang muss in jedem Fall gewährleistet sein. Sie sehen, hier kommt das Kriterium Diskriminierungsschutz wieder zum Tragen, das härteste Kriterium, um Menschenrechte durchzusetzen. Akzeptabel meint beim Recht auf Gesundheit, dass Übereinstimmung gewährleistet werden muss mit menschenrechtlichen Standards. Zur Qualität hatte ich zuvor schon etwas gesagt: Es müssen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Tragen kommen, es muss Forschung gemacht und finanziert werden, auch fernab von Pharmakonzernen oder den Bereichen, die profitabel sind.

Assistierte Autonomie

Jetzt würde ich gerne zum Schluss noch einmal stärker auf das Kriterium Zugänglichkeit eingehen: Die Zugänglichkeit verbindet sich nämlich konzeptionell mit Inklusion und Empowerment und da will ich mich ausdrücklich auf die Behindertenrechtskonvention beziehen, da sie Kriterien zu Inklusion und Empowerment definiert. Das wichtigste Kriterium ist die Vorstellung von Selbstbestimmung und Autonomie. Die Behindertenrechtskonvention bringt eine wunderbare, neue Perspektive mit: das Verständnis von „assistierter Autonomie“. Das ist eigentlich ein Fakt für alle Menschen. Wir alle brauchen Assistenz, alle brauchen Unterstützung, um überhaupt selbstbestimmt leben zu können, mindestens am Anfang und am Ende des Lebens in der Regel, aber ganz oft auch mittendrin: In bestimmten Lebensphasen, in denen wir vielleicht von Krankheit oder anderen Dingen betroffen sind, um uns selbst entfalten zu können. Diese Anbindung von Autonomie an das Konzept von Assistenz ist die große Leistung, die die Behindertenrechtskonvention für das Gesamtverständnis der Menschenrechte bringt.

Assistenz ist aber an den Maßstab der Autonomie zurückgebunden. Es darf keine Assistenz geben, ohne das grundlegende Konzept von Selbstbestimmung und Autonomie immer wieder zur Anwendung zu bringen. Aber zur Verwirklichung von Autonomie braucht es zwingend Barrierefreiheit, am besten als universelles Design, zum Beispiel bei einem Aufzug: Der ist nicht nur gut für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, sondern auch für ältere Menschen oder für Mütter und Väter, die mit einem Kinderwagen unterwegs sind, für mich auch ganz oft, weil ich mit tausend Koffern unterwegs bin. Das ist die Idee der Verwirklichung von Autonomie durch universelles Design, dass alle davon profitieren werden. Dazu müssen die strukturellen Barrieren aus dem Weg geräumt werden, die ja oft nur aus Unwissenheit existieren. Schritt für Schritt, ganz unabhängig von den finanziellen Ressourcen, die ja in jedem Land verschieden sind. Die Behindertenrechtskonvention spricht von der „progressiven Realisierung“: Der Staat muss nachweisen, was er tut, um Schritt für Schritt strukturelle Barrieren abzubauen. Dies betrifft sowohl materielle Barrieren wie Treppen, als auch immaterielle Barrieren in der Gesellschaft, die Teilhabe verhindern.

Empowerment mit Tauchrollstuhl

Ein Beispiel für Empowerment, das ich Ihnen zum Schluss noch zeigen möchte, ist eine Frau, die auf ganz wunderbare Art und Weise zeigt, wie das gehen kann, das ist Sue Austin. Sie ist meines Wissens die erste Frau, für die ein Taucherrollstuhl konzipiert wurde. In diesem kurzen Filmausschnitt, den ich Ihnen jetzt zeigen möchte, taucht sie in Australien am Great Barrier Reef (siehe dazu http://www.wearefreewheeling.org.uk/sue-austin-home d. Red.)

Ich würde gerne mit einem Zitat von ihr schließen: "The moment of completely new thoughts has created the freedom that sweps to other peoples lives" - "Der Moment eines völlig neuen Denkens kreiert vielleicht eine Form von Freiheit, die sich ausbreiten kann in das Leben aller anderen Menschen". Dafür genau steht die Idee der Menschenrechte und dafür genau steht die Idee von Menschenrechtsaktivistinnen wie Sigrid Arnade und Susanne Same und die Stiftung LEBENSNERV - dass sich diese Freiheit ein Stück weit in die Leben anderer Menschen ausbreitet und niederschlägt. Vielen Dank!

(Transkript und Bearbeitung: H.- Günter Heiden)


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Von Psychosomatik, Preisverleihungen, Peers und Projekten

25 Jahre Stiftung LEBENSNERV

von Sigrid Arnade

Liebe Freundinnen und Freunde, meine Damen und Herren,

über unsere Gründe, die Stiftung LEBENSNERV zu initiieren, hat Susanne Same bereits einiges gesagt. Wir beide Stifterinnen, Susanne und ich, haben die Stiftung 1991 ins Leben gerufen, weil wir der Ansicht waren und sind, dass Körper, Geist und Seele zusammen den Menschen ausmachen und nicht voneinander zu trennen sind. Diese Zusammenhänge wurden jedoch unserer Ansicht nach im Bezug auf MS viel zu wenig berücksichtigt.

Ich möchte Ihnen jetzt einen kurzen Überblick über die Aktivitäten und Entwicklungen der Stiftung in den vergangenen 25 Jahren vermitteln. Werfen wie zunächst einen Blick in die Satzung: Entsprechend der geschilderten Ausgangssituation haben wir in der Stiftungssatzung den Zweck der Stiftung Lebensnerv festgelegt und zwar die Förderung von:


Nachzulesen ist dies sowie weitere Informationen über die Stiftung LEBENSNERV auch unter www.lebensnerv.de

Die Psychosomatik spielt eine große Rolle in der Arbeit der Stiftung LEBENSNERV. Aber was ist das eigentlich? Schauen wir uns zunächst das Wort genauer an. Psyche steht für Seele, Soma für Körper. Beide, Seele und Körper, hängen zusammen mit ganz vielen Wechselwirkungen. Deshalb ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise notwendig. Alle körperlichen seelischen, aber auch die sozialen und umweltbezogenen Faktoren, einfach alle Einflüsse, denen ein Mensch begegnet und ausgesetzt ist, müssen berücksichtigt und einbezogen werden.

Es gibt also keine einfachen Antworten, sondern jeder Mensch muss individuell betrachtet werden. Genauso unterschiedlich wie die Krankheitsverläufe bei MS - sie wird auch die Krankheit mit den 1000 Gesichtern genannt - ist die psychische Situation von Menschen mit MS. Es gibt nicht den MS Betroffenen es gibt auch nicht die psychische Situation von Menschen mit MS und es gibt nicht die Psychosomatik der MS. Es gibt aber strukturelle Gemeinsamkeiten von Menschen, die mit MS leben: Die Diagnose führt in der Regel zu einer Identitätskrise der Betroffenen mit einer großen Verunsicherung: Was wird die Zukunft bringen? Wie wird es beruflich und privat weitergehen? Werden die Freunde von heute auch noch die Freunde von morgen sein?

Vor 25 Jahren waren wir mit unserem Plädoyer für eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Erkrankung MS und von Menschen mit MS noch relativ allein auf weiter Flur. Inzwischen gehört es zumindest theoretisch zu einem professionellen Vorgehen, den ganzen Menschen im Blick zu haben. Vielleicht konnten wir ein Stück dazu beitragen?

Mit unserer Stiftungsarbeit wollten und wollen wir andere Menschen mit MS unterstützen, besser mit ihrer Erkrankung zu leben. Dazu haben wir in den Anfangsjahren Preise ausgelobt. Wir wollten Doktorand*innen und Diplomand*innen anregen, sich mit der Thematik auseinander zu setzen, um fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu erhalten. Zwischen 1994 und 2007 haben wir etwa alle zwei Jahre Preise vergeben, insgesamt sieben Mal. Das Preisgeld betrug anfangs 5000 DM, später 2500 EURO. Viermal wurde der Preis geteilt. Es gab jeweils eine fünfköpfige Jury aus einem Pool mit rund 15 Jurymitgliedern, der sich aus Neurolog*innen Psycholog*innen Psychosomatiker*innen und Sozialarbeiter*innen zusammensetzte. Die Preisverleihungen fanden in Kassel, Hannover, Münster und Berlin statt.

Die prämierten Arbeiten beschäftigten sich thematisch unter anderem mit psychosomatischen Aspekten bei MS, mit Bewältigungsformen von Menschen mit MS, mit subjektiven Krankheitstheorien, einmal mit dem magischen Denken von MS-Betroffenen (sie denken nicht häufiger magisch als alle anderen Menschen) oder auch mit der Musiktherapie bei MS.

Um Menschen mit MS noch besser zu unterstützen, wollten wir ein Beratungsangebot ins Leben rufen. Dazu haben wir zunächst 2003 ein Curriculum entwickelt. Anschließend haben wir in den Jahren 2004 und 2005 an insgesamt zwölf Wochenenden zehn Frauen, die meisten davon MS-Betroffene, zu Peer-Beraterinnen ausgebildet. Peer stammt aus dem Englischen und bedeutet soviel wie „gleichgestellt“. Die Frauen kamen aus dem ganzen Bundesgebiet und bieten die Beratung jetzt bei Bedarf lokal oder telefonisch an. In den Jahren 2012 und 2013 haben wir im Auftrag der DMSG Berlin zehn Frauen und Männer mit MS aus Berlin zu Peer-Beraterinnen ausgebildet.

Peer-Counseling (Counseling ist das englische Wort für Beratung) hat eine Reihe von Vorteilen gegenüber der Beratung durch nicht betroffene Profis. Letztere kann durch ein Peer-Counseling-Angebot sinnvoll ergänzt werden. Bei einer Beratung geht es nicht darum, gute Ratschläge zu geben, sondern den oder die Ratsuchende auf ihrem eigenen Weg zu begleiten. Dabei haben Beraterinnen, die selber mit MS oder einer anderen chronischen Erkrankung leben, den Vorteil, dass sie glaubwürdiger wirken. Außerdem können Sie als Vorbild dienen. Wenn die Ratsuchenden sehen, dass eine andere Person mit einer ähnlichen Erkrankung oder Einschränkung ein selbstbestimmtes Leben führen kann, dann macht das Mut und spornt an, etwas Vergleichbares zu erreichen. Wenn eine andere Person mit einer ähnlichen Erkrankung oder Einschränkung ein selbstbestimmtes Leben führen kann, dann macht das Mut und spornt an, etwas Vergleichbares zu erreichen. Dadurch werden die Ratsuchenden gestärkt, sie können ein neues Selbstbewusstsein entwickeln. Für die betroffenen Beraterinnen kann sich im besten Fall eine neue berufliche Perspektive ergeben.

Eingedenk unserer Peer-Angebote haben wir dann in unserem Flyer ganz selbstbewusst geschrieben "Wir sind PEER". Das P steht dabei für Psychosomatik, dass erste E für Empowerment, das zweite E für Eigenverantwortung und das R für Ressourcenorientierung.

Im Laufe der Jahre haben wir also eine ganze Reihe von Projekten realisiert. Das waren die Peer-Counseling-Ausbildungen. Mit der Gruppe der Beraterinnen haben wir auch den kurzen Film mit dem Titel "Schluss mit lustig?" gedreht.

Bei der Peer-Counseling-Weiterbildung ist uns aufgefallen, dass die Frauen gestärkt wurden. Wir dachten dann, dass solch eine Stärkung für alle Menschen mit MS wichtig sei. Nicht alle müssen Berater*innen werden, aber dieses Empowerment - wie wir es nannten - sollte möglichst vielen Menschen mit MS zugute kommen. Also entwickelten wir wieder ein Curriculum und boten Trainings an. Das Empowerment-Konzept erfreut sich inzwischen großer Beliebtheit, so dass wir häufiger wegen entsprechender Angebote angefragt werden und auch andere Organisationen den Wert dieser Arbeit erkannt haben. Auch hier waren wir Vorreiter und haben das Empowerment-Konzept für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in Deutschland nutzbar gemacht.

Außerdem haben wir uns mit der Situation behinderter Migrant*innen beschäftigt. Wir haben dazu Studien erstellt und arbeiten in einem Berliner Arbeitskreis zu dem Thema mit.

Regelmäßig geben die Zeitschrift FORUM PSYCHOSOMATIK heraus. Sie erscheint zweimal im Jahr, inzwischen gibt es rund 50 Ausgaben. Der Redakteur ist H.-Günter Heiden, die Gestaltung übernimmt von Anfang an Enno Hurlin. Wir haben auch einige Veranstaltungen ausgerichtet. Die erste fand 1992 in Kassel statt. Es folgten die Preisverleihungen, oftmals verbunden mit inhaltlichen Schwerpunkten. Außerdem beteiligen wir uns an Arbeitsgruppen und den Kongressen anderer Organisationen.

Im vergangenen Jahr haben wir die Stiftung in eine Verbrauchsstiftung umwandeln können. Das bedeutet, dass die Stiftung noch bis zum Jahr 2026 existiert und arbeitet. In dieser Zeit kann und soll das Stiftungsvermögen, das sich derzeit auf knapp 100.000 EURO beläuft, verbraucht werden. Heute Nachmittag werden wir in Arbeitsgruppen arbeiten, und wir suchen dabei auch Ideen für neue sinnvolle Projekte.

So soll die Stiftung LEBENSNERV auch in den letzten zehn Jahren ihres Bestehens weiter Geschichte schreiben!


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Ergebnisse Thementisch 1: Perspektive 2026

Zunächst tauschten sich die Teilnehmenden in Kleingruppen jeweils zu zweit darüber aus, was für sie im Leben mit MS besonders hilfreich war und wo es besondere Probleme gab. Damit stellten sie sich gegenseitig vor.

Anschließend wurden Vorschläge zu der Frage gesammelt, was die Stiftung LEBENSNERV in den verbleibenden zehn Jahren ihres Bestehens initiieren solle: Die zusammengetragenen Vorschläge wurden von den Teilnehmenden der Arbeitsgruppe bewertet. Dabei kristallisierten sich zwei Schwerpunkte heraus: Zum einen stieß die Idee, ein sich selbst erhaltendes Empowerment-Netzwerk zu schaffen, auf viel Zuspruch. Zum anderen hielten die Teilnehmenden den gesamten Komplex alternativer Behandlungsmöglichkeiten für förderungswürdig. In diesem Zusammenhang wurden Musik- und Theaterangebote besonders hervorgehoben.

Dr. Sigrid Arnade


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Ergebnisse Thementisch 2: "Kognitive Störungen"

Einstieg in die Gruppenarbeit

Wenn Expertinnen arbeiten, verfliegt die Zeit: Kaum waren wir in das Thema MS und Kognition eingestiegen, hatten wir schon überzogen. Ich danke allen Beteiligten für das Teilen ihrer Expertise und dass sie die Kürzung der Pause in Kauf genommen hatten: Wo doch Pausen im Alltag mit MS so wichtig sind, wo doch Kaffee, Tee und leckerer Streuselkuchen aufgetischt waren!

MS und kognitive Störungen erzwingen fortwährendes Abstimmen von inneren mit äußeren Prozessen. Im Workshop-Raum war es beispielsweise schnell für einige zu warm. Öffneten wir das Fenster, war es wiederum für einige schnell zu laut. Zu den kognitiven Störungen gehören nämlich manchmal auch veränderte interne Wahrnehmungsfilter: Ein Geruch oder ein Geräusch breitet sich dann ungehindert im Erleben aus und übertönt alles andere. So öffneten und schlossen wir die Fenster je nach dem, was für die Anwesenden dringlicher im Vordergrund stand.

Dieser beständige Abgleich ist anstrengend. Alle Anwesenden bedauerten, das auch bei ihrer Tages- und Wochenplanung berücksichtigen zu müssen und dementsprechend nichts mehr spontan unternehmen zu können.

Auf diese Weise war von Beginn an präsent, dass innere und äußere Prozesse wichtig sind. Alles wirkt auf das kognitive Vermögen. Ist es warm oder laut, läuft auch die kognitive Verarbeitung langsamer. Bin ich verärgert, bleibt weniger Kapazität für kognitive Aufgaben.

Hier zeigte sich das Geschenk einer Expert*innengruppe: Gegenseitiges Wohlwollen, freundliches Interesse aneinander und engagierte Präsenz von allen ermöglichten unkompliziertes Öffnen und Schließen der Fenster. Schwieriges, Verstörendes, Leidvolles bekam im Austausch ebenso Platz wie Humorvolles, Gelingendes und Erträumtes.

Kognitive Störungen: Was bewegte die Anwesenden?

Es war für einige erleichternd zu vernehmen, dass ihre kognitiven Störungen auch anderen vertraut waren: „Das Wort liegt mir auf der Zunge. Aber ich kann es nicht sagen.“ - „Ich vergesse oft, was ich kurz zuvor gehört habe.“ - „Ich kann nicht mehr mehrere Aufgaben parallel bearbeiten. Ich muss eines nach dem anderen angehen.“ - „Die Tage sind zu kurz für mein Leistungstempo.“ - „Ich habe den Faden verloren. Kannst du das bitte wiederholen?“

Es ist anspruchsvoll, kognitive Störungen zu verstehen und zu erklären: „Ich schob dieses Thema immer von mir weg. Ich wollte nichts damit zu tun haben.“ Einige Anwesende berichteten, dass sie neuropsychologische Abklärungen so verletzend erlebt hatten, dass sie über mehrere Jahre das Thema MS und Kognition mieden. Eine Anwesende war von einer Neuropsychologin während eines Reha-Aufenthaltes kompetent in das Thema eingeführt worden. Das half ihr entscheidend, ihre kognitiven Störungen zu verstehen und sich mit ihnen zu befassen.

Kognitive Störungen sind Teilleistungsstörungen. Das heisst, einzelne Schritte der internen Informationsverarbeitungen sind verlangsamt oder unterbrochen. Die Grundintelligenz bleibt bestehen. Es braucht übrigens ein tüchtiges Maß an Intelligenz, um mit kognitiven Störungen ein stimmiges Leben zu führen. Neuropsychologische Test-Serien enthalten Leistungstests mit Zeitvorgaben: Ich stoße in der Testsituation also beständig an meine Leistungsgrenze. Das ist auch ohne kognitive Veränderungen frustrierend. Mit kognitiven Veränderungen ist das oft nicht nur frustrierend, sondern auch beängstigend: „Was veranstaltet die MS mit meinem Denken?“ - „Bin ich noch normal?“ Einige Anwesende erzählten, wie sie dank Vertrautheit mit ihren Symptomen im Alltag für günstige Bedingungen sorgen.

Kognitive Störungen stören den Umgang mit kognitiven Störungen

Manchmal ist die interne Verarbeitung so strapaziert von Gefühlen, laufenden Körperprozessen und äußeren Einflüssen wie Zeitdruck, dass die interne Planungsinstanz ebenfalls zu stolpern beginnt. Auch schöne Pläne versinken dann in kognitivem Nebel, weil sich der nächste Handlungsschritt in der Vorstellung beständig auflöst. Verzweiflung, Scham und Selbstverachtung folgen und isolieren die Betroffenen. „Wie machen das andere in solchen Situationen?“ „Wie finden andere wieder zu Selbstrespekt, Selbstvertrauen und freundlichem Umgang mit sich selbst?“

Die Anwesenden vermittelten einander deutlich Respekt für der Leistung, das Unverständliche in Worte zu fassen. Ermöglicht und getragen wurden Erzählen und Zuhören durch die eindrückliche Beziehungsfähigkeit aller Anwesenden.

Kognitive Störungen stören auch in Partnerschaften

„Wenn du dich dafür interessieren würdest, dann wüsstest du das noch!“ - „Du kannst das nicht mehr wegen deinen kognitiven Störungen!“ Wie kann man da argumentieren? Beide Unterstellungen lassen einen verstummen. Es braucht eine liebevolle Partnerschaft, in der sich beide immer wieder von neuem für die Möglichkeiten und Grenzen des anderen interessieren. MS-Symptome betreffen Angehörige, Zugehörige, liebevoll Verbundene ebenfalls. Die MS-typischen Schwankungen zu verstehen und selbstverständlich ins Erleben und Verhalten einzuweben, ist für alle Beteiligten anspruchsvoll. Einige erzählten von warmen Beziehungen, in denen beide am Beziehungsteppich weben und sich an den wachsenden Mustern freuen.

Stimmige Bewegung fördert die Wahrnehmung von Positivem: Die Anwesenden betonten die Wichtigkeit von Bewegung in ihrem Alltag, beispielsweise mit der Feldenkrais-Methode, mit Atemarbeit und mit Yoga. „Damit komme ich in Berührung mit meinem Kern. Mit dem, was von den kognitiven Störungen nicht tangiert ist.“

Kognitive Störungen: Wo sind Forschungslücken?

Was bewährt sich im Alltag mit kognitiven Störungen? Die Anwesenden interessierte brennend, was andere mit kognitiven Störungen erleben und wie sie sich in spezifischen Situationen verhalten. Wie bringe ich einen Kunden oder Klienten unauffällig dazu, seinen Auftrag zu wiederholen? Wie finde ich in einem wichtigen Gespräch den verlorenen roten Faden? Wie bitte ich um Unterstützung, ohne blöd dazustehen? Und dann beschäftigte die Anwesenden auch: Wie fördere ich freundlichen Umgang mit mir selbst? Was mache ich mit schwierigen Gefühlen, mit meiner Trauer um Verlorenes, mit meiner Wut über Einschränkungen, mit meiner Angst vor situativen Unmöglichkeiten? Wie soll oder kann man über kognitive Störungen sprechen?

Für alltäglichen Umgang mit sich und Vertrauten bevorzugten die Anwesenden den Begriff Teilleistungsstörungen. Wie man bei der Arbeit, mit Fremden und mit medizinischen Fachpersonen dieses MS-Symptom benennen kann, blieb aus Zeitgründen undiskutiert. Die Anwesenden verschwiegen bei der Arbeit ihre kognitiven Störungen. Die für das eigene Verständnis hilfreichen Ausdrücke wie „verlangsamte Informationsverarbeitung“ hinterlassen bei Außenstehenden einen falschen Eindruck.

Was macht Neuropsychologische Test-Reihen hilfreich für Betroffene? Zum einen benötigen Betroffene vorgängig Informationen über Konzept und Aufbau psychologischer Leistungstests. Während der Testung würde die Anwesenheit einer Fachperson unterstützend wirken. Die Resultate wünschten die Anwesenden mit Blick auf deren Bedeutung für Alltag und Therapie und in Verbindung mit ihren Ressourcen erläutert zu bekommen. Wie schult man Neurospsycholog*innen und Ergotherapeut*innen entsprechend? Wie kommen Informationen zu den Betroffenen? Was bewährt sich tatsächlich in der Praxis?

Kognitiven Störungen: Wunsch nach Austausch

Der Austausch in Gruppen ist für viele Betroffene hilfreich, entlastend und anregend. Dafür braucht es Zeit: An einem Wochenende oder in moderierten Gruppen, die sich mehrmals treffen. Teilnehmende solcher Veranstaltungen könnten miteinander Formulierungen und Verhaltensweisen erproben, konkrete Anliegen entwickeln und deren Umsetzung anstoßen. Eine Gruppe schenkt über die geteilte Präsenz Energie: So sind wir nach einem reichen Vormittagsprogramm und anschließendem Mittagessen nicht etwa in eine Siesta abgetaucht, sondern sammelten in 90 Minuten die beschriebene Fülle an Erfahrungen und Anliegen. Trotz und mit MS, trotz und mit kognitiven Teilleistungsstörungen. Noch einmal herzlichen Dank allen Teilnehmenden!

Dr. Annette Kindlimann


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Ergebnisse Thementisch 3: Leben mit Schmerz

Schmerz ist ein komplexes Thema. Untersuchungen sprechen von bis zu 80 Prozent der MS-Betroffenen, die im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung Schmerzen entwickeln. Dass Schmerzen zum Alltag vieler MS-Betroffener gehören, ist leider bereits eine der wenigen sicheren Erkenntnisse. Der Rest ist häufig eine Frage von "Trial und Error". Das geht bei der Schmerzursache los: Hier gibt es im Wesentlichen zwei Auslöser.

1. Neuropathischer Schmerz: Er entsteht durch die Schädigung schmerzleitender Nerven oder schmerzverarbeitender Nervenzellen. Das heißt: es gibt keinen äußeren Reiz, der Schmerzen auslöst sondern das schmerzleitende System selbst ist an der einen oder anderen Stelle beschädigt. Ein für die MS typischer Schmerz.

2. Nozizeptive Schmerzen: Sie werden durch Schmerzrezeptoren etwa in Muskeln, Bindegewebe, Sehnen und inneren Organen durch entsprechende Gewebeschäden und –entzündungen ausgelöst und spielen mit zunehmender Krankheitsdauer häufig eine größere Rolle. Schlecht angepasste Hilfsmittel, Spastiken, einseitige Lähmungen oder Bewegungseinschränkungen und dadurch in der Folge falsch belastete Gelenke und Muskulatur sind Beispiele klassischer nozizeptiver Schmerzen.

Eine eindeutige Abgrenzung ist nicht immer möglich. Das verlangt den Betroffenen viel ab und ist auch für die behandelnden Ärzt*innen eine große Herausforderung. Da chronische Schmerzen einem Zusammenspiel von körperlichen, seelischen und sozialen Faktoren unterliegen, gilt es diese abzuklären. Wichtig ist auch, wie jeder Betroffene mit dem Schmerz umgeht, welchen Weg er für sich als den besten definiert, um so anhand seines subjektiven Schmerzempfindens eine Linderung zu erzielen.

Optimalerweise sollte dabei auf einen sogenannten multimodalen Ansatz geachtet werden, das heißt die Kombination mehrerer auf die individuelle Situation abgestimmter Therapiestrategien: Medikamente, nicht-medikamentöse, physikalische und psychologische Verfahren. Der Erfolg hängt nicht zuletzt davon ab, mit welcher Strategie es Betroffenen gelingt, körpereigene schmerzreduzierende oder schmerzausblendende Kräfte zu aktivieren, um eine subjektive Verbesserung zu erzielen.

Denn grundsätzlich gilt: Heilen im Sinne von Verschwinden des Schmerzes ist äußerst selten. Das betrifft ebenfalls den Einsatz schmerzmodulierender Medikamente wie Antiepileptika, Antidepressiva, Natriumkanalblocker oder Opiate. „Versuch und Irrtum“ scheint auch hier das Prinzip, starke Nebenwirkungen mitunter inbegriffen. Und: Bei 20-40 Prozent der Patienten bleibt der erwünschte Effekt - eine Schmerzreduktion auf ein erträgliches Maß ganz aus. Nicht wenige Betroffene blicken deshalb derzeit interessiert auf den Deutschen Bundestag, der in einigen Wochen über ein Gesetz abstimmt, das deutschen Patienten Zugang zu Cannabistherapien ermöglichen würde. Vielleicht eine weitere Option, um chronischen Schmerzpatienten eine höhere Lebensqualität zu eröffnen.

Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, ist deshalb aber nicht weniger wahr: Hilfe zur Selbsthilfe kann spürbare Verbesserungen erzielen. Dabei sollte die Psyche in die Behandlung chronischer Schmerzen ebenso einbezogen werden wie der Körper. Welche Gewohnheiten verstärken den Schmerz, wie kann ich gesundheitsförderndes Verhalten lernen? Psychologische Verfahren, Entspannungstechniken und spezielle Patient*innenschulungen unter Einbindung des PEER-Gedankens sind hier wichtige Eckpfeiler.

Fazit: Das eine objektiv beste Rezept für alle gibt es - leider - nicht. Es gibt aber eine zentrale Frage, die sich Betroffene auf der Suche nach Linderung stellen sollten: Was steigert meine Lebensqualität? Aus dieser einen Frage ergeben sich eine Reihe von anderen Fragen, zum Beispiel welche/r Therapeut*in ist gut für mich, wo gibt es eine geeignete Patient*innenschulung, kommen Medikamente in Frage, wenn ja, welche? Welche Behandlungsangebote im psychosozialen Bereich können sinnvoll sein? Was bringen mir Bewegung und Physiotherapie und wo finde ich für mich geeignete Angebote oder auch nur: wie kann ich wieder besser schlafen?

Möglicherweise stellt man für sich auch fest, dass die intensive Beschäftigung mit dem Thema Schmerz diesen eher schlimmer macht und eine Steigerung der Lebensqualität dadurch erreicht wird, indem man seinen Alltag möglichst wenig daran anpasst.

Und ja, natürlich wäre es wünschenswert, es gäbe mehr interdisziplinär arbeitende Ärzt*nnen und Therapeut*innen, die Betroffene auf diesem Weg begleiten. Aber angesichts eines gewinnorientierten Gesundheitssystems ist dies bedauerlicherweise wohl nicht zu erwarten.

Kristian Röttger


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Ergebnisse Thementisch 4: MS und Empowerment

Der Input für die TeilnehmerInnen bestand aus einem Vortrag mit der Überschrift: "Empowerment – was ist das?" und einigen kurzen Übungen zur Steigerung des Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls. Die Ergebnisse der vorgegebenen Fragestellungen sahen wir folgt aus:

Welche Angebote gibt es bereits?

Wo bestehen Forschungslücken?

Die TeilnehmerInnen des Thementisches Empowerment wünschen sich:
Wünsche an LEBENSNERV und Wünsche im Allgemeinen:

Kerstin Wöbbeking / Ines Spilker


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Spendenlauf: Wunde Füße fürs Empowerment MS-Betroffener

Sie haben es tatsächlich gewagt, und sie haben es tatsächlich geschafft: Fünf Arbeitskolleg*innen der Barclaycard Bank in Hamburg sind zu Fuß von Hamburg nach Berlin gelaufen und haben davor, dabei und danach Spenden für die Stiftung LEBENSNERV gesammelt. Die Idee stammte von Marlies Voigt und René Schmidt. Sie konnten ihre Kolleg*innen Natalie Clausen, Philipp Krah und Timo Schmalfeld begeistern, so dass die Gruppe einen Teil ihres Jahresurlaubs investierte und am 22. August in Hamburg startete.

Die Wandersleute marschierten ostwärts, hatten teils mit großer Hitze zu kämpfen, insgesamt aber Glück mit dem Wetter, da es trocken blieb. Natalie Clausen wechselte nach einer Weile aus der Wandergruppe in den Begleitservice. Das heißt, dass sie das Auto fuhr, um das Gepäck von einer Unterkunft zur nächsten zu befördern.

Die ganze Zeit über trugen die Wanderer abwechselnd die Projektfahne, und sie sammelten unterwegs weiter Spenden. Bereits geraume Zeit vorher war ein Spendenaufruf mit detaillierten Informationen zu dem Projekt auf betterplace.org veröffentlicht worden, so dass Spenden eingingen.

Muskelkater verspürten wohl alle Wanderer hin und wieder, vor allem Marlies Voigt kämpfte darüber hinaus mit wunden Füßen. Aber gut verbunden ließ auch sie es sich nicht nehmen, immer weiter zu laufen.

Und so erreichte die Gruppe am Samstag, 3. September gegen 11.00 Uhr bei immer noch lachender Sonne ihr Ziel, das Brandenburger Tor. Dort wurde sie von Bekannten, einigen Freund*innen der Stiftung LEBENSNERV und Berliner Kolleg*innen begrüßt, beklatscht und gefeiert. Die Läufer*innen konnten auch einen Scheck über 4.865 EURO an die Stiftungsvorsitzende, Dr. Sigrid Arnade, übergeben.

Aber damit nicht genug: Nachdem die Wanderer sich halbwegs von den Strapazen erholt hatten, sammelten sie weiter. Ende September beim jährlichen Oktoberfest des Betriebsrats konnte die 5.000er-Marke geknackt werden. Nun haben die Initiator*innen eine vorher in Aussicht gestellte Verdoppelung des Spendenbetrags durch die Bank beantragt. Wenn alles so kommt, wie es aussieht, wird die Stiftung LEBENSNERV durch diese Aktion eine Spende in Höhe von rund 10.000 EURO erhalten, wofür wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchten!

Wir planen, mit dem Geld Empowerment-Kurse für MS-Betroffene aus Hamburg und Umgebung anzubieten. Mit den konkreteren Planungen beginnen wir, sobald wir die genaue Spendensumme kennen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden wir in dieser Zeitschrift weiter über das Projekt informieren.

Heute geht nochmals ein herzlicher Dank verbunden mit unseren tiefen Respekt für diese großartige Leistung an Marlies Voigt, René Schmidt, Natalie Clausen, Philipp Krah und Timo Schmalfeld!!!

Ein Video der Scheckübergabe und weitere Videos und Fotos vom Lauf gibt es unter https://www.facebook.com/MSMeilenstein-544391135721124/


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Neue Bücher

Dr. Terry Wahls: Multiple Sklerose erfolgreich behandeln – mit dem Paläo-Programm. VAK Verlags GmbH, Kirchzarten 2015, 2. Auflage, 488 S., ISBN: 978-3-86731-159-5, 24,95 Euro

Wieder eine neue Diät, wieder ein neues Versprechen von Heilung. Wie viele Diäten habe ich in meiner über 30-jährigen Geschichte mit MS schon ausprobiert? Wie oft habe ich schon gelesen: „Sie werden wieder gesund.“ Gemeint war: „Sie werden wieder gesund, wenn Sie meine Ratschläge konsequent befolgen“.

Ich habe gar nichts gegen Diäten und andere alternative Behandlungsformen, solange sie nicht schaden. Ich habe aber etwas dagegen, wenn behauptet wird, das Wundermittel gegen MS gefunden zu haben oder wie in diesem Fall, ein Allheilmittel für ganz viele Krankheiten. Reicht es nicht, die eigene Geschichte und die einiger anderer zu beschreiben und zu enden mit „wenn Sie wollen, probieren Sie es aus“. Stattdessen steht auf Seite 91 „Sie werden wieder gesund“ und das halte ich für ein unlauteres Spiel mit den Hoffnungen und Ängsten von Menschen, die mit einer unheilbaren Krankheit leben, die sie teilweise massiv beeinträchtigt. Dazu passt auch die eigentlich unübliche Nennung des Doktortitels auf dem Buchtitel – da werde ich gleich skeptisch.

Aber dem Charme des Buches konnte auch ich mich zunächst nicht entziehen: Da berichtet eine US-amerikanische Ärztin von ihrer eigenen Erkrankung an MS, wie sie die Symptome zunächst ignorierte, wie es ihr immer schlechter ging und sie schließlich auf einen Rollstuhl mit Liegemöglichkeit angewiesen war. Sie stellte ihre Ernährung radikal um und ihre Symptome verbesserten sich. Zum Beweis zieren zwei Fotos die Innenseite des Umschlags: Eines zeigt die Autorin im Rollstuhl, eines ein Jahr später ohne Rollstuhl mit Fahrrad.

Die Botschaft ist einfach: Terry Wahls plädiert für eine Ernährung, die der vermuteten Ernährungsweise unserer Vorfahren in der Steinzeit nachempfunden ist, also ohne künstliche oder behandelte Lebensmittel. In drei Stufen sollen die Leser*innen die Ernährungsumstellung realisieren, damit der Körper sich daran gewöhnen kann.

Vegetarische Ernährung wird von Terry Wahls abgelehnt, stattdessen empfiehlt sie neben Fleisch- und Fischverzehr den aus meiner Sicht durchaus zweifelhaften Genuss von Innereien. Gleichzeitig soll die Zufuhr von Kohlenhydraten soweit reduziert werden, dass der Energiebedarf durch Fettabbau gedeckt wird und die Betroffenen eine ernährungsbedingte Ketose1 entwickeln, die sie durch den Nachweis von Ketonen im Urin verifizieren können.

Spätestens an dieser Stelle machte meine zwischenzeitliche Faszination wieder der anfänglichen Skepsis Platz. Schließlich habe ich in meiner Zeit als Tierärztin in den 80er Jahren Kühe mit Ketose behandelt, um nicht nur ihre akuten Symptome wie Appetitlosigkeit zu lindern, sondern vor allem, um Leberschäden vorzubeugen.

Jede und jeder muss jedoch selber entscheiden, wie er oder sie sich ernähren will. Wer es mit dem Paläo-Programm (so hat die Autorin die von ihr bevorzugte Diät genannt) probieren will, findet in diesem Buch eine detaillierte, leicht lesbare Anleitung mit vielen Rezepten, Nahrungsmittellisten und Wochenplänen.

Außerdem werden in dem Buch weitere Themen behandelt: Ausführlich geht Wahls auch auf die Reduktion von Umweltgiften (dem widerspricht die Empfehlung, Innereien zu essen, da diese vor Umweltgiften nur so strotzen), die Bedeutung von Sport, Methoden der Alternativmedizin sowie den Umgang mit Belastungen und Stress ein. Aufgelockert wird der Text durch viele Erfahrungsberichte. Ein Literatur- und Stichwortverzeichnis runden das Werk ab.

Wer sich auf das Experiment einlassen will, das Paläo-Programm auszuprobieren, kann dieses Buch gut dazu nutzen. Er oder sie wird bestimmt Pfunde verlieren, sollte sich aber meiner Ansicht nach engmaschig internistisch begleiten lassen.

Si


Norman Doidge: Wie das Gehirn heilt. Neueste Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft. Campus Verlag Frankfurt / New York 2015, ISBN: 978-3-593-39477-0 (Printausgabe), 477 S., 29,99 Euro (auch als ebook erhältlich)

Früher ging man davon aus, das Gehirn könne sich im Vergleich zu anderen Organen nicht selbst reparieren und einmal verlorene Funktionen seien nicht wiederherzustellen. Doch der Psychiater und Psychoanalytiker Norman Doidge, der an den Universitäten von New York und Toronto forscht, behauptet das Gegenteil: Gerade die Kompliziertheit des Gehirns eröffne einen Weg zur Selbstheilung und zur Verbesserung seiner Funktionsweise. In leicht lesbarer Form, wie es typisch für viele US-amerikanische Wissenschaftspublikationen ist, erzählt Doidge Geschichten und Erfahrungsberichte über die Neuroplastizität. Seit im Jahr 2000 der Nobelpreis in der Kategorie Physiologie/Medizin an Eric Kandel für den Nachweis verliehen wurde, dass die Verbindungen zwischen den Nerven beim Lernen zunehmen, stehen die sogenannten "Neuroplastiker" nicht mehr unter dem Zwang, ihre Existenzberechtigung beweisen zu müssen, sondern können sich der therapeutischen Anwendung widmen. Dies geschieht eben nicht durch Medikamente, sondern durch Licht, Schall, Vibrationen, Elektrizität und Bewegung. Diese Energieformen, so der Autor, sorgen für einen natürlichen, nicht-invasiven Zugang zum Gehirn, der über die Sinne und den Körper geht und die Selbstheilungskräfte des Gehirns wachruft. Doidge berichtet aus der Praxis unter anderem am Beispiel von chronischen Schmerzen, Schlaganfall, Schädel-Hirntrauma, Parkinson, Multiple Sklerose, Lern- oder Wahrnehmungsstörungen. In manchen Fällen konnte eine Erkrankung vollkommen geheilt werden, in anderen Fällen konnten schwere oder mittelschwere Krankheiten gemildert werden. Dabei nehmen die Patient*innen immer eine aktive Rolle ein: Es erfordert den aktiven Einsatz der ganzen Person für sich selbst: Geist, Gehirn, Körper. Ein überaus spannender Ansatz, der vermutlich noch viele Überraschungen in der Zukunft bereithalten wird.

HGH


Anja Krystyn: Die Beine der Spitzentänzerin. Roman, Der Verlag Wien 2015. ISBN: 978-3-9502916-5-0, 244 S. 19,90 Euro

Anja Krystyn ist Ärztin und Autorin gesellschaftpolitischer Texte und Bühnenstücke. Seit ihrer Kindheit ist sie an MS erkrankt und befasst sich mit den psychosozialen Aspekten der Krankheit. Im vorliegenden Roman geht es im Kern um folgende Geschichte: Als die schöne und erfolgreiche Nora Kowalski , die im Management eines Pharmakonzerns arbeitet, an Multipler Sklerose erkrankt, bricht ihre Welt zusammen. Sie glaubt nicht an den "Schicksalsschlag vom Himmel" und sucht nach den Ursachen der Krankheit. War die heile Welt eine Illusion? Was steckt hinter den Regeln unserer Erfolgs- und Leistungsgesellschaft? Die Suche nach dem rettenden Funken wird für Nora zum Wettlauf mit der Zeit. Hier eine Mini-Leseprobe:

Das Seiltanztheater ist ein Ort der Genesung geworden. Seit zwei Jahren kommt das Publikum, um im schöpferischen Ausdruck die Antworten auf die Symptome des Körpers zu finden. Symptome, mit denen die Seele sich in Welten flüchtet, die wir nicht verstehen. Auf der Bühne öffnen sich die Sinne für die bedrohliche Wahrheit. Unsere Zuschauer versuchen, ihr zu folgen. Drohungen von Angehörigen lassen wir an uns vorüberziehen, ebenso verdächtige Postsendungen...Was wie ein Märchen aus einer Talkshow klingt, war für uns alle harte Arbeit. Mein neues Leben ist im Vergleich zum Alten wacklig und unsicher. Die Beine gewinnen täglich an Gleichgewicht - ein Widerspruch? Ich habe die Arroganz der Wissenden gegen die Offenheit der Zweifelnden eingetauscht. Das Neue, das Unmögliche in meinen Gedanken will erkundet werden. Die eingelernten Denkmuster hatten das Einfache verdrängt. Es traut sich zurück, leise und unspektakulär, ein duftender Nebel, der sich beim lärmenden Wind der Umwelt sofort verzieht. Ich verbringe viele Stunden allein und höre auf diese innere Stimme. Mit jedem Tag wird sie fester und eindringlicher. War sie es, die mich gelähmt und gezwungen hat, stillzuhalten? Je mehr ich diesem leisen Ton vertraue, umso sicherer gehen meine Beine.

Ein achtminütiges Youtube-Video aus einer Lesung von Anja Krystyn steht unter https://youtu.be/8BDAGGzRNu4

HGH


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