FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 1. Halbjahr 2017

Inhaltsverzeichnis

Editorial
MS: Alltag mit kognitiven Störungen
Note ungenügend! Neurologen umgehen Qualitätsstandards bei der Diagnoseübermittlung „Multiple Sklerose“
Doktor Internet? Wie hilfreich ist das Netz bei der Patient*innen-Information?
DVD - Multiple Schicksale
Aufbruch zu einer neuen Medizin - PNI-Tagung in Innsbruck
Multikulti in der Selbsthilfe: AOK will Gesundheitskompetenz von Zuwanderern stärken
Michael de Ridder: Welche Medizin wollen wir?
Schwör 2.0
Erfolgreiche Spendenaktionen für LEBENSNERV
Strukturreform in der ambulanten Psychotherapie
Anmeldung - MS: Alltag mit kognitiven Störungen
Hauptstadtkongress Psychodynamik in Berlin

Liebe Leserinnen und Leser,

erinnern Sie sich an die letzte Ausgabe von FORUM PSYCHOSOMATIK? Wir berichteten ausführlich über das Symposium, das anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Stiftung LEBENSNERV im September 2016 stattgefunden hat. Daraus sind neue Aktivitäten erwachsen: Unter dem Titel „MS: Alltag mit kognitiven Störungen“ laden wir im November 2017 zu einem Wochenend-Workshop nach Berlin ein mit Dr. Annette Kindlimann aus der Schweiz. Weitere Informationen dazu finden Sie auf den nächsten Seiten. Nach unseren Erfahrungen geht Frau Kindlimann sehr wertschätzend mit Menschen um, die mit diesem sehr verbreiteten MS-Symptom leben. Dazu passt eigentlich die eher am Defizit ausgerichtete Bezeichnung „kognitive Störungen“ nicht. Uns ist aber auch nichts Besseres eingefallen. Immerhin muss ja auch deutlich werden, worum es geht. Wenn Sie also gute Ideen zu einer weniger etikettierenden und dennoch eindeutigen Bezeichnung haben, sind uns diese sehr willkommen.

Eine weitere Aktivität, die als Folge des Symposiums zu bezeichnen ist, war das Benefizkonzert zugunsten der Stiftung LEBENSNERV, das von Prof. Dr. Patrick Eichenberger am 2. April diesen Jahres im Rahmen eines Hauskonzertes in Berlin organisiert wurde.

Anderes Thema: Seit Gründung der Stiftung kritisieren wir die schlechte Ärzt*innen – Patient*innen – Kommunikation. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere an den Destruktivin-Preis, den wir vor Jahren für den verheerendsten Killersatz vergeben haben. Aber anscheinend ändert sich hier nichts zum Besseren, wie eine neuere Studie ergeben hat. Dennoch sollten wir und Sie nicht resignieren, sondern weiter daran arbeiten, dass sich in dieser entscheidenden Frage etwas Grundsätzliches verbessert.

Nicht nur die Kommunikation zwischen Ärzt*innen und Patient*innen muss sich verändern, sondern die gesamte Medizin – auch ein Dauerthema der Stiftung LEBENSNERV. Und auch zu dieser Frage finden Sie neue Anregungen in dieser Ausgabe der Stiftungszeitschrift.

Nun wünsche ich Ihnen eine erholsame Sommerzeit und uns allen, dass wir alle und die übrigen Mitbürger*innen im September richtig wählen!

Ihre

Dr. Sigrid Arnade


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MS: Alltag mit kognitiven Störungen

Einladung zum Workshop mit Dr. Annette Kindlimann vom 3. bis 5. November 2017 in Erkner (bei Berlin)

„Wenn du nur wolltest, könntest du dich schon erinnern!“

„Man sieht gar nichts von deiner MS. Da hast du ja Glück gehabt!“

"Meine Freundin sagt, ich wirke so unbeteiligt in letzter Zeit.“

„Manchmal verliere ich in einem Gespräch den Faden. Das ist schlimm für mich."

"Das Wort liegt mir auf der Zunge, doch kann ich es nicht sagen. Ich muss darum herum sprechen. Fünf Minuten später ist es dann da."

Kennen Sie derartige Aussagen? MS kann die Wahrnehmung, die Verknüpfung von Informationen und das Erinnern beeinträchtigen. Das sind kognitive Störungen. Sie sind nicht sichtbar und behindern den Alltag von Betroffenen oft massiv.

Kognitive Störungen sind Teilleistungsstörungen. Das heißt, einzelne Prozesse der Informationsverarbeitung sind verlangsamt oder unterbrochen. Die Intelligenz der Betroffenen ist unversehrt.

Bekannt ist, dass mindestens zwei Drittel der MS-Betroffenen mit kognitiven Störungen leben müssen. Nur wenig weiss man darüber, wie Betroffene die Störungen erleben und wie sie im Alltag damit zurecht kommen.

Im Workshop erörtern wir, was sich für Sie im Umgang mit kognitiven Störungen bewährt. Wir haben Zeit, Strategien zu entwickeln und auszuprobieren. Ich biete Ihnen aktuelle Informationen zum Thema an und präsentiere alltagstaugliche Modelle.

Neben dem Selbstverständnis der Betroffenen geht es auch darum, wie wir mit Nicht-Betroffenen über kognitive Störungen sprechen. Was sagen Sie Ihrer Familie, Ihren Freundinnen, Arbeitskollegen oder Vorgesetzten? Wie informieren Sie Fachpersonen im Gesundheitswesen?

Anliegen und Anregungen aus dem Workshop können wir anschließend den Verantwortlichen der Stiftung LEBENSNERV übergeben und so einem breiten Publikum zugänglich machen.

Die Idee für dieses Wochenende entstand an der Jubiläumsfeier der Stiftung LEBENSNERV im Herbst 2016. Am Thementisch "Kognitive Störungen" waren wir uns einig, dass wir uns mehr Zeit für Austausch und das Kennenlernen von Anliegen nehmen möchten.

Im Rahmen meiner Doktorarbeit vertiefte ich mich mit einer Gruppe MS-Betroffener in Zürich ins Thema "Alltag mit kognitiven Störungen". Unsere Erkenntnisse stehen als Informationsbroschüre zur Verfügung: https://www.freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:10201/datastreams/FILE3/content

Diese wurde im "FORUM PSYCHOSOMATIK" beschrieben. Darum wurde ich eingeladen, an der Jubiläumsfeier einen Thementisch zu moderieren. Ich freue mich sehr, die angeregten Gespräche mit Ihnen neu aufzunehmen.

Herzliche Grüße


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Note ungenügend!

Neurologen umgehen Qualitätsstandards bei der Diagnoseübermittlung „Multiple Sklerose“

Wie wichtig eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation für die Lebensqualität und den Therapieerfolg bei Patienten ist, haben Studien längst nachgewiesen. Insbesondere beim Überbringen einer schlechten Nachricht, wie etwa der Diagnose Multiple Sklerose (MS), sollten die Rahmenbedingungen stimmen, um Traumata vorzubeugen. Umso tragischer und verwunderlicher sind nun die Ergebnisse einer Studie, die nachweist, dass im Fall der Diagnose MS bestehende Qualitätsstandards seitens der Neurologie in vielen Fällen nicht umgesetzt werden. Die Diagnose MS, eine bisher unheilbare chronische Erkrankung des Zentralen Nervensystems, hat gravierende Folgen für das Leben der Betroffenen. Konflikte mit Familie, Partner oder am Arbeitsplatz sind vorprogrammiert. Nicht selten rutschen Betroffene in Armut oder Depression ab. Das traurige Bild der Krankheit MS in der Öffentlichkeit tut sein Übriges dazu.

Die Studie „Kommunikation bei Multipler Sklerose“ (KoMS) des Fachbereich Public Health an der Universität Bremen hat knapp 200 MS-Patient*innen aus dem ganzen Bundesgebiet dazu befragt, wie sie das Gespräch mit ihrem Arzt bei der Diagnoseübermittlung und bei der Therapieplanung wahrgenommen haben. Das Ergebnis: bei der Diagnoseübermittlung wurde nicht immer Privatsphäre gewahrt, so gaben mehr als 30% der Befragten an, dass ihnen die Diagnose im Mehrbettzimmer, also im Beisein von Bettnachbarn übermittelt wurde. Einige Patient*innen haben nur durch Mithören eines Gesprächs über sie von der Diagnose MS erfahren. Darüber hinaus fand das Gespräch häufig in einem sehr kurzen Zeitrahmen statt, 19% der Befragten gaben an, dass das Gespräch nur bis zu zehn Minuten dauerte, bei 42% war die Diagnose gar in fünf Minuten oder weniger übermittelt. Auch die empathischen Fähigkeiten des Arztes wurden häufig als mittelmäßig oder als kaum vorhanden befunden, so dass 45% der Befragten die Diagnoseübermittlung mit den Schulnoten als „mangelhaft“ oder „ungenügend“ bewerteten.

Informationen über die Erkrankung wurden bei der Mehrheit der Befragten überhaupt nicht oder kaum ausreichend gegeben. Ähnlich verhält es sich beim Thema „Therapieplanung“, die, obwohl dazu keine Notwendigkeit besteht, bei einem Drittel der Befragten noch am selben Tag wie die Diagnoseübermittlung erfolgt ist. Die Befragten hätten sich auch hier mehr Informationen gewünscht, wurden also nicht umfassend aufgeklärt. Die KoMS-Studie macht deutlich, dass Neurologen dringend im Bereich Empathie und Kommunikationsfähigkeiten hinzulernen müssen. Damit würden sie nicht nur die Qualität der Diagnoseübermittlung und Therapieplanung bei MS verbessern, sie würden auch helfen, den Ruf der Neurologie zu verbessern und das Leben mit MS für die Patienten nicht noch schwerer zu machen. Eine Verbesserung der Aus- und Weiterbildung von Neurologen ist dafür ebenso dringend erforderlich wie die Verankerung von Qualitätsstandards der Arzt-Patienten-Kommunikation in der klinischen Leitlinie.

Die Ergebnisse der Studie lassen sich hier nachlesen: http://tims-trier.de/ergebnisse-der-koms-studie-veroeffentlicht/

Kurzkommentar von Dr. Jutta Scheiderbauer zur KoMS-Studie:

Es ging um die Qualität der Diagnosemitteilung aus Sicht der Betroffenen.&xnbsp; Zur Methodik: Die Gesundheitswissenschaftler der Uni Bremen hatten diese Studie als konventionelle Umfrage-Studie konzipiert, nicht anonym, sondern pseudonymisiert, also mit Einverständniserklärung der Teilnehmer und Antworten auf Papierfragebogen via Post. Dadurch wurde sie methodisch höherwertiger als eine einfache anonyme Onine-Umfrage. Zudem war das Einzugsgebiet bundesweit. Die Originalarbeit, eine gemeinsame Masterarbeit zweier Bremer Studentinnen des Fachbereichs, beschreibt das Vorgehen und den Forschungsansatz sehr klar. Die Ergebnisse sind erwartungsgemäß unschön. Der Wert für die Selbsthilfe liegt besonders darin, dass wir ab jetzt eine wissenschaftliche Studie zitieren können, die die Defizite im kommunikativen Bereich belegt.



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Doktor Internet? Wie hilfreich ist das Netz bei der Patient*innen-Information?

Interview mit Dr. Jutta Scheiderbauer

Viele Menschen haben sich längst daran gewöhnt, sich ihre Fragen durch das Internet beantworten zu lassen. Spezielle Medizin-Homepages liefern sogar Antworten, wenn man Diagnosen eingibt. Was halten Sie davon?

Für Betroffene ohne medizinische Vorkenntnisse ist eine Einordnung von Internetinformationen zur MS sehr schwer, und so besteht die Gefahr, dass hier Ängste unnötig verstärkt werden oder Zusammenhänge falsch hängen bleiben. In einer idealen Welt würde ich es favorisieren, dass man die wesentlichen Informationen von seinem behandelnden Arzt aufnimmt statt aus Internetseiten. Doch leider verläuft die Informationsweitergabe von Neurologen an MS-Betroffene heutzutage meist nicht zufriedenstellend, sowohl was das „wie“, die Art der Arzt-Patienten-Kommunikation, als auch das „was“, die Aussagekraft und Ausführlichkeit, angeht. Die KoMS-Studie („Kommunikation bei Multipler Sklerose“) hat aktuell ergeben, das bei 42% der Studienteilnehmer die Diagnoseübermittlung nur maximal fünf Minuten gedauert hatte, bei 30% im Mehrbettzimmer in Gegenwart unvertrauter Bettnachbarn stattfand und dass 45% dem Arzt die Noten „mangelhaft“ oder „ungenügend“ für dieses Gespräch ausstellten. (Lesen Sie dazu auch den Beitrag über die KoMS-Studie in dieser Ausgabe, d. Red.). Mit so einem Erlebnis gleich zu Erkrankungsbeginn ist es sehr gut nachvollziehbar, dass man lieber nach anderen Informationsquellen greift, zu denen man Zugang hat. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass MS-Symptome im Internet richtig gedeutet werden?

Von einzelnen Symptomen via Internetsuche auf das Vorliegen einer bestimmten Krankheit zu schließen, ist medizinisch nicht möglich. Ganz prinzipiell können Symptome über das Internet nicht sicher zugeordnet werden, weil zur Diagnostik einer Erkrankung immer ein komplexes Gesamtbild gehört, das die Krankengeschichte, die Durchführung von Untersuchungen und den klinischen Verlauf mit einschließt. Aus der Ferne kann man allenfalls einen Verdacht äußern, der der weiteren ärztlichen Abklärung bedarf.

Welche Informationen müssten Neubetroffenen im Arzt-Patienten-Gespräch Ihrer Ansicht nach gegeben werden?

Neben der Übermittlung der Diagnose sind es altbekannte Informationen zur Prognose, die im Arzt-Patienten-Gespräch zur Zeit nur stiefmütterlich abgehandelt werden. So werden gegenüber Neuerkrankten die möglichen MS-Verläufe, wenn überhaupt, eher oberflächlich besprochen, bevor dann sofort zur Therapie übergegangen wird. Vielen Betroffenen ist deshalb gar nicht bewusst, dass Untersuchungen zum Spontanverlauf gezeigt haben, dass die meisten Betroffenen im Verlauf ihrer MS auch unbehandelt längere Phasen ohne Schübe und ohne Fortschreiten der Behinderung erleben werden, dass die Schubhäufigkeit mit Dauer der Erkrankung ohnehin abnimmt, und dass stabile Phasen auftreten, sich Behinderungen auch zurückbilden können.

Therapeutische Optionen müssten in Form so genannter evidenzbasierter Patienteninformationen erklärt werden, die Wirkungen und Nebenwirkungen von Immuntherapien in einer Art und Weise gegenüberstellen, dass man die Wahrscheinlichkeit eines individuellen Nutzens für die eigene Situation ermessen kann. Speziell für die MS-Immuntherapien erstellte, evidenzbasierte Patienteninformationen, die diesen Namen auch verdienen, wurden in Deutschland von der MS-Ambulanz des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf unter der Federführung von Prof. Christoph Heesen erstellt.

Ganz wesentlich wäre es, Betroffene gleich zu Beginn über die essentielle Bedeutung von Sport und Krankengymnastik für die Rückbildung von Beeinträchtigungen sowie Vorbeugung beziehungsweise Kontrolle von Fatigue und Depression aufzuklären.

Wenn der Nutzen einer Therapie belegt werden soll, muss der Hersteller eines Medikamentes zahlreiche Studien vorlegen. Kann ich die auch im Internet vorgelegten Studien eigentlich selbst gut genug interpretieren, um mir ein eigenes Bild machen zu können?

Medizinische Laien haben zu den eigentlichen Informationsquellen, den Veröffentlichungen in medizinischen Fachzeitschriften, meist gar keinen Zugang. Klinische Studien zu interpretieren erfordert wissenschaftsmethodische Kenntnisse, woran auch viele Ärzte schon scheitern. Besonders Internetdarstellungen mit kommerziellem Hintergrund, die Seiten pharmazeutische Hersteller genau wie die Seiten über „alternative“ Therapieverfahren, argumentieren oft mit wissenschaftlichen Trugschlüssen und geben gerne Studien an, die angeblich den Nutzen der jeweiligen Therapieempfehlung belegen können, ohne jedoch auf die methodischen Beschränkungen der Studien hinzuweisen.

Unzählige Seiten befassen sich mit Multipler Sklerose. Woran erkennt man eine verlässliche Quelle?

MS-Therapien, und zwar sowohl die immunmodulatorischen Medikamente als auch Therapien der „alternativen“ Angebote, sind ein Riesengeschäft geworden. Leider ist es meist nicht offensichtlich, ob eine Meldung aus kommerziellen Gründen lanciert worden ist. Die Methoden, einen falschen Anschein von Neutralität zu vermitteln, sind ausgefeilt und trickreich. Entsprechendes gilt für zahlreiche Webseiten, die alternative Verfahren anbieten. Im Grunde muss man sich auf einem Gebiet schon sehr gut auskennen, um die Fallstricke zu erkennen. Selbst wenn eine Quelle eigentlich als seriös gilt, wie zum Beispiel medizinische Fachzeitschriften oder Patientenorganisationen, schließt das nicht sicher aus, dass Inhalte dort tendenziös sind, etwa wenn Meinungsführer nicht unbeeinflusst sind.

Weil noch nicht wirklich feststeht, was MS auslöst, gibt es auch zahlreiche naturheilkundliche, beziehungsweise homöopathische Therapieansätze. Was halten Sie davon?

Es gibt bisher keinen Therapieansatz außerhalb der naturwissenschaftlichen Medizin, der eine positive Wirkung auf den MS-Verlauf, mit wissenschaftlichen Methoden nachprüfbar, erwiesen hätte. Man kann im Umkehrschluss zwar nicht grundsätzlich sagen, dass alle nicht genug geprüften Verfahren Unsinn sind, sollte aber an den Wirkungsnachweis der therapeutischen Angebote, schulmedizinisch und nicht-schulmedizinisch, gleiches Maß anlegen. Sollte man als Betroffene/r sich für das eine oder andere Angebot aus diesem Bereich entscheiden, so ist immer wieder zu überprüfen, ob es einem mit dieser Therapie wirklich besser geht.

Im Internet findet man ebenfalls häufig Hoffnungsberichte, positive Krankheitsverläufe einzelner, zurückgeführt auf einen individuellen Behandlungsansatz, meist verbunden mit einer Änderung des persönlichen Lebensstils. Können Sie das für uns einordnen?

Schwere Lebensereignisse lösen in Menschen oft das Bedürfnis aus, etwas in ihrem Leben zu verändern, manchmal, weil es nicht anders geht, wenn man einen bestimmten Lebensstil zum Beispiel behinderungsbedingt gar nicht aufrecht erhalten kann, manchmal, weil das schwere Lebensereignis zum Auslöser für eine Änderung wird, die man schon lange vor sich her geschoben hatte. Es ist auch eine Folge der schlechten Arzt-Patienten-Kommunikation zu Erkrankungsbeginn, die MS-Betroffene in dem Glauben lässt, ihre MS würde unbehandelt immer bergab gehen, dass sie später alle positiven Entwicklungen auf ihren individuellen Behandlungsansatz zurückführen. Denn wenn Schübe und Behinderungsprogression unter Durchführung einer bestimmten Maßnahme, sei es Immuntherapie, sei es eine Diät, ausbleiben, wird das als Beweis für eine Wirksamkeit dieses Therapieverfahrens erlebt. Menschlich ist das nachvollziehbar, und es kann ja auch tatsächlich im Einzelfall so sein, aber das ersetzt keinen wissenschaftlichen Beleg. Ob und gegebenenfalls welche Lebensstiländerungen hilfreich sein können, ist derzeit nicht wissenschaftlich erwiesen, sondern das kann nur jeder einzelne Betroffene für sich selbst entscheiden. Auch hier gilt, dass man, sollte man sich für diesen Ansatz entscheiden, immer wieder überprüfen sollte, ob es einem tatsächlich darunter gut geht.

Wenn man auch die Wirksamkeit solcher Therapieformen bezweifelt – gibt es auch nicht-schulmedizinische Verfahren, von denen Sie konkret abraten?

Manche ungeprüften Therapieformen können konkret physischen Schaden anrichten, zum Beispiel MMS-Tropfen oder invasive Eingriffe. Andere Methoden schaden vor allem dem Geldbeutel. Schaden kann es aber auch, sich aus prinzipiellen Erwägungen kategorisch gegen MS-Präparate und die naturwissenschaftlich basierte Medizin auszusprechen, etwa weil man „keine Chemie“ will. Schulmedizinische Verfahren haben ja tatsächlich eine Wirkung bei einem Teil der Studienteilnehmer in klinischen Studien erbracht, und es könnte bei jedem Betroffenen dazu kommen, dass man zu dem Kreis derjenigen gehört, die davon profitieren können. Auch wenn eine Wirkung der Immuntherapien auf die langfristige Behinderung nicht ausreichend gesichert ist, so können Betroffene mit vielen und/oder behindernden Schüben sehr wohl von einer Verringerung der Schubhäufigkeit profitieren. Zudem könnten MS-Betroffene auch Zweiterkrankungen entwickeln, die einer guten Behandlung mit klassischer Medizin bedürfen. Damit diese nicht mit MS-Symptomen verwechselt werden, braucht man die Kenntnisse des Neurologen. Man sollte keinem Heilpraktiker oder „Alternativmediziner“ unbesehen vertrauen, der seine Grenzen nicht kennt.

Die Medizin macht ständig weitere Fortschritte – ist in der nächsten Zeit mit einem Durchbruch auf dem Markt der MS-Medikamente zu rechnen?

Das ist ein weites Feld. Zwar fließen tatsächlich hohe Summen in wissenschaftliche Aktivitäten im MS-Bereich, doch ist die Forschung schlecht koordiniert und folgt allzu häufig kommerziellen Interessen. So fehlt es an Anwendungsforschung, nachdem ein Medikament erst einmal zugelassen wurde. Dazu kommt, dass Therapien, die in Ansätzen vielversprechende Ergebnisse gezeigt haben, aber nicht kommerziell interessant sind, nicht weiter untersucht werden. Und leider wird den Nebenwirkungen und Spätfolgen der Therapien zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. MS-Betroffene und MS-Spezialisten meinen vermutlich auch nicht dasselbe, wenn sie von Durchbruch reden. Während der Arzt sich über eine neue Behandlungsmöglichkeit mit begrenzter Wirkung freut, so geht es Betroffenen um eine substanzielle Besserung ihres MS-Verlaufes mit Rückbildung vorhandener Beeinträchtigung ohne die Gefahr schwerwiegender Nebenwirkungen. Zur Zeit ist nicht absehbar, ob und wann so etwas eintreffen könnte.

Das Interview führte Stefanie Schuster


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DVD - Multiple Schicksale

Am 31. Mai war der Welt-MS-Tag. Kurz zuvor ist der&xnbsp;Schweizer Dokumentarfilm Multiple Schicksale (vgl. die Besprechung in FORUM PSYCHOSOMATIK Ausgabe 2-2015) auf DVD erschienen (15,90 Euro). Im 85-minütigen Dokumentarfilm MULTIPLE SCHICKSALE – Vom Kampf um den eigenen Körper, das Langfilmdebüt des heute 21-jährigen Schweizers Jann Kessler, porträtiert der Regisseur sehr persönlich sieben Menschen, die mit MS leben. Er zeigt ihre Zuversicht, Schicksalsschläge, Verzweiflung und Mut, erschütternde, aber auch unbeschwerte und intensiv-berührende Momente.

Seit Jahren lebt&xnbsp;Janns Mutter an MS – Multipler Sklerose. Als er mit ihr über ihre Krankheit reden möchte, kann sie bereits nicht mehr sprechen.&xnbsp;In der&xnbsp;Hoffnung Weiteres zu erfahren, begibt sich der junge Filmemacher&xnbsp;auf eine Reise quer durch die&xnbsp;Schweiz und trifft andere Menschen, die mit&xnbsp;MS leben: Er begegnet&xnbsp;Bernadette, die immer noch lacht, obwohl ihr nicht mehr so oft danach zu Mute&xnbsp;ist. Luana, die sich ermutigende Worte auf den Arm tätowieren lässt. Er trifft&xnbsp;auf Melanie, die einen&xnbsp;wortreichen Schutzwall um sich herum aufbaut. Oliver,&xnbsp;der seine Kräfte im Alltag gezielt einteilen muss. Graziella, die versucht, die&xnbsp;Normalität aufrechtzuerhalten. Und er begegnet Rainer, der aus&xnbsp;eigenem Willen&xnbsp;aus dem Leben scheiden möchte.&xnbsp;Viele der Protagonisten sprechen&xnbsp;sehr offen über ihr Leben, das sie trotz aller&xnbsp;Einschränkungen auch immer&xnbsp;wieder genießen können und sehr intensiv leben.

Extras / Bonusmaterial: Wie geht es den Porträtierten heute? Interview: Jann Kessler (Regisseur),Interview Luana Montanaro (Protagonistin), Was ist MS? Drei Erklärfilme, auch fu¨r Kinder; Musikvideo zum Titelsong "Muet und Sterki"; 1000-Gesichter: Verlust & Gewinne durch die MS; Trailer, Interview: Wie weit ist die MS-Forschung aktuell.

Der deutsche Filmtrailer: https://youtu.be/N4_XvEQwT1U
Facebook: https://www.facebook.com/multipleschicksale


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Aufbruch zu einer neuen Medizin - PNI-Tagung in Innsbruck

Mit über 600 Teilnehmern aus Forschung und Praxis war die Tagung „Psychoneuroimmunologie im Laufe des Lebens – Aufbruch zu einer neuen Medizin“ in Innsbruck vom 16. - 18. September 2016 ein voller Erfolg für Professor Dr. Dr. Christian Schubert. Schubert ist Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie (PNI) an der Universität Innsbruck und Vorstandsmitglied der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin (AIM). In der Ausgabe 1-2015 von FORUM PSYCHOSOMATIK haben wir bereits ein ausführliches Interview mit Schubert abgedruckt. Hier einige Impressionen der Tagung vom letzten Herbst, die der Seite http://www.psychoneuroimmunologie-tagung.at/ entnommen sind.

Worum geht es?

Nerven-, Hormon- und Immunsystem beeinflussen sich wechselseitig. Das Ganze ist jedoch weitaus komplizierter, denn auch Psyche und soziales Umfeld haben Einfluss auf das Immunsystem – und das während unserer gesamten Lebensspanne. Bereits im Mutterleib wird die Basis für ein gesundes Immunsystem geschaffen. Wie wirkt sich die emotionale Bindung zwischen Kind, Eltern und sozialem Umfeld aus psychoneuroimmunologischer Sicht aus? Welche Faktoren begünstigen eine positive Immunentwicklung und garantieren langfristige Gesundheit? Wie und wie lange kann ein Erwachsener etwas für ein gesundes Immunsystem tun? In welcher Verantwortung stehen die Arbeitgeber – sind wir doch einen Großteil unseres Lebens im Büro und verbringen mit unseren Kollegen unter Umständen mehr Zeit als mit der eigenen Familie. Und wenn wir schließlich in Rente gehen – wie können die Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie (PNI) uns helfen, vital zu altern?

Die Tagung „Psychoneuroimmunologie im Lauf des Lebens – Aufbruch zu einer neuen Medizin“ begleitet unser Immunsystem durch unseren gesamten Lebenszyklus. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den positiven Aspekten des Gesundbleibens. Unsere Vortragenden referieren daher auch darüber, wie gesunder Schlaf, Ernährung und körperliche Aktivität langfristig immunologisch fit halten. Es wird darüber hinaus thematisiert, wie psychotherapeutische Behandlung das Immunsystem positiv unterstützen kann.

Abschied vom „Maschinenmodell“

„Ich bin überwältigt vom Interesse der Zuhörer und dem intensiven fachlichen Austausch. Die Entscheidung, die Tagung um ein Jahr zu verschieben, war genau richtig“, so Schubert im Interview. Ursprünglich hatte der Kongress bereits vor einem Jahr stattfinden sollen, musste dann aber wegen zahlreicher Kooperationsanfragen verschoben werden, um ein möglichst umfangreiches Bild des Stands der Psychoneuroimmunologie-Forschung abzubilden. Dies scheint gelungen. Schubert hatte die Tagung gemeinsam mit Professor Dr. Kurt Zänker, Institut für Immunologie der Universität Witten/Herdecke organisiert und fordert einen biopsychosozialen Forschungszugang, weg von großen Kohorten - hin zu integrativen, biopsychosozialen Einzelfallstudien. Seiner Ansicht nach können nur so die komplexen immunologischen Zusammenhänge untersucht werden.

„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“ Mit diesem eindrucksvollen Zitat Mahatma Gandhis könnte man die Entwicklung der PNI in den letzten Jahren zusammenfassen. Heute scheinen wir in der Übergangsphase zwischen Belustigung und Bekämpfung zu sein, jedenfalls sind die Ergebnisse der PNI nicht mehr zu ignorieren. Schubert dazu: „Wir brauchen eine Revolution. Das biomedizinische Maschinenmodell war gestern. Es ist reduktionistisch, dualistisch und von der Idee her zwar objektivistisch, aber letztlich wird es der Komplexität des Menschen nicht gerecht.“ Schubert sprach von einer gemeinsamen biochemischen Sprache, die komplexen, multisystemischen und multidirektionalen Informationsaustausch im Menschen emögliche, und eine solche Sprache scheint auch in der gemeinsamen Forschungsarbeit gefunden werden zu müssen. Der Ansatz integrativer Einzelfallstudien, wie er in Innsbruck verfolgt wird, steht im weiten Feld doppel-blind randomisierter Mulit-Center-Studien noch ziemlich alleine dar.

Eindrücke aus der PNI-Forschung

Die Tagung versuchte die gesamte Lebensspanne des Menschen abzubilden und war thematisch in drei große Entwicklungsstufen untergliedert: Entwicklungsstufe Kindheit, Erwachsenenalter und Alter. Jede Einheit wurde mit einem Grundsatzreferat eingeleitet. Sonja Entringer (Berlin) und Angelika Buske-Kirschbaum (Dresden) begannen den Freitag mit einem Blick in die pränatale und frühkindliche Immunentwicklung, wobei der von Entringer eingeführte Begriff der fetalen Programmierung beängstigend technisch anmutete. Dieser beschreibt den Prozess, durch den die frühe Umwelt im Zusammenspiel mit der genetischen Ausstattung die Physiologie des heranwachsenden Organismus beeinflusst.

Evidenz haben wir genug! Sie hat nur keine klinische Bedeutung. Logisch darauf aufbauend stellte Gottfried Spangler (Erlangen) Ergebnisse der Bindungsforschung vor, die zwar eine schöne Übersicht und Zusammenfassung darstellten, aber kaum neue Erkenntnisse der Forschung beinhalteten. Dies war ganz anders bei Florian Überall (Innsbruck), der über die Bedeutung des Mikrobioms beim Menschen referierte. Das Mikrobiom ist die natürliche Besiedlung des menschlichen Magen-Darm-Traktes. Überall nahm den Jungsteinzeitmenschen Ötzi als Ausgangspunkt seiner Überlegungen, dessen Mikrobiom dank hochmoderner genetischer Analysen wichtige Einblicke in die Ernährungs- und Verdauungsgewohnheiten früherer Kulturen gegeben hat. Auch bei Überall spielte die Kommunikation zwischen den Bakterien eine wichtige Rolle.

Es scheinen also die Zeichen und deren Bedeutungszuweisung ein wichtiger Baustein im Verständnis komplexer biologischer Systeme zu sein. Thure von Uexküll wäre mit seinen Grundgedanken der Biosemiotik hocherfreut darüber gewesen, auch wenn außer Christian Schubert nur Horst Kächele (Berlin) auf Uexküll verwiesen hat. Kächele beklagte einleitend aus jahrzehntelanger Forschungsarbeit heraus: „Evidenz haben wir genug! Sie hat nur keine klinische Bedeutung.“ Er meinte damit, wie wenig Berücksichtigung wichtige Ergebnisse der Psychotherapieforschung bis heute finden. Der Biomedizin scheint es da anders zu gehen. In der Entwicklungsstufe Erwachsenenalter wurde eine Vielzahl von Studienergebnissen vorgestellt, die in ihrer Komplexität kaum noch zu verstehen waren. Karl-Heinz Ladwig (München) und Günter Schiepek (Salzburg) sprachen über das immungesunde Herz und die Synchronisation von Hormon-, Immun-, Neuro- und Psychodynamik.

Erfrischend anders machte es Tanja Lange aus Lübeck. Die Schlafforscherin schaffte es trotz fortgeschrittener Stunde auf ganz wunderbare Art und Weise mit einem auch ästhetisch ansprechenden Vortrag ihre Studienergebnisse so darzustellen, dass auch Nicht-Fachleute schnell einen Überblick erhielten, von dem sie auch etwas mit nach Hause nehmen konnten.

Die Tagung zeigte einmal mehr, wie wichtig es ist, dem biomedizinischen Maschinenmodell in der Medizin entgegen zu treten und allen Widerständen zum Trotz dem Dualismus die Stirn zu bieten.

Von der Psychoneuroimmunologie zur Zukunft der Medizin

(Vortragsabstract von C. Schubert, Innsbruck)

Warum lassen sich von der Psychoneuroimmunologie (PNI) die größten zukünftigen Innovationen in der medizinischen Forschungsempirie und klinischen Praxis erwarten? Weil sie den Übergang vom biomedizinischen zum biopsychosozialen Medizinparadigma markiert! Darauf verweisen komplexe Erkenntnisse und Überlegungen zur PNI, die üblicherweise nicht in der Mainstream-PNI-Literatur referiert werden. Die Geschichte der PNI zeigt, dass bereits ihre ersten empirischen Ergebnisse insofern als radikal anzusehen waren, als dass sie die verschiedenen Anteile des Stresssystems nicht mehr unabhängig voneinander, sondern in funktionsdynamischer Beziehung zueinander sahen (z.B. immunoneuroendokrines Netzwerk). Mittlerweile gibt es in der PNI auch erste Hinweise dazu, wie die Schnittstellen und Übergänge zwischen den biologischen, psychologischen und sozialen Schichten des biopsychosozialen Modells geartet sein könnten (z.B. behaviorales Immunsystem). Neuere klinische Forschungsansätze (z.B. integrative Einzelfallstudien) ermöglichen zudem auch unter „life as it is lived“-Bedingungen der menschlichen Alltagsrealität ökologisch valide Einsichten in die biopsychosoziale Modellkonzeption. Die Trennung von Leib und Seele (Dualismus) sowie die vollständige Zurückführbarkeit des Ganzen auf seine Einzelteile (Reduktionismus) werden so zu Proponenten eines klar veralteten Erkenntniszugangs der Biomedizin. Man muss sich angesichts der gezeigten theoretischen und empirischen Fortschritte der PNI ernsthaft die Frage stellen, wie lange eine dehumanisierte Medizin dem Patienten noch mögliche wesentliche Fortschritte in der medizinischen Forschung vorenthalten darf.


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Multikulti in der Selbsthilfe: AOK will Gesundheitskompetenz von Zuwanderern stärken

In Deutschland leben mehr als 17 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – das ist etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Untersuchungen zeigen, dass sie nicht in gleichem Maße vom Gesundheitswesen profitieren wie die einheimische Bevölkerung. Die AOK setzt sich dafür ein, dass sich dies ändert: "Wir wollen Menschen mit Migrationshintergrund den Zugang zum Gesundheitswesen und zu Angeboten der Prävention, Selbsthilfe und Pflege erleichtern", kündigte Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, auf der Selbsthilfe-Fachtagung Ende November 2016 in Berlin an. Während der Veranstaltung setzten sich etwa 130 Experten und Vertreter von Selbsthilfeorganisationen mit der Frage "Multikulti in der Selbsthilfe – nur ein Traum?" auseinander. Die Stiftung LEBENSNERV engagiert sich bereits seit 2008 in diesem Bereich, hat dazu Studien erstellt und arbeitet mit dem Berliner Verein "InterAktiv", der sich auf der AOK-Tagung vorstellte, und seiner MS-Selbsthilfegruppe zusammen.

"Die Selbsthilfe hat einen großen Anteil daran, dass sich die Gesundheitskompetenz von chronisch kranken und behinderten Menschen verbessert hat", lobte Claudia Schick das Engagement der Aktiven. Die Referentin für Selbsthilfe im AOK-Bundesverband bedauerte, dass chronisch kranke und behinderte Menschen mit Migrationshintergrund oder Flüchtlinge bislang deutlich seltener Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe suchen als Einheimische. Die Gründe dafür seien vielfältig: Viele Zuwanderer würden solche Angebote aus ihrer Heimat nicht kennen, könnten mit dem Begriff "Selbsthilfe" nichts anfangen oder sich nicht vorstellen, in einer Selbsthilfegruppe über ihre Krankheit oder die eines Familienmitglieds zu sprechen. Eine Rolle spiele auch, dass das Verhältnis zum eigenen Körper, zur Gesundheit und der Umgang mit Krankheit kulturell geprägt seien. So sähen manche Zuwanderer Krankheit als Schicksal an oder seien der Meinung, dass nur ein Arzt ihnen helfen könne, aber kein Laie.

Mehrsprachige Informationen

"Wir wollen ein Umdenken bewirken", erklärte Schick. Zum einen ruft die AOK Migrantenorganisationen auf, Gruppen zu gründen, zum anderen unterstützt sie Selbsthilfeorganisationen dabei, Infomaterial und Beratungsangebote auch in anderen Sprachen anzubieten und Mitstreiter aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu gewinnen. Außerdem lädt die Gesundheitskasse Betroffene mit Migrationshintergrund ein, sich bestehenden Gruppen anzuschließen. Die AOK bietet bereits spezielle Informationen an – etwa das Zuwandererportal, die AOK-Vorsorge-App und Faktenboxen zu Themen wie Impfen oder Krebsvorsorge in mehreren Sprachen. "Wir sind auf einem guten Weg, uns Zuwanderern zu öffnen“, resümierte Schick.

Wie stark sind Zuwanderer aber nun tatsächlich von chronischen Krankheiten betroffen und wie ist es derzeit um ihre Gesundheitskompetenz bestellt? Diesen Fragen ist Professor Dr. Hajo Zeeb, Leiter der Abteilung Prävention und Evaluationen am Leipniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen, nachgegangen. Seinen Ausführungen zufolge ist die gesundheitliche Lage bei Migranten zum Teil schlechter, manchmal aber auch besser als bei der einheimischen Bevölkerung. Die Unterschiede würden zudem mit der Zeit geringer. Die Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund sei niedriger als im bundesweiten Durchschnitt; das bestätige der deutschlandweite Survey. Danach haben 71 Prozent der Zuwanderer Schwierigkeiten, gesundheitsrelevante Informationen zu verstehen und zu verarbeiten. In der Gesamtbevölkerung trifft dies auf 55 Prozent zu. Um die Gesundheitskompetenz von Migranten zu stärken, forderte Zeeb, bereits in Kindergärten mit Gesundheitsbildung anzufangen.

Die Gründung interkultureller Gruppen fördern

Wie vielfältig Selbsthilfe bereits ist und wie stark sich die Aktiven engagieren, zeigte sich bei der Vorstellung verschiedener Projekte und Initiativen. Azra Tatarevic stellte das Projekt "Selbsthilfe und Migration“ des Selbsthilfezentrums in Berlin-Neukölln vor, das interkulturelle Gruppen bei der Gründung berät und unterstützt. Teil des Konzepts sind Fortbildungen von Multiplikatoren, die ihre Landsleute motivieren sollen, sich an der Selbsthilfearbeit zu beteiligen. Tatarevic, die 1994 vor dem Krieg in Bosnien nach Deutschland geflohen ist, gründete 2009 ihre erste Selbsthilfegruppe für traumatisierte bosnische Frauen, die von einer Psychologin begleitet wird. Die Mitglieder sprechen bei den Treffen bosnisch, sie singen, tanzen und verreisen zusammen. "Wir sind eine familiäre Gruppe geworden, das Sprechen der Muttersprache und das Miteinander geben Geborgenheit und lassen Heimatgefühle wach werden", erzählte Tatarevic. Mittlerweile moderiert sie insgesamt sechs Selbsthilfegruppen, darunter zwei interkulturelle Gruppen mit Teilnehmern aller Nationalitäten, in denen deutsch gesprochen wird.

Projektleiterin Nurten Ataman, Zühal Karatas und Detlev Fronhöfer, Referent für Selbsthilfe bei der AOK Nordost, berichteten über den Verein „InterAktiv“. Ende 2011 von Sevgi Bozdag gegründet, unterstützt der Verein Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen sowie deren Familien. Ein Großteil der Betreuten ist türkischstämmig. Der Verein, in dem sich mittlerweile sieben hauptamtliche und etwa 30 ehrenamtliche Mitarbeiter engagieren, hat bereits mehrere Selbsthilfegruppen und Projekte initiiert – von der türkischsprachigen Mütter- und Vätergruppe bis hin zu den Selbsthilfegruppen Epilepsie, Autismus Spektrum, Down-Syndrom und Multiple Sklerose. Höhepunkt des Jahres ist eine Reise, die aus den Einnahmen des Sommerfestes finanziert wird – für einige Familien mit behinderten Kindern die einzige Möglichkeit, einmal gemeinsam zu verreisen.

Menschen aller Nationalitäten engagieren sich

"Weg der Hoffnung“ - so heißt der gemeinnützige Verein für krebskranke Kinder und deren Familien, den Aynur Celikdöven 2001 in Oberhausen gegründet hat. Selbst betroffen, wollten sie und ihr Mann krebskranke Kinder und ihre Familien seelisch und finanziell unterstützen. "Wir haben mit fünf Leuten angefangen, jetzt sind wir 160, darunter viele Deutsche, Türken und Menschen anderer Nationalitäten", sagt Celikdöven. Die Ehrenamtlichen besuchen regelmäßig die Kinderkrebsstation der Essener Uniklinik, hören sich dort die Sorgen der Patienten und ihrer Angehörigen an. Sie versuchen, letzte Wünsche der Kinder zu erfüllen und unternehmen Ausflüge und Reisen. "Die Arbeit ist sehr schwer", sagt Celikdöven, "aber wir sind glücklich, wenn wir Eltern und Kinder einmal lächeln sehen."

Besser vernetzen und mehr informieren

Aber klappt "Multikulti in der Selbsthilfe" nun - oder ist es nur ein Traum? Wie lässt sich interkulturelle Selbsthilfe ausbauen? Während der Podiumsdiskussion wurde deutlich, dass sich die einzelnen Gruppen mehr öffnen und noch besser mit anderen Initiativen und Verbänden vernetzen müssten. "Man sollte von Anfang an zusammenarbeiten und nicht ausgrenzen. Das setzt natürlich Vertrauen voraus", brachte es Derya Karatas auf den Punkt. Sie hat in Berlin-Kreuzberg eine Gruppe für pflegende Angehörige initiiert. Die Mitglieder stammen aus türkischen Familien, treffen sich regelmäßig und tauschen sich aus. "In der Selbsthilfe lernt man Leute kennen, die das gleiche Problem haben; das schweißt zusammen", sagt Karatas.

In der Diskussion zeigte sich aber auch, dass es zum Teil an Informationen darüber mangelt, welche Unterstützung Selbsthilfegruppen erhalten können. "Wir müssen uns besser vernetzen, mehr informieren und Orte aufsuchen, an denen Migranten sich treffen. Auch wir in der AOK müssen uns noch stärker auch auf die Bedürfnisse von Migranten konzentrieren und sie mit ins Boot nehmen. Bundesorganisationen der Selbsthilfe sollten sich stärker den Gruppen der Migranten gegenüber öffnen und sie in ihre Strukturen integrieren. Damit ausländische Betroffene genau die gleichen aktuellen Informationen zu ihren Erkrankungen erhalten wie deutsche und auch ihre Interessen politisch Gewichtung bekommen", lautete das Fazit von AOK-Expertin Schick.

Quelle: http://aok-bv.de/hintergrund/dossier/selbsthilfe/index_17575.html


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Michael de Ridder: Welche Medizin wollen wir?

Warum wir den Menschen wieder in den Mittelpunkt ärztlichen Handelns stellen müssen. DVA, München 2015, 304 S. 19,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04624-8

Michael de Ridder ist seit mehr als 30 Jahren im ärztlichen Beruf tätig, zuletzt als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses, als Geschäftsführer des von ihm begründeten Vivantes Hospiz und als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin. Schon seit längerem befasst er sich kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin und mit Fragen der Gesundheitspolitik. In diesem Buch wendet de Ridder sich nachdrücklich gegen eine Medizin, die den Kranken von der Krankheit trennt. Er spricht als Arzt, der langjährig praktiziert und selber auch als betroffener Schmerzpatient lebt. Als Leseprobe haben wir für Sie deshalb den Epilog des Buches abgedruckt, in dem de Ridder eindrucksvoll den Umgang mit seiner chronischen Krankheit schildert und die unserer Meinung nach viele Parallelen zur Erkrankung an MS enthält.

In seinem Buch plädiert de Ridder eindringlich für Patientenwohl und Empathie statt Fallpauschale und Bettenpolitik – auf der Strecke bleibt dabei vor allem eines: die Zeit für das Gespräch, Zeit für tröstenden Zuspruch, Zeit für die Erläuterung von Eingriffen, Zeit für die einfühlsame Mitteilung der Diagnose. Doch de Ridder bleibt nicht bei der – leidlich bekannten Kritik der aktuellen Gesundheitsversorgung stehen. Er entwickelt sieben Thesen für eine authentische, menschliche und zukunftsfeste Medizin, deren Headlines wir hier schon verraten. Wer mehr darüber wissen will, muss schon selber zum Buch greifen.

  1. Mehr Gesundheit bedeutet nicht mehr Medizin
  2. Weniger Verschwendung, mehr Verteilungsgerechtigkeit
  3. Umfassende Bildung – unverzichtbar für den künftigen Arzt
  4. Selbstverantwortung – unerlässlich für den künftigen Patienten
  5. Ärztliche Ethik und Professionalität – Fundament des Patientenvertrauens
  6. Integrative Medizin
  7. Medizin – nicht Anthropotechnik

HGH



Leseprobe - Epilog

Es war der 30. August 1990. Ich hatte auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll einen Vortrag gehalten und war nun im Flugzeug von Frankfurt nach Berlin zurückgekehrt. Da alle Flugsteige belegt waren, nahm die Maschine eine Parkposition auf dem Flugfeld ein und die Passagiere verließen sie über eine mobile Gangway. Mit einem kleinen Koffer in der Hand hatte ich gerade die Treppe betreten, als ich in meiner rechten Leiste einen brennenden Schmerz spürte, der über die Vorderseite meines Oberschenkels bis an den seitlichen Fußrücken ausstrahlte.

Am Fuß der Gangway blieb ich stehen, beugte, streckte und rotierte das Bein in der Vorstellung, dass ich während des Fluges ungünstig gesessen hatte; sicher würde dieser Schmerz ebenso schlagartig verschwinden wie er mich überfallen hatte. Und doch – er irritierte und beunruhigte mich seiner Fremdheit und Heftigkeit wegen. Seltsam erschien mir, dass meine Muskeln und Gelenke nicht betroffen waren: Die Beweglichkeit in der Wirbelsäule, Hüfte und Knie war in keiner Weise eingeschränkt oder gar schmerzhaft.

Ich suchte die Flughafentoilette auf, zog die Hose aus und untersuchte mein Bein. Hatte ich irgendwelche Hautveränderungen? Blaue Flecken? Mich unbemerkt verletzt? Hatte mich irgendetwas gestochen? Nichts dergleichen konnte ich entdecken. Eine akute Durchblutungsstörung? Anzeichen einer „Flugthrombose“? Meine rechte Wade war weich und nicht druckempfindlich, kräftig schlug der Puls meiner Schenkelarterie in der Leiste und am Fußrücken unter meinen tastenden Fingern.

Ich stieg in ein Taxi. Leiste und Bein brannten, als läge eine Brennesselgarbe auf meinem Oberschenkel; als sei ein qualliger Parasit, versehen mit Tausenden von mit kleinsten Wiederhaken ausgekleideten Saugnäpfen, mit der Haut meines Oberschenkels verwachsen. Ein Schweißfilm lag auf meiner Stirn; etwas wie Panik breitete sich in mir aus.

Zu Hause legte ich mich aufs Bett. Ich hyperventilierte. Ich versuchte, mich zu fassen und zu beruhigen. Atem- und Schwereübungen des autogenen Trainings hatten sich früher häufig bewährt, Erregung und Angst einzugrenzen und die Kontrolle über mich wiederzugewinnen. Was war da über mich gekommen – so plötzlich, im wahrsten Wortsinn aus heiterem Himmel? Weder fühlte ich mich krank oder unglücklich, noch hatte ich mich in letzter Zeit ungewöhnlich körperlich oder seelisch belastet; die Veranstaltung in der Akademie war ein Erfolg gewesen, guter Stimmung war ich abgereist.

Das autogene Training blieb ohne Wirkung. Nacheinander griff ich nun zu Paracetamol, Aspirin; Novalgin – doch auch die gängigen Schmerzmittel verschafften mir keinerlei Erleichterung. Bewegung, dachte ich, vielleicht hilft laufen? Ich verließ meine Wohnung in Turnschuhen und rannte eine halbe Stunde in der Dunkelheit durch die Straßen, unterbrochen von Dehn- und Streckübungen im Hüft- und Kniebereich. Aber auch das ließ meinen Schmerz unbeeindruckt.

Verschwitzt kehrte ich nach Hause zurück und nahm eine Dusche. Kaltes Wasser über die Hüfte und Bein laufen zu lassen, schwächte überraschenderweise die Intensität des Schmerzes, wenn auch nur für kurze Zeit. Nicht das Wasser selbst war es, das mir die Linderung verschaffte, es war seine Kälte, die bekanntermaßen einen anästhesierenden Effekt hat. Das festigte in mir den Verdacht, der mir schon am Flughafen gekommen war. Eine akute Neuropathie hatte mich im Griff, ein Phänomen, dem die direkte Schädigung eines Nerves zugrunde liegt, in meinem Fall die eines oberflächlichen verlaufenden Hautnerven.

Ob ich richtig lag mit meiner Vermutung? Wenn ja, welcher Natur sollte diese plötzliche Schädigung sein? Eine Neuropathie kann bei sehr unterschiedlichen infektiösen, toxischen oder orthopädischen Erkrankungen auftreten; nicht selten jedoch bleibt ihre Ursache im Dunkeln. Man spricht dann von einer „idiopathischen“ Neuropathie, einem Schmerzsyndrom, das befriedigend zu behandeln oft nicht gelingt.

Während der folgenden Wochen und Monate unternahm ich alles, um den Ursachen dieses mich derart quälenden Zustands auf die Spur zu kommen. Ich ließ mich eingehend internistisch und orthopädisch untersuchen; ich konsultierte mehrere Neurologen, die meine Verdachtsdiagnose einer Neuropathie zwar bestätigten, ihre Ursache letztlich jedoch nicht aufdecken konnten. Ich unterzog mich Nervenleitgeschwindigkeitsmessungen, einer Elektromyographie und einer Magnetresonanztomographie (MRT) der Wirbelsäule und Hüfte - ohne Ergebnis.

Die plausibelste Erklärung gab mir ein befreundeter Neurologe: Vermutlich handelt es sich um ein „Entrapment-Phänomen“: eine irgendwo in seinem langen Verlauf auftretende mechanische Irritation des Nerves beim Durchritt durch eine Sehnenplatte oder dem Überqueren eines Knochenvorsprungs. Dies aber nachzuweisen sei kaum möglich; und selbst wenn es gelänge, bestünde nur geringe Aussicht, die Schädigung des Nerves (operativ) zu beheben.

Meine ärztlichen Kollegen fühlten mit mir; und doch glaubte ich manchmal zu spüren, dass sie mich in gewisser Weise nicht ernst nahmen, mich vielmehr für „abnorm“ hielten; für jemanden, der ein seelisches Leiden in Schmerz übersetzt oder – wie es im Klinikjargon heißt – aggraviert, seine Beschwerden also heftiger schildert, als es ihrem tatsächlichem Erleben entspricht. ( Ich musste mir eingestehen, dass auch ich manchem meiner Patienten Ähnliches unterstellt hatte.)

Ihre Verordnungen schlossen Vitaminpräparate, Psychopharmaka und ein aus Paprika gewonnenes Alkaloid-Gel zum Auftragen auf die Haut ebenso ein wie die Empfehlung, viel Sport zu treiben, zu meditieren und einen Yoga-Kurs zu beginnen. Jeden ihrer Ratschläge nahm ich auf – ohne Erfolg. Nach zwei Jahren dämmerte mir, dass ich mich wohl damit abzufinden hatte, dass es weder eine Erklärung für meinen Schmerz gab, noch ein Mittel, ihn dauerhaft zu lindern. Ich war (und bin) chronisch schmerzkrank.

Seit jenem August 1990 hat mich mein Schmerz nicht verlassen, nicht einen Tag; und auch jetzt, da ich dies schreibe, ist er bei mir, gleich einem treuen Hund zu meinen Füßen. Er hat sich eingenistet in mir und tief in mein Leben eingegriffen. Er hat einen Raum in mir geschaffen, der niemandem zugänglich ist und den ich mit niemandem teilen kann – einen Raum der Einsamkeit, einem Kerker ähnlich, aus dem nichts nach außen dringt. Ein Zustand, der nicht gleichzusetzen ist mit Alleinsein oder Verlassenheit – Zuständen, die, wie auch andere psychische Leiden, einen für andere erfahrbaren Inhalt haben, der als Referent dienen kann und der sprachlichen Objektivierung fähig ist. Schmerz, zumal chronischer Schmerz, gestattet dies nicht. Schmerz ist und macht sprachlos. Er ist nicht teilbar und mitteilbar. Das macht die eigentliche Verzweiflung aus.

Eine weitere Erkenntnis war: Mein Körper führt ein Eigenleben, das sich meiner Kontrolle entzieht. Er kann zum Despoten werden, mich knebeln und demütigen. Bisweilen träume ich, mir das Bein amputieren zu lassen und morgens einbeinig aufzuwachen, aber frei von Schmerz.

Nicht jeder Schmerz – auch das musste ich „schmerzlich“ erfahren – ist zu stillen. Nicht wenige Schmerzkranke enden in stummer Depression, manche gar im Suizid. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen diese Aussichten. Keinesfalls wollte ich zum Misanthropen werden, keinesfalls wollte ich mich meinem Schmerz unterwerfen. Irgendwie wollte und musste ich es zuwege bringen, mit meinem Schmerz zu leben und dabei ein Mensch zu bleiben, der genuss- und arbeitsfähig und anderen gegenüber aufgeschlossen war.

Immer wieder erschien der Kokon kindlicher Aufgehobenheit in der Krankheit im Schoß meiner Familie vor meinem inneren Auge, fern und wie aus einer anderen Welt. So sehnsüchtig ich ihn auch heute noch herbeiwünsche – sentimentales Nachtrauern mündet in Selbstmitleid und lähmender Untätigkeit. Die Medizin – ich hatte sie hinter mir lassen und mich von ihr verabschieden müssen. Meine Ärzte hatten ihr Bestes gegeben, aber sie und ich mussten schließlich die Grenzen des medizinisch Möglichen akzeptieren.

Und doch – ich fand einen Weg; er war und ist steinig und endlos. Er hat kein Ziel, er ist das Ziel. Längst habe ich es aufgegeben, gegen meinen Schmerz aufzubegehren, vielmehr habe ich ihn an mich gezogen, ich habe ihn „umarmt“. Ich nehme ihn an als Teil meiner Existenz, als symbiotisches Alter Ego. Mein Schmerz und ich – an manchen Tagen sprechen wir miteinander; ein Gespräch, so fremd es für den Leser klingen mag, unter Freunden; es besänftigt und ermüdet mich und ihn, sodass ich nachts für einige Stunden ungestörten Schlaf finde.

Mehr noch, ich habe gelernt, meinem Schmerz etwas abzugewinnen. Er ist nicht allein quälend und widerwärtig; vielmehr entdeckte ich, dass er mich auf eine gewisse Weise belebt, ja ich erlebe ihn auch als Stimulans; ein Wort, das bei seinem eigentlichen Wortsinn genommen, die Janusköpfigkeit meines Schmerzerlebens auf den Punkt bringt: das Schikanöse des Leidens (Stimulus) wie das Geschenk der Anregung und Phantasie (Stimulans). Mein Schmerz hat mich nicht allein in das Gefängnis der Einsamkeit eingeschlossen, er hat mir auch einen neuen Raum eröffnet – den Raum des Ideenreichtums und kreativer Gestaltung. Fjodor M. Dostojewski verleiht dieser Doppeldeutigkeit des Schmerzes Ausdruck, wenn er in Schuld und Sühne schreibt: „Leiden und Schmerz sind immer die Voraussetzung umfassender Erkenntnis und eines tiefen Herzens.“


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Schwör 2.0

von Bernd Hontschik

Sie glauben bestimmt, dass Ihr Arzt, dass Ihre Ärztin nach dem Medizinstudium den Eid des Hippokrates geschworen hat. Sie glauben sicher auch, das sei eine Voraussetzung, um den Beruf einer Ärztin und eines Arztes ausüben zu dürfen. Weit gefehlt. Die meisten Ärztinnen und Ärzte wissen nicht einmal, was im Eid des Hippokrates eigentlich steht. Und die Approbationsurkunde kommt per Post, wenn die Gebühr eingezahlt ist.

Hippokrates von Kos lebte etwa vierhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung und gilt als einer der berühmtesten Ärzte des Altertums. Das „Corpus hippocraticum“, ein 61 Schriften umfassendes Werk, wird heute als Begründung der modernen Medizin bezeichnet. In ihm wird die genaue Beobachtung, die sorgfältige Untersuchung und das gezielte Befragen als Grundlage jeder ärztlichen Tätigkeit gefordert. Außerdem wird persönliche Integrität, körperliche und geistige Klarheit und das Einfühlen in die Situation der Kranken verlangt. Die Schriften stammen aber wohl gar nicht nur von Hippokrates. Auch den „Eid des Hippokrates“ als Teil des Corpus hippocraticum hat er wahrscheinlich nicht selbst verfasst.

Der Wortlaut des hippokratischen Eides enthält zu Beginn eine Art von berufsinterner Lebens- und Krankenversicherung: „Der mich diese Kunst lehrte“ soll geachtet und versorgt werden wie die eigenen Eltern, ebenso sind seine Nachkommen den eigenen Geschwistern gleichzustellen, wenn sie Not leiden. Auch Sterbehilfe und Schwangerschaftsabbruch waren vor über 2000 Jahren schon ein Thema, beides im hippokratischen Eid strikt verboten. Aber die Gebote, Kranken niemals Schaden zuzufügen, niemals „Werke der Wollust an den Leibern von Frauen und Männern“ zu verüben und niemals das Schweigen zu brechen darüber, „was ich bei der Behandlung sehe oder höre“, könnte man so auch in einer modernen Formulierung ärztlicher Ethik wiederfinden.

Insgesamt ist der hippokratische Eid also nur noch von historischer Bedeutung. Er müsste erneuert werden. Eine Kommission der Bundesärztekammer beschäftigt sich damit schon seit Jahren. Als Vorbild gäbe es beispielsweise das Genfer Gelöbnis, eine modernisierte Form des hippokratischen Textes, die der Weltärztebund 1948 beschlossen hat, oder die Charta zur ärztlichen Berufsethik von 2002, in der medizinische Fachgesellschaften Prinzipien formuliert haben wie das Primat des Wohlergehens des Kranken, das Prinzip der Autonomie des Patienten und die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit. Alle Versuche der Erneuerung scheitern aber daran, was ärztliche Arbeit heute wirklich zerstört. Wie soll man sich in einem Umfeld ethisch korrekt verhalten, in dem Investoren eine Rendite anstreben, bis hin zu obszönen zehn Prozent. Wie soll man das ethisch korrekt formulieren?

Vielleicht so: Ich will keine fragwürdigen Rückenoperationen vornehmen, auch wenn sie sehr gut bezahlt werden. Ich will keine schwerwiegenden Diagnosen erfinden, damit die Krankenkassen mehr Geld bezahlen müssen. Ich will nie eine Behandlung zerteilen, um sie mehrfach abrechnen zu können. Ich will nie für unnötige medizinische Handlungen werben, die ich dann selbst in Rechnung stellen kann. Ich will mich niemals an der Abschiebung von Flüchtlingen in Kriegsgebiete beteiligen, auch wenn der Staat mich dafür gut bezahlt. Ich will keine Chefarztverträge unterschreiben, in denen mir ein Bonus für erfolgreiches Wirtschaften versprochen wird. Ich will immer für die Priorität der Medizin gegenüber jedweden Geschäftsinteressen kämpfen. Ich will der Verwandlung des Gesundheitswesens in einen Wirtschaftszweig mit allen Mitteln entgegentreten.

„Unter der jetzigen, von der Politik gewollten Kommerzialisierung des Gesundheitswesens kann es keine funktionierende ärztliche Ethik geben. Erst kommt das Fressen und dann die Moral - so einfach ist das“, sagt kein Geringerer als der Präsident der Ärztekammer Berlin, der Chirurg Günther Jonitz. Da lassen wir es doch lieber dabei, dass keiner einen Eid schwört.

Quelle: Frankfurter Rundschau; Samstag, 1. April 2017

chirurg@hontschik.de - www.medizinHuman.de


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Erfolgreiche Spendenaktionen für LEBENSNERV

Wer die letzten Ausgaben von FORUM PSYCHOSOMATIK aufmerksam verfolgt hat, weiß von zwei Spendenaktionen, die in den letzten Monaten stattgefunden haben. Da war einmal der Spendenlauf von Hamburg nach Berlin unter dem Titel "MS=Meilenstein", der einen Reinerlös von 10.022 Euro erbracht hat. Davon werden wir ein Empowerment-Seminar in Hamburg veranstalten, das im Juni und September 2017 stattfindet. Die Anmeldungen dazu sind bereits ergangen und wir freuen uns darüber, dass wir dieses Angebot haben realisieren können.

Am 2. April 2017 hat Patrick Eichenberger in Berlin sein 206. Hauskonzert zugunsten von LEBENSNERV veranstaltet. Zu Gast war der junge Pianist Michael Cohen-Weissert, der mit seinem Beethoven-Pianorezital die Zuhörenden begeisterte. Der Konzertnachmittag erbrachte einen Erlös von beeindruckenden 775 Euro, der ebenfalls in die Empowerment-Arbeit einfließen wird! Impressionen von diesem Anlass gibt es unter http://www.hauskonzert-berlin.de/ - konzert_2017-04-02


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Strukturreform in der ambulanten Psychotherapie

Die Psychotherapie-Richtlinie ist zum 1. April 2017 geändert worden, damit vor allem Wartezeiten für psychotherapeutische Behandlungen verkürzt werden sollen. Ob es damit auch zu Verbesserungen kommt, wird von Praktiker*innen bezweifelt. Die wichtigsten Änderungen hier auszugsweise:

Vorgaben zur telefonischen Erreichbarkeit

Eine persönliche telefonische Erreichbarkeit in einem Umfang von 200 Minuten pro Woche bei einem vollen Versorgungsauftrag und in einem Umfang von 100 Minuten pro Woche bei einem halben Versorgungsauftrag ist sicherzustellen. Dabei müssen die Einheiten mindestens 25 Minuten betragen. Damit ist die gegenwärtige Praxis von vielen Therapeut*innen, Telefonzeiten von zehn Minuten vor jeder vollen Stunde anzubieten, nicht mehr ausreichend.

Psychotherapeutische Sprechstunden

Der Umfang der wöchentlichen psychotherapeutischen Sprechstunden beträgt bei einem vollen Versorgungsauftrag in der Regel mindestens 100 Minuten pro Woche und bei einem hälftigen Versorgungsauftrag in der Regel mindestens 50 Minuten pro Woche. Diese Sprechstunde kann genutzt werden, um Einzelbehandlungen bei Erwachsenen in Einheiten von mindestens 25 Minuten, höchstens sechs Mal je Krankheitsfall bei Erwachsenen und höchstens zehn Mal bei Kindern oder Jugendlichen durchzuführen.

Psychotherapeutische Akutbehandlung

Die Möglichkeit einer Akutbehandlung wird geschaffen. Die Akutbehandlung kann als Einzeltherapieeinheit von mindestens 25 Minuten bis zu 24-mal je Krankheitsfall (insgesamt 600 Minuten) durchgeführt werden.

Änderungen zur Gruppentherapie

Mit der Absenkung der Teilnehmerzahl auf drei Personen wurde ein wesentliches Hemmnis für die Gruppentherapie beseitigt. Bei einer Kurzzeittherapie können bewilligte Stunden in Einzeltherapie auch im Rahmen einer Gruppentherapie erbracht werden.

Quelle: https://www.kvberlin.de/20praxis/70themen/aktuell_aenderungen/pt_struktur.html


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Anmeldung - MS: Alltag mit kognitiven Störungen

Anmeldung zum Workshop am

Freitag, 3. November 2017 um 15:00 Uhr bis
Sonntag, 5. November 2017 um 14:00 Uhr

Download Anmeldeformular


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Hauptstadtkongress Psychodynamik in Berlin: 30. Juni - 2. Juli 2017

Wie schon vor zwei Jahren wird der Hauptstadtkongress der Psychodynamik ein Forum bieten, auf dem Gedanken, Meinungen und Erfahrungen über Theorie und Praxis der Psychodynamischen Psychotherapie vorgestellt und ausgetauscht werden. Darüber hinaus wünschen sich die Veranstalter, dass der common ground der psychodynamischen Theorien und Therapieverfahren - wie beim 1. Hauptstadtkongresses 2015 – eben wie auf einem Marktplatz szenisch erlebbar wird.

Das übergreifende Thema wird 2017 die Zukunft der Psychodynamik sein, ein Thema, das angesichts der sich abzeichnenden Veränderungen in den Rahmenbedingungen der Behandlung und Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen von hoher Dringlichkeit ist. Als Psychodynamiker werden sich die Teilnehmenden neben den äußeren Konflikten dabei mit den unbewussten Prozessen und Konflikten beschäftigen, ebenso wie mit den inneren Räumen, die sie in ihrer Weltsicht und in ihrer Praxis den äußeren individuellen wie gesellschaftlichen Räumen gegenüberzustellen gelernt haben.

In einer Zeit, in der andere Psychotherapieverfahren dazu neigen, psychodynamische Erkenntnisse und Konzepte partiell zu assimilieren, werden zwei Wege zukünftig wichtig werden: Die Rückbesinnung auf den common ground der psychodynamischen Verfahren und zugleich deren Weiterentwicklung, um sie zukunftsfähig für die Bedarfe der Gesellschaft zu machen.

Wer erkannt hat, dass Übertragung und Widerstand zum Drehpunkt der Psychotherapie gehören, ist herzlich eingeladen, den Marktplatz der Psychodynamik zu besuchen und sich an der Diskussion um unsere Zukunft zu beteiligen.

http://www.hauptstadtkongress-psychodynamik.de/


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