Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/97

Teil 3: "Subjektive Krankheitstheorien bei multipler Sklerose" von H.-G. Heiden, S. Arnade

Mutter und ich – Verwöhnung

Meine Mutter hat mich zu ihrem Verbündeten im verdeckten Kampf gegen den Vater gemacht. Mutter und ich teilten ein Geheimnis, nämlich dem Vater sei nicht zu trauen, und ich sei der bessere Mann, das heißt der, der sie nicht hintergehen oder verlassen würde. Ich war „ihr Bester“ . Dahinter verbarg sich auch die Forderung: mach Du mir nur keinen Kummer, ich bin mit der Situation sowieso schon überfordert. Ich war es, der sie aus ihrer depressiven Einsamkeit retten und ihr den fehlenden Ehemann ersetzen sollte. Dafür habe ich über Jahre viel Kraft verwendet.

Als Säugling fehlte mir ihre körperliche und gefühlsmäßige Nähe und Wärme. Sie ist nach meiner Geburt gleich wieder arbeiten gegangen. Einige Male überließ sie mich der Obhut von Bekannten, die mir als Kind große Angst machten, mit der Folge, daß ich mich sehr an Mutter anklammerte. Ich war ein verängstigtes Kind, das stillhielt, abwartete, sich an die Bedürfnisse anderer anpaßte und dann akzeptiert wurde, wenn es unlebendig war. Da war eine große Not .

Dann entdeckte mich meine Mutter als Liebesobjekt, von dem sie für ihre Verwöhnung alles bekommen konnte. Nun erfuhr ich eine enorme Aufwertung, in ihrer Nähe wurde ich zum selbstbewußten kleinen Mann, dem nichts schwerfiel. Mutters kleinen Kavalier nahmen sie, die Oma und die zahlreichen Tanten in der Verwandtschaft gerne mal in den Arm und schmusten mit ihm. Eine Rolle, die ich aufgrund meiner Bedürftigkeit annahm. Einerseits konnte ich mich in die Einsamkeit meiner Mutter gut einfühlen. Andererseits bekam ich so eine Menge Anerkennung und Zuwendung. Jedoch ging es nie um meine Bedürfnisse, die konnte ich schon gar nicht mehr spüren.

In der Kindheit warf mir meine Mutter Egoismus und Rücksichtslosigkeit vor, später äußerte sie „das Leben mache ihr keinen Spaß mehr.“ Heute hat sie „sich damit abgefunden, daß ich mich anders entwickelt habe, als sie es sich gewünscht hat“. Immer wieder höre ich den Appell daraus: „Bleib doch bei mir mein Junge.“

Familienklima

Diese Konstellation, die Wilfried Wieck als Antibiose mit dem Vater und Symbiose mit der Mutter präzise charakterisiert, hatte fatale Folgen für mich. In diesem Familienklima, in dem offensichtliche und tiefgreifende Konflikte, nämlich die gestörte Beziehung zwischen meinen Eltern, über Jahrzehnte nicht zur Sprache kommen durften, entwickelte sich das wir-harmonisierende Verhalten mit meiner Mutter und die enorme Distanz zu meinem Vater. Eine Trennung wurde nie erwogen, und so gab es eine stillschweigende Übereinkunft, keine Auseinandersetzungen zu führen. Daß die Ehe meiner Eltern längst kaputt war und ich, zum Lebenspartner meiner Mutter avanciert, Bevorzugungen erfuhr, die meinen Vater und meinen Bruder eifersüchtig machten, durfte ich gar nicht merken. Wie oft hat Mutter mir meine Wahrnehmung auszureden versucht. „Das bildest Du Dir alles nur ein“ oder „Der Vater meint es doch nicht so“, mit diesen Sätzen hat sie mich oft beschwichtigt. Ich konnte noch nicht fragen: Ja, wie meint er es denn?

Ich habe mich in diese Familie eingefügt. Habe weder vom Vater noch von der Mutter gelernt, einen Konflikt auszutragen oder für meine Wünsche offen einzustehen. Die Gewaltandrohung durch den Vater und die Überfürsorglichkeit meiner Mutter ergänzten sich wirkungsvoll. Weder mit Vater noch mit Mutter habe ich die Auseinandersetzung riskiert. Ich habe in der Familie nicht gelernt, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.

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