Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/97

Teil 4: "Subjektive Krankheitstheorien bei multipler Sklerose" von H.-G. Heiden, S. Arnade

Die eigene Krankheit verstehen

Meine Lebenssituation bei Ausbruch meiner Krankheit war von einigen Belastungen geprägt. Im September 1990 starb mein Vater. Ich konnte eine erste Annäherung in Gesprächen mit ihm nicht weiter vertiefen. Im Frühjahr des folgenden Jahres trennte sich meine damalige Partnerin von mir. Sie hatte sich für andere Lebensziele entschieden, für die Ehe und Kinder. Zusätzlich hatte ich einige Konflikte am Arbeitsplatz. Die Arbeit als Kundendienstmeister bei Porsche und die Abendschule jeden Tag überforderten meine Kräfte in dieser Zeit. Gleichzeitig versuchte ich, mich gegen die Attacken meiner Mutter zu wehren, die wiederholt versuchte, mich von meinen expansiven Schritten abzubringen. Die ersten Symptome bemerkte ich schon Ende ‘91, ich hatte Sensibilitätsstörungen in den Beinen und konnte schlecht laufen.

Ich sehe diese körperliche Symptomatik in einem engen Zusammenhang mit meiner großen Angst vor Auseinandersetzungen und Trennungen und meiner erlernten resignativen Haltung.

Ich erfuhr jedoch schon in dieser Zeit eine Menge Unterstützung durch Wilfried Wieck und die Männergruppe. Ohne sie hätte ich diese Zeit nicht durchgehalten und mein Abi nicht geschafft. Sicherlich auch nicht den Mut aufgebracht, noch ein Studium zu beginnen. Dennoch hätte ich mir in der Therapie und bei meinen Freunden noch mehr holen können. Wenn ich es zu der Zeit schon besser gelernt gehabt hätte, um Hilfe zu fragen und zu werben.

Aus meinen Erfahrungen und Literaturstudien ziehe ich folgende Schlüsse:

Nicht nur durch offensichtliche Vernachlässigung, sondern ebenso durch ein Verhalten der Eltern, die ihre Kinder zu ihrem einzigen Lebensinhalt machen, die sie überfürsorglich von allen Anforderungen und vermeintlichen Bedrohungen fernhalten wollen, die expansive Schritte ihrer Kinder durch Verwöhnung unterdrückend vereiteln, kann es zu psychischen oder somatischen Erkrankungen kommen.

Für eine Erkrankung könnte es unterschiedliche Gründe geben, beispielsweise:

– das Kind kann keine soziale Kompetenz erwerben. Ein Mangel an Beziehungsfähigkeit führt zu Beziehungsverarmung, die mit erhöhter Anfälligkeit für Krankheiten gekoppelt ist.

Deshalb sehe ich es als naheliegend an, die biologischen Auswirkungen auch als psychologische Folgen anzusehen, und Krankheit als einen Weg zurück in die Gemeinschaft anzusehen, ohne das in der Kindheit erlernte Verhalten und den Lebensplan umfassend umstellen zu müssen. Dann hätte das Leiden bestimmte Zwecke:

Sind wir also für unsere Krankheiten selbst verantwortlich? Kann und sollte ich also meine MS vielleicht also als den kreativen Versuch der Beziehungsaufnahme unter Beibehaltung meiner Verwöhnungstendenzen betrachten? Es bleibt ein mißlungener Versuch, weil es ja mit Leiden und einer permanenten Bedrohung verbunden ist.

Es fällt mir schwer, mich diesem Gedanken zu nähern. Jedoch deutet einiges darauf hin. Wenn ich manchmal jogge, kann ich mir sagen: für jemanden mit MS, klappt das ja noch ganz gut. Da hilft mir das Symptom, meine eigenen Perfektionsansprüche zu relativieren. Es ist auch leichter, mich mit Gefühlen der Angst und Trauer zu akzeptieren und zu zeigen, wenn ich sie in Verbindung mit der Krankheit bringe. Ohne meine Erkrankung wäre mir der Ausstieg aus der – nicht zuletzt finanziellen – Sicherheit der Anstellung bei Porsche mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft noch schwerer gefallen. Es ist bequemer zu sagen, das kann ich nicht, anstatt: Ich will nicht. Ich habe oft versucht, die Freundschaft zu anderen Menschen über meine Hilfsbereitschaft zu erringen. Das ist grundsätzlich kein Fehler, jedoch bin ich manches Mal dabei über meine Kräfte hinausgegangen. Dann Grenzen zu ziehen oder Absagen zu erteilen, kann notwendig sein, führt sogar zu einer ehrlicheren Beziehung. Das wird durch eine Krankheit leichter gemacht. Ich bin eben nicht so perfekt und problemlos, wie meine Mutter mich gerne gehabt hätte.

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