Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/97

Teil 8 (letzter Teil): "Subjektive Krankheitstheorien bei multipler Sklerose" von H.-G. Heiden, S. Arnade

Herr F.

In welchen Situationen befand/befinde ich mich zur Zeit meiner Schübe? Wer hat mich geprägt, wie haben diese Personen auf mich gewirkt?

Fragen, die ich zur Klärung der Psychosomatik der MS für unablässig halte, vor allem auch, da ich noch nicht einmal sicher bin, MS zu haben und unter Umständen diese Krankheit nur als Vehikel gebrauche, meinen Mitmenschen meine Schwächen, mein Leid klarzumachen.

Psychische Ursachen umschließen nicht nur einen Mangel an irgendetwas, sondern auch die Möglichkeit, mit Hilfe einer Krankheit etwas zu erhalten. Wie steht das nun mit MS und mir? MS, glaube und spekuliere ich, gäbe mir die Möglichkeit, unter meinesgleichen – nämlich MS-Kranken – zu sein, wie ich bin. Mit Stärken und mit Schwächen – vor allem einer besonderen, der MS.

Ich selbst bin Perfektionist, will immer der Beste oder etwas besonderes sein. Eine solche Grundeinstellung verhindert jedoch, Schwäche zuzugeben. Schwäche, die immer und überall vorhanden ist – man muß sie nur erkennen und es wagen, unter “seinesgleichen“ eigene Schwächen zuzugestehen. Wer das nicht kann – wie ich bisher – muß andere Möglichkeiten finden. Bei mir wäre dies, hätte ich MS, der Fall. MS als die große Schwäche mit „meinesgleichen“.

Doch die Angst bleibt, die Angst vor der Bewegungslosigkeit und dem Alleingelassenwerden. Der Witz dabei ist: Je bewegungsloser ich bin, desto weniger kann ich mich darum kümmern, nicht alleine gelassen zu werden.

Womit ich beim nächsten Punkt wäre: Wer soll mir (als Sohn) in unserer Form der Gesellschaft zeigen, wie es so läuft in der Welt? Der Vater. Und der ist bei mir ein denkbar schwieriger. Nicht so sehr, was seine Umgangsformen angeht, da ist er mehr als umgänglich. Nein, sein (und mein) Problem ist, daß er andere nicht mit sich und seinen Problemen, die sich gewöhnlicherweise in Wut, Trauer u.ä. äußern, belasten will. Er zieht es vor, Beleidigungen zu schlucken und „Ja“ statt eines angebrachteren „Nein“ zu sagen – alles um des lieben Friedens willen. Ich sage nicht, daß mein Vater ein schlechter Vater ist. Er gibt sich Mühe und hat auch Qualitäten wie die Fähigkeit, zärtlich zum Sohn gewesen zu sein.

Doch im Leben taugt nunmal nicht nur Nettigkeit und Erfüllen von Erwartungen zum Überleben, dazu gehört mehr. Dazu gehört auch, Aggressionen nach außen (und nicht nur nach innen!) zu richten und im Konflikt mit anderen (nicht gegen andere!) Lösungen zu finden.

Potenziert hat sich das Ganze durch eine überstarke Mutter, die meinen Vater oft schlecht oder sogar fertig gemacht hat – vor meinen Augen, und ohne daß sich mein Vater gewehrt hätte.

Was macht nun ein Perfektionist, wenn er keinen Mut für Wege und zum Ausprobieren hat? Er träumt, kapselt sich ab. Als Kind habe ich meine Träume in exzessivem Spiel ausgelebt, als Jugendlicher in einer Verausgabung in die Schule und nun? Erwachsene spielen nicht mehr und gehen auch nicht mehr zur Schule.

Das Kind braucht einen Namen, und „MS“ wäre einer – allerdings ein schwieriger und einer mit Folgen. Die Angst ist da und sitzt tief. Auch fehlt es nicht an Symptomen einer MS. Doch will ich nicht vergessen, daß MS an sich nichts weiter als ein Symptom ist - dies ist zumindest meine teils spekulative, teils erfahrene Überzeugung. Ein Symptom, ein Ergebnis einer Lebensgeschichte und eines Teils Menschheitsgeschichte.

Was bleibt, ist die Angst vor einer beängstigenden Krankheit sowie Wut und Trauer aus vergangenen Tagen.

 


 

Ist er (der Lehrer) wahrhaft ein Weiser,
so fordert er euch nicht auf,
das Haus seiner Weisheit zu betreten;
eher geleitet er euch zur Schwelle
eures eigenen Geistes

Khalil Gibran »Der Prophet«

 

voriger Teil (7)
voriger Artikel ** nächster Artikel
Inhalt von FP 2/97 ** FP-Gesamtübersicht
Startseite