Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/99

"Der Patient ist nicht mündig, sondern krank."

Der Vorsitzende einer kassenärztlichen Vereinigung ließ sich in einer wohl hitzigen Debatte zu obiger Aussage hinreißen, und meinte man es böse, so könnte man sie in ebenso polemischer Weise aufgreifen wie sie klingt. Sehen wir klugerweise davon ab und nehmen sie als einen weiteren Indikator für ein wohlbekanntes Mißverhältnis im Selbstverständnis unseres Gesundheitssystems.

Dieses Gesundheitssystem krankt zunehmend spürbar an seiner längst überholten Abhängigkeit von den physikalischen Wurzeln der Schulmedizin. Man versuchte, den Organismus als weitgehend offenes mechanisches System zu verstehen und zu erklären - beispielsweise vergleichbar mit der Funkionsweise einer Maschine. Fällt diese Maschine aus, begibt sich ein/e SpezialistIn auf die Fehlersuche, findet das defekte Rädchen, tauscht es aus, und die Maschine gilt als geheilt und kann entlassen werden. Beim Vergleich mit menschlichen "Defekten" erscheint schon dann ein Problem, weil eine Maschine kein Placebo-Rädchen, ein Rädchen, das nicht wirklich eines ist, akzeptiert: Sie läuft nicht! Also muß es eine Ebene geben, die beide Funktionssysteme, das der Maschine und das des menschlichen Organismus, unterscheidet.

"Um Lebendes zu erforschen, muß man am Leben teilnehmen", läßt sich an dieser Stelle Victor von Weizsäcker zitieren. Seine Sicht fordert, organisch-menschliche Prozesse nicht auf objektiv-mechanistische Strukturen zu reduzieren, sondern die Subjektivität des oder der Einzelnen in das Verstehen von Krankheit und Gesundheit mit einzubeziehen.

Viele PatientInnen gehen den langen Marsch durch die Institutionen medizischer Einrichtungen, in denen sie den Ärzten ihre Not schildern, vielfach ohne in ihrer individuellen Besonderheit verstanden zu werden. Man kann diesen Menschen nicht helfen, weil man den zugrundeliegenden "Fehler" nicht aufspüren kann. Zumindest Linderung erfahren einige, die an MedizinerInnen geraten, die sich intensiv für die individuelle Geschichte der persönlichen Erkrankung interessieren. Den PatientInnen wird - vielleicht zum ersten Mal - die Gelegenheit gegeben, über ihre Erfahrungen zu sprechen, die sie im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung gemacht haben oder auch "nur" gemacht zu haben glauben.

Damit sei keine Lanze für eine alleinseligmachende Wirkung des offenen Ohres psychologisch geschulter ZuhörerInnen gebrochen. Vielmehr erscheint hier in Grundzügen das, was Thure von Uexküll, der als der Nestor der deutschen Psychosomatik gilt, plastisch auf den Punkt gebracht hat: "Wir haben eine Medizin für Körper ohne Seelen und eine Medizin für Seelen ohne Körper. Eine Medizin für Menschen, die ja einen Körper und eine Seele haben, ist noch eine Zukunftsaufgabe."

Diese Zukunftsaufgabe versteht Uexküll in einer sinnvollen Kombination verschiedener Ansätze - vor allem medizinischer und psychologischer - zu einer, wie er sie nennt, "bio-psycho-sozialen-" oder "Integrierten Medizin". Denn, so argumentiert er, Krankheit und Gesundheit werden entscheidend von der Umwelt mitbeeinflußt. Mit der konsequenten Umsetzung dieser Überzeugung machte er sich als Inhaber des internistischen Lehrstuhls der Universität Gießen schon früh keine Freunde, als er SozialwissenschaftlerInnen, PsychologInnen und PsychoanalytikerInnen an eine Medizinische Fakultät holte. Und noch heute stößt der mittlerweile 91jährige in solchen Einrichtungen nicht nur auf Skepsis.

Gemeinsam mit seinen MitarbeiterInnen entwickelte er die Methode der "reflektierten Kasuistik", die das Subjektive des Menschen in den Mittelpunkt des ärztlichen diagnostischen Prozesses stellt und ihn in seiner Ganzheitlichkeit zu verstehen sucht. Von zentraler Position in Uexkülls Denken ist seine Gewißheit darüber, daß Menschen - anders als rein physikalische Systeme - geschlossene Systeme sind. Diese können nie ausschließlich als körperlich unabhängige Einheiten betrachtet werden, sondern nur im Verhältnis zur sie umgebenden Umwelt. Besteht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, so herrscht nach Uexküll ein Zustand der "Passung", und der Mensch ist gesund. Im Falle einer "Passungsstörung" ist die Einheit aus seelischen, familiären und sozialen Faktoren aus dem Gleichgewicht geraten.

Die wesentliche Aufgabe der ÄrztInnen besteht in der "reflektierten Kasuistik" also darin, die individuelle Wirklichkeit ihrer ratsuchenden Patientinnen und Patienten und damit die möglichen Entwicklungsgeschichten ihrer Erkrankung zu erkennen und nachzuvollziehen. Daß dies nur in intensiven Gesprächen mit den jeweils einzelnen möglich ist, leuchtet ein. Aktives Zuhören und wirkliches Interesse an den individuellen Hintergründen der Ratsuchenden sind dabei die wesentlichen Voraussetzungen für ein umfassendes Verständnis der Bedingungen, die zur Krankheit geführt haben könnten. Dies bedeutet insgesamt, daß sowohl die Bereitschaft zur Offenheit der PatientInnen als auch das ihnen zugewandte Verhalten der ÄrztInnen den Heilungserfolg wesentlich bestimmen.

KH

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