Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/99

Die Gestaltung der Identität beim Erzählen der Lebensgeschichte

von Christian Roesler

Teil 1 von 3 Teilen

Übersicht

Teil 1 Einleitung
Wahrung von Kontinuität
"so gesehen, geht's mir jetzt sogar besser"
Teil 2 Reparaturstrategien
Teil 3 Die "Trotzdem-Haltung"
Krankheit als Kohärenzstifter
Wandlung des Lebens
Literatur
Über den Autor

 


Einleitung

Wie in der letzten Ausgabe schon angekündigt wurde, möchte ich hier einige Ergebnisse aus dem Freiburger Forschungsprojekt "Medien der Selbstvergewisserung bei Krankheit und Behinderung" vorstellen. Im Rahmen dieser Forschung habe ich mit Menschen, die an verschiedenen chronischen Krankheiten oder Behinderungen leiden, autobiographische Erzählinterviews durchgeführt, was bedeutet, daß ich mir von diesen Personen ihre Lebensgeschichte in aller Ausführlichkeit habe erzählen lassen und diese Lebensgeschichten aufgezeichnet und und in schriftliche Form gebracht habe. Unser Forschungsinteresse richtet sich dabei darauf, wie Menschen, deren Lebenslauf von einem solchen Einschnitt, wie es eine schwere chronische Krankheit oder Behinderung darstellt, unterbrochen wird, diese Infragestellung ihrer bisherigen Identität verarbeiten. Dabei ist unsere Auffassung, daß man die Identität eines Menschen, sein individuelles und einmaliges Selbstbild, das, was sich als kontinuierliche Linie durch sein Leben zieht und ihn ausmacht, am besten durch eine Analyse seiner eigenen biographischen Selbstdarstellung erfassen kann. Indem ein Mensch seine Lebensgeschichte erzählt, verdeutlicht er, durch welche Ereignisse er bestimmt wurde, wie er sich selbst und seine Welt sieht und welche eigenen Handlungen und Entscheidungen seinen Lebenslauf geprägt haben. Zur Analyse der biographischen Texte verwenden wir biographie- und erzählanalytische Methoden aus dem Bereich der Sozialwissenschaften (z.B. Glinka 1998, Riessman 1993, Rosenthal 1994) , mit denen sich auch die implizite Identität eines Erzählers herausarbeiten läßt, also eine Sicht der Person auf sich selbst, die sich im Erzähltext niederschlägt, der Person selbst möglicherweise aber so gar nicht bewußt ist. Unter den von mir untersuchten Fällen sind vier Personen, die an MS erkrankt sind. Im folgenden möchte ich darstellen, wie diese Menschen mit ihrer Krankheit in ihrem Leben umgegangen sind, wie sie mit ihrer Krankheit Sinn in ihrem Leben gefunden haben und welche Form von Identität sie dabei ausgeprägt haben.

Wahrung von Kontinuität

Der Erzähler Herr F., heute 59 Jahre alt, erkrankte vor über 20 Jahren. In seiner Lebenserzählung legt er großes Gewicht darauf, daß alle wichtigen Bereiche seines Lebens von Kontinuität gekennzeichnet sind: zu den Schulkameraden aus seinem Heimatdorf besteht immer noch regelmäßiger Kontakt; als die Krankheit ausbrach, konnte er trotzdem weiter in seinem Beruf arbeiten, blieb sein gesamtes Arbeitsleben in derselben Firma; als er dann nach Jahren doch berentet werden mußte, blieb ein regelmäßiger freundschaftlicher Kontakt zu seinen früheren Kollegen - bis heute - bestehen; seinem seit der Jugendzeit bestehenden Hobby, Blues- und Rockmusik und Besuch der entsprechenden Konzerte, kann er nun sogar verstärkt nachgehen. Aus biographieanalytischer Sicht stellt diese Betonung des Fortbestehens aller wichtigen Beziehungen und Lebensbereiche eine Kontinuitäts- oder Normalisierungsstrategie dar, mit der Herr F. die Bedrohung der Kontinuität seines Lebens erfolgreich bewältigt. Denn natürlich stellte der Ausbruch und die Diagnose der Krankheit MS die Fortführung seines gewohnten Lebens zunächst einmal sehr in Frage: er mußte befürchten, nicht mehr seinen Beruf ausüben zu können, und fürchtete wohl auch, von anderen wegen seiner Krankheit abgelehnt oder ausgegrenzt zu werden. Mit seiner Lebensgeschichte belegt er, daß dies nicht so kam, und kann so die Krankheit in sein Leben einfügen - sie hat seiner Biographie keinen wirklichenSchaden zugefügt. Insofern präsentiert sich Herr F. mit einer Identität, in der die Bewahrung und Fortführung des Bestehenden einen hohen Wert hat.

"so gesehen, geht's mir jetzt sogar besser"

Auch die Erzählerin Frau E., 42 Jahre, gestaltet ihre Lebensgeschichte als eine kontinuierliche Biographie ohne Brüche und Verluste. Bei der Erzählung vom Ausbruch der Krankheit beschreibt sie sich selbst als sorglos und empfindet die medizinischen Maßnahmen eher als übertrieben. Als dann schließlich die Diagnose MS feststeht, kann sie auch diese neue Lebenssituation normalisieren, indem sie die Krankheit als eine Form betrachtet, die sich durch angemessene Medikation und medizinische Maßnahmen komntrollieren läßt. Diese Darstellung führt zu dem Bild, daß die Krankheit in ihrem Leben keinen Bruch oder eine irgendwie belastende Einschränkung darstellt. Zentral für Frau E. ist, daß sie sich einen Raum persönlicher Unabhängigkeit und Normalität aufrechterhalten kann. In dieser Hinsicht erlebt sie sich sogar zufriedener als vor der Erkrankung: die Krankheit war ihr ein Hilfsmittel dabei, sich von belastenden und entfremdenden Elementen in ihrem Leben zu befreien: vom alkoholabhängigen Ehemann, von dem Zwang zu einer anstrengenden Arbeitsbiographie, von Beschränkungen ihrer persönlichen Freiheit durch Familie und andere Verpflichtungen. Aktivitäten, die nun unmöglich geworden sind, werden von der Erzählerin umgewertet: z.B. waren die früheren Motorradurlaube in Jugoslawien dann doch nur gefährlich und abstrengend. Auch diese Selbstdarstellung folgt also einer Normalisierungsstrategie: die Krankheit wirkt nicht bedrohend oder zerstörend auf die Biographie, sondern läßt sich einfügen, kontrollieren und führt sogar zu einem der Erzählerin mehr entsprechenden Leben.

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