Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/99 |
Teil 4: "Neulich in der Wissenschaft..."
Die wohl verbreitetste Begleiterscheinung bei MS ist die schnelle
Ermüdbarkeit von Betroffenen. Nahezu 80% aller MS-Betroffenen klagen nach
Angaben von Ford et al. (1998) darüber, und viele von ihnen
bezeichnen diese Symptomatik als die für ihre Lebensqualität
belastendste. In einer Studie erhoben die Autoren Angaben von Betroffenen zu
deren Ängstlichkeit und Depressivität und setzten diese mit Angaben
zu Müdigkeitssymptomen in Beziehung. Neu ist die Trennung zwischen
geistiger Müdigkeit auf der einen und körperlicher Müdigkeit auf
der anderen Seite. Das interessante Ergebnis besteht darin, daß
einerseits zwar körperliche und geistige Müdigkeit in enger Beziehung
zueinander stehen, andererseits aber körperliche Müdigkeit
unabhängig von psychischen Faktoren wie Ängstlichkeit und
Depressivität steht. Die geistige Müdigkeit hat also sehr viel mit
Stimmungsbeeinträchtigungen zu tun, die unabhängig von der
körperlichen Seite wirken.
Gibt es also eine Müdigkeit, der nicht
allein mit Schlaf beizukommen ist?
In ihrem Alltag fühlen sich viele MS-Betroffene zuweilen von ihrem
Kurzzeitgedächtnis im Stich gelassen.
Paul et al. (1997) wenden sich in ihrer Laborstudie
der Frage nach möglichen Beeinträchtigungen des bislang wenig
untersuchten Langzeitgedächtnisses zu. Sie verglichen die "Leistungen" von
MS-Betroffenen mit denen einer Kontrollgruppe hinsichtlich eines biographischen
Interviews, eines Tests zum Wiedererkennen bekannter Gesichter, dem Wiedergeben
der bisherigen US-amerikanischen Präsidenten und eines Tests, bei dem 14
Wörter gelernt und später wieder abgerufen werden sollten.
Die
MS-Betroffenen schnitten zwar bei der Wörterliste und dem Gesichtertest
schlechter ab als die Kontrollgruppe, nicht aber beim Erinnern der
Präsidentennamen. Beim autobiographischen Interview zeigten die
MS-Betroffenen zwar signifikante Schwächen bei semantischen (Bedeutungen)
Inhalten, nicht aber bei episodischen (Verläufe) Inhalten. Nach den
Autoren deuten die Ergebnisse darauf hin, daß MS-Betroffene
Schwierigkeiten haben können, Gedächtnisinhalte abzurufen, die
zeitlich vor dem Beginn ihrer Erkrankung liegen, während zeitlich danach
liegende Ereignisse gut erinnerbar sind und auch die aufgabenrelevanten
Informationen zur Vefügung stehen.
Ein in der Forschung zu wenig beachteter, ebenfalls sehr alltagsbezogener Bereich ist die Sexualität von MS-Betroffenen. Stenager et al. (1996) wenden sich ausschließlich sogenannten "Funktionsstörungen" zu. In ihrer Stichprobe beobachteten sie über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg einen signifikanten Anstieg sexueller "Dysfunktionen", der sich bei Männern in ein bis zwei, bei Frauen in zwei und mehr Symptomen äußerte.
Eine ganzheitlichere Sicht nimmt Dupont (1996) ein. In seiner Befragung legte er Wert auf Angaben zu sexueller und partnerschaftlicher Zufriedenheit, zu MS-spezifischen sexuellen Schwierigkeiten. Seine Ergebnisse zeigen, daß das sexuelle Leben der Frauen und Männer in hohem Maße von ihrer MS beeinflußt ist. Die Probleme betreffen indirekte körperliche Veränderungen, direkte sexuelle Funktionsstörungen, Einstellungen zu möglichen künftigen Veränderungen in der Sexualität (Vorlieben, Erwartungen, Kommunikation mit dem Partner). Insgesamt waren Männer häufiger von sexuellen Dysfunktionen betroffen und sprachen auch häufiger mit ihren Ärzten darüber. Lediglich 3% der Frauen, aber 25% der Männer waren bereits bei einem Sexualtherapeuten. Auch die nicht betroffenen Partner/innen berichten von einem hohen Ausmaß an Funktionsstörungen und auch Libidoverlust. In einem Drittel der Stichprobe waren Partnerschaftsprobleme vorhanden, wobei die weiblichen Partner am unzufriedensten waren. Das Ausmaß der sexuellen Funktionsstörungen stand in keinem Zusammenhang mit dem Alter, der Erkrankungsdauer oder dem psychischen Wohlbefinden. Hingegen waren die Funktionsstörungen der nicht betroffenen Partner/innen eng verknüpft mit dem Lebensalter, der Erkrankungsdauer und dem Grad der wahrgenommenen Einflußnahme der MS auf die Betroffenen.
Hulter & Lundberg (1995) schließlich widmeten sich ausschließlich der Situation MS-betroffener Frauen. Sie untersuchten 47 Frauen mit fortgeschrittener MS im Alter von 21 bis 55 Jahren. Die meisten von ihnen berichteten von einer Abnahme des sexuellen Verlangens, viele von einer reduzierten Orgasmusbereitschaft. 62% beklagen sensorische Dysfunktionen im Genitalbereich, 77% beklagen eine Schwäche der Beckenmuskulatur, 66% haben Schwierigkeiten mit Darmproblemen und 89% mit einer Blasendysfunktion. Die Veränderungen der sexuellen Funktionen korrelierten mit neurologischen Symptomen im Kreuzbeinbereich, wie Beckenbodenschwäche, Nieren-, Darmstörungen, mit Bewegungsunfähigkeit, Schwindelgefühlen, Unregelmäßigkeiten bei der Periode und dem Lebensalter.
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