Therapeutisches Peer-Counseling

Bericht über ein früheres Beratungsangebot der Stiftung LEBENSNERV für MS-Betroffene
von Monika Maraun


Einleitung

"Die Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, und trotz intensiver Forschung ist die Ursache der MS immer noch unbekannt. In der BRD sind etwa 120.000 Personen von MS betroffen. Zu etwa 40 Prozent sind MS-Betroffene auf Hilfsmittel wie Stützen, Rollstuhl, etc. angewiesen. Der Verlauf der MS ist unvorhersehbar. Die Krankheit verläuft manchmal gleichmäßig fortschreitend (= progredient), meist aber in Schüben, die sich zu Beginn der Krankheit zeitweilig zurückbilden. Die körperliche Seite der Erkrankung wird mit großem Aufwand erforscht, den psychischen Fragestellungen wird jedoch bislang zu wenig nachgegangen.

Aus der Literatur ist bekannt, dass die Diagnosemitteilung und der Verlauf einer Multiplen Sklerose tiefe Spuren in der Lebensgeschichte der Betroffenen hinterlassen. Häufig führen die Symptome dieser bisher unheilbaren chronischen Erkrankung zum Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, zu Selbstwertproblemen und Resignation, da die gesamte Identität der Betroffenen erschüttert wird. Obwohl niemand diese Tatsache bezweifelt, werden die Betroffenen mit ihren Angehörigen und FreundInnen doch weitgehend alleine gelassen." (Dr. Sigrid Arnade, Projektskizze "Weiterbildung in lebensbegleitender Beratung", Berlin 2002)

Die Stiftung LEBENSNERV konnte dem entgegenwirken, indem sie mich zweieinhalb Jahre (von 1999 bis 2001) als behinderte Gestalttherapeutin beschäftigte. Ich arbeite im Sinne des Peer-Counseling: Empowerment (Befähigung) Selbstbestimmung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind drei Grundsäulen meiner Arbeit.


In eigener Sache

Seit 1993 lebe ich mit Behinderung. Die Diagnose einer Netzhauterkrankung kam für mich völlig überraschend. Meine gesamte Lebenssituation wurde dadurch erschüttert und meine Lebensplanung geriet völlig aus dem Gleichgewicht.

In der Zeit, in der die Retinitis Pigmentosa entdeckt wurde, bewegten mich viele Fragen: Was soll aus mir werden? Kann ich meine Arbeit weiter ausführen und wie lange wird das möglich sein? Kann ich überhaupt mit dieser schweren Behinderung leben?

Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich in der Position gewesen, in meiner Arbeit anderen Menschen zu helfen; jetzt bin ich selbst behindert. Vor mir lag ein großer leerer Raum, von dem ich zunächst keine Vorstellung hatte, wie ich ihn gestalten sollte. Hinter mir lagen 18 Jahre erwerbstätige Arbeit in zwei Berufen (Krankenschwester, Erzieherin), von denen ich mich wegen der voranschreitenden Erblindung verabschieden musste.

Ich fühlte mich an einem Scheidepunkt und überlegte, wie ich mit meinen Arbeitserfahrungen weitergehen könnte. Auch wenn ich nicht mehr sehen konnte, war doch mein Wissen nicht verloren. Da ich umfangreiche Erfahrungen in den Bereichen Medizin, Therapie und Selbsterfahrung hatte, entschied ich mich für eine dreieinhalbjährige Gestalttherapieausbildung.

Ich beantragte diese Ausbildung als Rehabilitation. Das Arbeitsamt bot mir an, eine Rehabilitation zur Bürofachfrau zu finanzieren; eine Therapieausbildung für Sehbehinderte oder Blinde gebe es nicht. Ich lehnte ab. Wenn ich schon mit einer Behinderung leben muss, dann möchte ich wenigstens eine Arbeit machen, die mir liegt. Meine Konsequenz war: Ich finanzierte meine Therapieausbildung selber.

Meine Augen wurden zunehmend schlechter. Ich machte meine Verzweiflung, Trauer und Wut zu Themen der Therapieausbildung. Im Gestaltdialog hielt ich Zwiesprache mit meinen Augen. Sie sagten mir, dass sie so angenommen und geliebt werden möchten, wie sie sind.

Mir wurde klar, dass ich nur eine Möglichkeit hatte: Mich und mein Erblinden anzunehmen.

Ich begegnete auch meinen Widerständen: Ich war so wütend darüber, dass ich dies erleben musste. "Warum ich?" schrie ich einmal in einer Übung und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Ich konnte meine Sehfähigkeit schwer loslassen und weinte viel. Das erleichterte mich und machte mich durchlässig. Ich wusste, dass ich mich verhärte, wenn ich meine Tränen zurückhielte. Manchmal befürchtete ich, nie wieder lachen zu können.

Für mich war hilfreich, während der Ausbildung die Vipassana Meditation (eine Meditation zur Körperwahrnehmung) zu erlernen. In der Meditation schulte ich meine Wahrnehmung und lernte mein beobachtendes Selbst kennen; ich meditierte jeden Tag.

In Visualisierungsübungen fand ich einen Ort der Kraft in mir und lernte, verletzende Erlebnisse zu verarbeiten. Das stärkte mein Selbstvertrauen und entspannte mich.

Eines Morgens wachte ich auf und fühlte, dass ich über den Berg war: Ich hatte das tiefe Tal der Trauer durchwandert. Von nun an ging es mir zunehmend besser.

Ich schloss meine Ausbildung erfolgreich ab und war fest davon überzeugt, dass Gestalttherapeutin mein zukünftiger Beruf sei.

Im Sommer 1998 bewarb ich mich bei der Stiftung LEBENSNERV als Peer-Counselorin in einem ABM-Projekt. Leider konnte sich die zuständige Mitarbeiterin des Arbeitsamtes nicht vorstellen, dass ich als blinde Frau den Arbeitsweg schaffen könne und verhinderte meine Einstellung in das ABM-Projekt.

Doch Frau Dr. Arnade war überzeugt, dass ich genau die richtige Therapeutin für das Peer-Counseling sei. Sie stellte mich im Februar 1999 mit der degressiven Förderung des Arbeitsamtes ein. Zusätzlich beantragte sie Gelder bei Sponsoren. Damit war schließlich eine mehrjährige Beschäftigung für mich als Peer-Counselorin und das Beratungsangebot für MS-Betroffene gesichert.

Im Juli 2001 bekam ich eine feste Anstellung als Peer-Counselorin in der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Ich konnte alle Ratsuchenden mitnehmen, da dieser Arbeitsplatz neu eingerichtet worden war.

Die folgenden Ausführungen zeigen auf, welche Rahmenbedingungen dem therapeutischen Peer-Counseling zugrunde liegen, erstellen ein Profil der Ratsuchenden und beschreiben die Themen der Beratung; dargestellt sind wichtige Übungen aus der Gestalttherapie, Grenzen in der Beratungsarbeit und Aspekte des sogenannten Peer-Effektes.

 

Rahmenbedingungen des therapeutischen Peer-Counseling

Die Beratung war ein kostenloses Angebot der Stiftung LEBENSNERV für MS- Betroffene und fand in den Räumen der Berliner Fürst Donnersmarck-Stiftung statt. Als Kooperationspartnerin stellte die Fürst Donnersmarck-Stiftung dem Projekt kostenlos einen barrierefreien Beratungsraum zur Verfügung.

In den ersten drei Monaten kam das Arbeitsamt vollständig für die Personalkosten auf; ab Mai 1999 wurde die Beschäftigung mit degressiven Zuschüssen durch das Arbeitsamt gefördert. Die restlichen Mittel zur Bezahlung der Lohn- und Sachkosten wurden durch finanzielle Unterstützung der "Stiftung Arbeit für Behinderte", der "Stiftung für Bildung und Behindertenförderung", sowie des "MSK e.V." gesponsert.

Die Ratsuchenden kamen regelmäßig in wöchentlichen Abständen zur Beratung. Um die Beratungsarbeit publik zu machen, veröffentlichten wir in FORUM PSYCHOSOMATIK, der Zeitschrift für psychosomatische MS-Forschung der Stiftung LEBENSNERV, und dem Programmheft der Blisse 14 "Mobilität beginnt im Kopf" den folgenden Artikel über das Angebot der Beratungsarbeit.

Ich bin mehr als die Behinderung
Beratungsangebot der Stiftung LEBENSNERV

Die Diagnose einer chronischen Erkrankung wie der MS bedeutet für die betroffene Person einen grundlegenden Einschnitt in das bisher geführte Leben. Plötzlich ist nichts mehr, wie es vorher war.

"Wie soll es weitergehen? Was habe ich falsch gemacht? Wie geht es beruflich weiter? Hält meine Beziehung stand, auch wenn ich behindert bin? Was wird aus mir?" Diese und viele weitere Fragen können den Alltag derartig überfluten, dass ich gar nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht, geschweige denn, was das Herz dazu sagt. Wut und Enttäuschung, Hilflosigkeit und Traurigkeit und all diese ungeliebten und gern weggeschobenen Gefühle tauchen plötzlich wie unbezwingbare Schatten im Leben auf und wollen einfach nicht weichen.

Oft werden mit bestimmten Erkrankungen auch bestimmte Vorstellungen, Hoffnungen, Ängste und Bedeutungen verbunden, die kulturell oder gesellschaftlich begründet sind. Ob diese Bedeutungszuweisungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen, ob ich der Krankheit einen positiven (z.B. Wachstumsmöglichkeit) oder negativen (z.B. Strafe) Wert beimesse - all das ist für mich und den Verlauf der Krankheit von großer Bedeutung. Denn oft ist das seelische Leiden zerstörerischer als die Krankheit selbst.

Wie kann ich damit umgehen? Ich möchte Ihnen das Angebot machen, Ihre persönlichen Fragen in Bezug auf sich selbst, Ihre individuelle Alltagssituation und das dazugehörige Umfeld in einer angenehmen und entspannten Atmosphäre zu erforschen.

Hier dürfen Sie sich erlauben, Ihren Gedanken, Vorstellungen, Befürchtungen, Hoffnungen und Gefühlen Raum zu geben. Sie haben die Möglichkeit, sie anzunehmen und auszudrücken auf die Art und Weise, wie es Ihnen gut tut. Das kann zum Beispiel im Gespräch, im Dialog, durch Malen, Rollenspiel, Ausdruck mit der Stimme und/oder dem Körper geschehen. Dabei soll es nicht um die Bewertung gehen, sondern um die Bewusstwerdung und Betrachtung dessen, was jetzt ist. Sie können mit dem Erkannten experimentieren und eine neue Art des Umgangs herausfinden.

Ein weiterer Aspekt könnte das Ausloten zwischen aktivem Tun und annehmendem Dasein beinhalten. Im Zusammenhang mit Erkrankung und körperlicher Einschränkung kann es förderlich sein, die Grenzen des "Machbaren" neu zu definieren und sie dem eigenen Wohlbefinden anzupassen. Dieses kann zum Beispiel mit der Frage geschehen: Was tut mir gut, und wo überfordere ich mich?

Hier kann es hilfreich sein, zunächst einmal die Wahrnehmung auf die Körperempfindungen zu lenken und herauszufinden, was mir gut tut, was mir schadet und was ich brauche, um mich im Alltag entspannen zu können. Eine weitere Möglichkeit des persönlichen Wachstums könnte sein, sich auf die Suche nach den eigenen Qualitäten und den Einzigartigkeiten zu machen, um dadurch einen Zugang zu den eigenen Kraftquellen zu finden.

Da ich selbst von einer chronisch fortschreitenden Erkrankung betroffen bin und seit 1993 mit körperlicher Einschränkung lebe, kann ich Ihnen im Sinne des Peer -Counseling meine Beratung als behinderte Gestalttherapeutin anbieten. Ich habe im Zusammenhang mit der Einschränkung die Erfahrung gemacht, meinen ursprünglichen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Das hat dazu geführt, dass ich mich auf die Suche nach einem neuen Wirkungsfeld begab, in dem ich alle meine beruflichen und persönlichen Erfahrungen und Kompetenzen einfließen lassen kann.

Ich möchte Sie herzlich dazu einladen, mein Beratungsangebot bei der Stiftung LEBENSNERV anzunehmen und freue mich auf Ihre Anmeldung.

Beratung auf Peer- Counseling-Basis
Anmeldung bei Monika Maraun

 

Supervision

Die Beratungstätigkeit wurde durch eine Supervision unterstützt. Ich nahm in vierzehntägigen Abständen eine Stunde zur Reflektion meiner Arbeit und thematisierte dort spezielle Fragen, die einzelne Beratungssituationen betrafen, beispielsweise Themen, die mir nahe gingen, weil sie meine eigenen Probleme oder Erfahrungen widerspiegelten.

Supervision trägt im Zusammenhang mit der beratenden Arbeit zur Qualitätssicherung bei. Sie kann ein Burnout verhindern helfen und ist ein Ort für Themen, über die die Beraterin aufgrund der Schweigepflicht nicht mit anderen Personen sprechen darf. Verstrickungen mit der Ratsuchenden, die manchmal in einem intensiven Beratungsprozess entstehen, können in der Supervision wieder aufgelöst werden.

 

Statistische Angaben

Das Angebot der Stiftung LEBENSNERV traf auf große Nachfrage. So konnten in diesem Zeitraum 12 Ratsuchende (11 Frauen, ein Mann) in 569 Beratungsstunden eine kontinuierliche Prozessbegleitung wahrnehmen. Weitere 21 Frauen und drei Männer ließen sich auf eine Warteliste eintragen.

Die Beratungsprozesse waren von unterschiedlicher Dauer; sie reichten von zwei Stunden bis zu 89 Stunden bis Ende Juni 2001, als meine Beratungstätigkeit bei der Stiftung LEBENSNERV endete.

Symptome seit 1981
Diagnosestellung 1988
seit 1990 im Rollstuhl A

1. : weiblich
Alter: 57 Jahre
Beruf: Hausfrau
Familiensituation: geschieden, ein erwachsener Sohn
Wohnsituation: lebt alleine in barrierefreier Wohnung
Diagnose:
Anzahl: 2 Stunden
   
2. : weiblich
Alter: 48 Jahre
Beruf: Rentnerin, Hausfrau, Mutter
Familiensituation: lebt von ihrem Mann getrennt
lebt mit ihrem 11 jährigen Sohn zusammen
Wohnsituation: barrierefreie Wohnung
Diagnose: 1976
Arthritis in Händen und Knien
benötigt eine Gehstütze zum Laufen
Anzahl: 76 Stunden
   
3. : weiblich
Alter: 43 Jahre
Beruf: abgebrochenes Studium in Ethnologie, Theaterwissenschaften
und Religionswissenschaft
Familiensituation: nicht verheiratet
Wohnsituation: lebt alleine in einer kleinen Wohnung
Diagnose: 1989
Anzahl: 36 Stunden
   
4. : männlich
Alter: 28 Jahre
Beruf: Beamter im nichttechnischen gehobenen Dienst
Familiensituation: nicht verheiratet
Wohnsituation: lebt alleine in seiner 2-Zimmer-Wohnung
Diagnose: 1995
leichte Einschränkungen beim Gehen
leichte Sehstörungen
Anzahl: 89 Stunden bis Ende Juni 2001
   
5. : weiblich
Alter: 27 Jahre
Berufe: Pianistin und Tänzerin
Familiensituation: nicht verheiratet
Wohnsituation: lebt allein in einer Wohnung im 4. Stock
ohne Aufzug mit Außentoilette und Ofenheizung
Diagnose: 1994
je nach körperlicher Verfassung mit zwei Gehstützen, im Rollstuhl oder ohne Hilfsmittel
Anzahl: 74 Stunden bis Ende Juni 2001
   
6.: weiblich
Alter: 40 Jahre
Beruf: Hotelfachfrau
Familiensituation: verheiratet, eine Tochter
Wohnsituation: lebt mit ihrer Tochter, ihrer Assistentin und dem Ehemann in
barrierefreier Wohnung
Diagnose: 1989;
seit 1992 im Rollstuhl
sie ist vollkommen auf Hilfe angewiesen
kann nur sehr schlecht sehen
Anzahl: 51 Stunden bis Ende Juni 2001
   
7.: weiblich
Alter: 27 Jahre
Beruf: Sekretärin
Familiensituation: nicht verheiratet
Wohnsituation: Wohnung mit Garten und Terrasse
Diagnose: seit 1988 betroffen
Diagnose 1990
hat keine sichtbaren Einschränkungen
Anzahl: 19 Stunden
   
8.: weiblich
Alter: 44 Jahre
Beruf: Optikerin
Familiensituation: nicht verheiratet
lebt seit 1974 mit ihrem Partner zusammen
Wohnsituation: barrierefreie Wohnung
Diagnose: betroffen seit 1993
Diagnosestellung 1994
ist auf den Rollstuhl angewiesen
Anzahl: 63 Stunden bis Ende Juni 2001
   
9.: weiblich
Alter: 56 Jahre
Beruf: Sekretärin
Familiensituation: verheiratet, zwei erwachsene Kinder
Wohnsituation: lebt mit ihrem Mann in einer Wohnung mit Aufzug
Diagnose: 1996
ist zeitweilig auf Gehstützen oder den Rollstuhl angewiesen
Anzahl: 71 Stunden bis Ende Juni 2001
   
10.: weiblich
Alter: 44 Jahre
Berufe: Dolmetscherin für englischsprachige Besucher in Moskau vor ihrer Ausreise,
Bankkauffrau, Rentnerin
Familiensituation: verheiratet, eine 10 jährige Tochter
Diagnose: 1985 erster Schub
1986 Diagnosestellung
ist auf Gehstützen angewiesen und benutzt zeitweilig einen Rollator
Anzahl: 20 Stunden
   
11.: weiblich
Alter: 49 Jahre
Beruf: Bürogehilfin
Familiensituation: verheiratet
zwei erwachsene Kinder, die nicht mehr Zuhause leben
Wohnsituation: eigenes Haus mit Garten
sie kann nur die untere Etage im Haus nutzen
Diagnose: erste Anzeichen 1983
Diagnose wurde 1985 gestellt
ist auf den Rollstuhl angewiesen
kann Arme und Beine kaum noch bewegen
Anzahl: 15 Stunden bis Ende Juni 2001
   
12.: weiblich
Alter: 36 Jahre
Berufe: Einzelhandelskauffrau, Krankenschwester
Schülerin (2.Bildungsweg)
Familiensituation: nicht verheiratet, einen 14 jährigen Sohn
Wohnsituation: eigene Wohnung, die sie mit ihrem Sohn teilt
Diagnose: 1998
Anzahl: 53 Stunden

 

Die Bedeutung der Diagnose und eines Lebens mit MS

Die Diagnose Multiple Sklerose (MS) bedeutet für die betroffene Person einen grundlegenden Einschnitt in das bisher geführte Leben. Sie erlebt die Diagnosestellung oftmals mit einer gewissen Erleichterung, weil sie die Ursache der bisherigen ungeklärten Symptome und Schübe aufdeckt.

Vor der Klärung der Diagnose werden die Betroffenen häufig der Einbildung beschuldigt, weil die ÄrztInnen zunächst kein eindeutiges Krankheitsbild erkennen können.

Nach der Diagnosestellung beginnt eine Phase des Umgangs mit der Erkrankung. Außer der Krankheitsbewältigung kommt auf die Betroffenen die Aufgabe zu, ihr soziales Umfeld über die Erkrankung zu informieren und mit Reaktionen der Umwelt auf die Behinderung umgehen zu lernen. Leider herrscht in unserer Gesellschaft immer noch das Bild, dass MS-Betroffene "an den Rollstuhl gefesselt" seien und im Endstadium daran sterben. Immer wieder sind Betroffene damit konfrontiert, dass sie als "geistig behindert" eingeordnet werden, da die Krankheit ja im Kopf stattfindet. Einige werden als Betrunkene diffamiert, weil sie einen torkelnden Gang haben.

In der Partnerschaft können Veränderungen eintreten, wenn die betroffene Frau Aufgaben im Haushalt nicht mehr wie gewohnt bewältigen kann, weil sie einen Schub hat oder mit einem progredierenden Verlauf der MS Einschränkungen der Mobilität verbunden sind.

Oft entsteht ein Einbruch in das gängige Rollenverständnis, das in der Ehe entwickelt wurde. Das kann zu Partnerschaftskonflikten führen, in denen die Betroffene mit weiteren Belastungen auf psychischer Ebene konfrontiert ist.

Es ist üblich, Ehemänner zu bewundern, wenn sie mit einer schwer erkrankten Frau zusammen leben. Immer wieder erfuhr ich in Beratungen, dass Ehemänner, deren Partnerinnen mit MS leben, für ihre guten Taten bewundert werden oder bemitleidet dafür, wie schwer sie es haben. In Außenkontakten des Paares wird die Frau oftmals nicht mehr direkt angesprochen, sondern in ihrer Gegenwart über sie gesprochen. Sie zählt nicht mehr. Die Betroffene fühlt sich dadurch entmündigt und nicht beachtet.

Viele Menschen haben Botschaften verinnerlicht, behinderten Menschen helfen zu müssen. Sie wollen einfach etwas Gutes tun und fragen nicht danach, ob die Betroffenen Hilfe benötigen oder nicht. Sie schieben Menschen im Rollstuhl auf der Straße einfach weg, ohne überhaupt Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Oft müssen sich Betroffene anhören, dass dies doch nur gut gemeint sei. Durch dieses Verhalten wird ihnen jedoch automatisch die Rolle der Hilflosen zugewiesen. Die helfende Person kann daraus den Gewinn ziehen, gut zu sein oder die eigene Hilflosigkeit überspielen. Diese Rollenzuschreibungen beeinträchtigen das Selbstbewusstsein der Betroffenen. Neben der Krankheitsbewältigung müssen sie sich mit entmündigenden Einflüssen der Fürsorgegesellschaft auseinander setzen.

Häufige Krankenhausaufenthalte und der Umgang mit Behörden, um Nachteils-ausgleiche zu beantragen, erfordern einen zermürbenden Kraftaufwand von den Betroffenen. Viele sind herausgefordert, ihre Rechte durch Widersprüche einzuklagen, weil ihre Anträge abgelehnt werden. Bauliche Barrieren wie Treppen, nicht barrierefreie Toiletten und Busse im öffentlichen Personennahverkehr behindern Menschen mit Multipler Sklerose. Diese Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben schränkt ihre Mobilität ein und verstärkt Gefühle der Hilflosigkeit.

Neben gesellschaftlichen Faktoren spielen persönliche Einstellungen und Bewältigungsmuster eine wichtige Rolle.

Da der Krankheitsverlauf der MS unberechenbar ist und immer wieder Schübe mit vorübergehenden Einschränkungen auftreten, durchleben viele Betroffene längere Phasen der Angst. Mit der MS gehen Phasen unterschiedlicher Beeinträchtigung einher, wie zum Beispiel Seh- oder Gehstörungen, Harn- und Stuhl-inkontinenz, Lähmungen in den Armen, Sensibilitäts- und Sprachstörungen. Sie befürchten, dass sich die Symptome nicht mehr vollständig zurückbilden und sie dadurch bleibende Einschränkungen behalten.

Durch den schubförmigen Verlauf sind die Betroffenen vorübergehend nicht leistungsfähig und können ihrer beruflichen Tätigkeit nicht mehr wie bisher nachgehen. Sie befürchten, aufgrund körperlicher Einschränkungen oder häufiger Krankschreibungen ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Tatsächlich geschieht das oftmals aus einem der beiden Gründe. Deshalb verheimlichen sie die Diagnose, solange sie können. Das führt zu einer zusätzlichen psychischen Belastung, denn mit diesem Geheimnis lebt es sich wie mit einem Schatten, der verborgen werden muss. Die Geheimhaltung erzeugt Leistungsdruck, weil die Symptome nicht erkannt werden dürfen. Die Betroffenen müssen einen Teil von sich leugnen, der eigentlich ihre Aufmerksamkeit forderte. Die Angst vor bleibenden Einschränkungen bei einem Schub verursacht bei den Betroffenen Stress. Sie befürchten, dass ihr gesamtes Lebenskonzept zusammenbricht und sie auf einen Rollstuhl angewiesen sein werden. Ohnmacht, Verzweiflung, Schuldgefühle, Angst, Trauer und Wut beherrschen ihre Gefühlswelt. Einige Betroffene hatten die Vorstellung, die Erkrankung sei eine Bestrafung, beispielsweise für eine Abtreibung, für falsche Ernährung oder zuviel Stress bei der Arbeit. Diese Vorstellungen schwächten ihr Selbstbewusstsein.

In der Hoffnung, dass sich ihr Leben nach einem Schub wieder normalisiert, versuchen sie alles, was bleibende Einschränkungen verhindern könnte. Einige glaubten, sie könnten der Behinderung entgegenwirken, indem sie sich während eines Schubes noch mehr anstrengten, beispielsweise lange Spaziergänge machten, obwohl sie kaum laufen konnten. Sie hofften, dass die Beine wieder auf sie hörten, wenn sie sich nur ausreichend bemühten. Leider hat dies nur zu größerer Erschöpfung geführt.

Alle betroffenen Ratsuchenden haben bei Beginn der Beratung schon einige Jahre mit MS gelebt und mit unterschiedlichem Schweregrad von Einschränkungen.

 

Themen der Beratung

Alle Ratsuchenden hatten den Wunsch, sich mit ihrer Erkrankung und deren Auswirkungen auf ihr Leben auseinander zu setzen. Die Themen sind individuell sehr unterschiedlich und zeigen, dass sich die Ratsuchenden durch die Beratung einen besseren Umgang mit ihrer persönlichen Situation erhofften.

Einige Ratsuchende mussten wegen des progredierenden Verlaufs der MS ihren Arbeitsplatz aufgeben; sie haben sich zurückgezogen und sind in eine Situation der Hilflosigkeit geraten. Sie gingen sehr unterschiedlich damit um.

Eine Betroffene verhärtete sich zunehmend nach außen und verbarg dahinter ihren Schmerz über den erlittenen Verlust. Sie versuchte, ihre Umwelt zu kontrollieren und sprach keine zusammenhängenden Sätze mehr mit ihrer Assistentin, sondern kommandierte in einem Befehlston. Dies führte zu ständigen Streitigkeiten zwischen beiden und schließlich zur Verweigerung der Assistentin.

Eine andere Betroffene ist durch einen schnellen, progredierenden Verlauf so stark eingeschränkt gewesen, dass sie zunächst monatelang im Bett liegen musste. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, überhaupt jemals wieder in ein Café zu gehen. Wo sollte sie beispielsweise aufs Klo gehen? Ihre ständige Angst, einzunässen, bestätigte sich schon bei ihrem ersten Gang auf die Straße. Sie entschied, nur noch Zuhause zu bleiben und isolierte sich zunehmend. Durch den mangelnden Kontakt zur Außenwelt verstrickte sie sich oft in chaotische Gedankenzustände.

Aufgrund ihrer Ohnmachtgefühle nahm eine Ratsuchende die Rolle des Kindes in der Familie ein. Sie hatte Schwierigkeiten, sich bei ihrer pubertierenden Tochter durchzusetzen. Das führte zu Problemen mit der Tochter, die zunächst unlösbar schienen. Wut und Hass dominierten den Kontakt. Ein wichtiges Anliegen einer anderen Ratsuchenden war die Begleitung während einer Prüfung, um den damit verbundenen Stress bewusster zu bewältigen. Für sie war es wichtig, sich alle Faktoren, die sie beunruhigten, bewusst zu machen, um mit klarem Kopf in die Prüfung gehen zu können.

Wenn mit dem schubförmigen Verlauf der MS immer wieder große Einschränkungen verbunden sind, weil die Betroffenen nicht mehr Treppen steigen können und vorübergehend einen Rollstuhl benutzen müssen, ist es nötig, eine barrierefreie Wohnung zu beziehen. Aufgrund ihrer Ohnmachtgefühle und eines sozialen Abstiegs durch die MS konnte eine Ratsuchende es sich nicht vorstellen, dass ihr etwas Besseres als eine Wohnung im vierten Stock mit Außentoilette zustehe. Nach einem Klinikaufenthalt und anschließender Tagesklinik, wollte eine Ratsuchende ihren Faden wieder aufnehmen. Sie war isoliert von allen Kontakten, die sie vorher hatte. Sie strebte eine berufliche Rehabilitation an und wollte herausfinden, was sie in Zukunft machen möchte. "Ich habe immer gelernt, dass ich nicht wütend sein darf. Jetzt merke ich, dass ich oft platzen könnte, aber nicht wütend werden kann." Einen konstruktiven Umgang mit Ärger und Wut zu erlernen, erfordert die Untersuchung der Verbote, die dies verhindern. "Was geschieht, wenn ich diese Verbote einhalte oder überschreite? Wie kann ich Wut und Ärger äußern, ohne anderen Personen zu schaden?"

"Ich brauche einen Ort, an dem ich mich aussprechen kann, Zuhause gelte ich schon als Heulsuse, weil ich immer so viel weine." Trauer und Schmerz sind wichtige Emotionen, wenn es um Verlust und Enttäuschung geht; es kann hilfreich sein, sich Unterstützung zu holen, um den Tränen freien Lauf zu lassen.

"Seit der MS habe ich keine Partnerschaft mehr gehabt, ich weiß nicht, ob das noch geht. Wenn ich jemand erzähle, was mit mir los ist, dann denkt er doch, er habe eine Mogelpackung bekommen." Für diese Ratsuchende war es ein zentrales Anliegen, die Auswirkungen der MS auf Partnerschaft und ihre damit zusammenhängenden Wertvorstellungen zu untersuchen.

"Seit ich MS habe, denke ich daran, mich von meinem Mann scheiden zu lassen; je schlimmer die Krankheit wird, desto größer wird der Druck. Er hat kein Verständnis dafür und will nichts damit zu tun haben. Wenn ich mich scheiden lasse, möchte ich nicht alleine sein. Ich brauche einfach einen Platz, an dem ich über alles reden kann, sonst werde ich verrückt."

Die Ratsuchenden thematisierten meist schon in der ersten Beratungsstunde ihr Anliegen, weshalb sie gekommen waren. Sie sprachen über ihre Alltagssituation und ihre Schwierigkeiten, Hoffnungen und Ängste in Bezug auf ihre Zukunft. Sie begegneten ihrer Enttäuschung und den damit verbundenen Tränen. Sie wurden sich ihrer Vorstellungen über die MS bewusst und entwickelten Lösungsstrategien.

Oft wurden Erinnerungen aus der Kindheit im Zusammenhang mit aktuellen Themen ausgelöst. Sie lernten durch Reflexion dieser Erinnerungen, wie sich vergangene Erfahrungen und daraus entwickelte Verhaltensmuster auf ihr heutiges Leben auswirkten. Durch Loslassen alter Erlebnisse entwickelten sie neue Umgehensweisen.

Oft lässt sich die Erkenntnis der Betroffenen, dass bestimmte Verhaltensweisen und Beschlüsse aus einem kindlichen Rettungsversuch entstanden sind, nicht leicht in veränderte Verhaltensweisen umsetzen. Jahrelang eingeschliffene Gewohnheiten können nicht wie ein Kleidungsstück abgelegt werden. Die Veränderung von Verhaltensmustern erfordert Übung und stetige Reflexion.

Manchmal ist es schmerzhaft, immer wieder die gleichen Verhaltensweisen bewusst zu erleben. Veränderungen sollten wie Pflanzen zu behandelt werden, die Pflege brauchen, um wachsen zu können. Kleine Schritte und eine Unterstützung der Wahrnehmung, das Entdecken und Entfalten von Potentialen bestimmen ebenso die Beratungsarbeit, wie die Stärkung des Selbstwertgefühls.

 

Methoden der Beratung

Es gibt keine Patentrezepte für die Beratungsarbeit.
Die Unterschiedlichkeit der Ratsuchenden ist unbedingt zu beachten.

Nicht jede Ratsuchende mag Rollenspiele, nicht jede ist bereit, eine Visualisierungsübung zu machen. Es kann vorkommen, dass der Gestaltdialog nicht die richtige Methode für eine Betroffene ist. Die Ratsuchenden entscheiden immer selbst, welche Übung sie ausprobieren möchten. Wenn ich im Folgenden einige der wichtigsten Übungen aus der Beratungsarbeit aufführe, sind sie immer als Angebote zu verstehen. Ich habe jede Übung vorher erklärt und die Entscheidung, mit ihr zu arbeiten, bei der Ratsuchenden gelassen.

Das Wichtigste in der Beratungssituation ist der persönliche Kontakt. Um einen guten Kontakt zu entwickeln, sollten die Ratsuchende und Beraterin innerhalb der ersten Stunden herausfinden, ob sie miteinander arbeiten möchten und können.

Nicht zu vergessen sei, dass die MS nicht durch bestimmte Übungen geheilt werden kann.

Das Gespräch

Der Kontakt wird im Gespräch hergestellt. Aktives Zuhören kann der Betroffenen das Gefühl vermitteln, dass sie mit allem, was sie mitteilen möchte, angenommen wird. Rückmeldungen über das Gehörte verbessern den Kontakt.

Mit offenen Fragen kann die Beraterin das Gespräch vertiefen, beispielsweise: "Was bedeutet es für dich, wenn...?" "Wie hast du dich dabei gefühlt, als...?" "Was denkst du darüber?"

Authentizität und ein ehrlicher Austausch, der von der Beraterin persönlich, aber nicht privat gepflegt wird, sind die Basis für den Kontakt.

Das Gespräch dient vor allem der Mitteilung der Betroffenen. Hier kann sie sich verbal ausdrücken. Manchmal kann es gut sein, bestimmte Aussagen mit der Stimme zu verstärken, z.B. wenn Betroffenheit oder Ärger in der Stimme mitschwingen. Es unterstützt das Bewusstwerden und kann entlastend wirken. Auch Gesten, die während des Gesprächs zum Ausdruck kommen, können verstärkt werden, um das Bewusstsein und den Ausdruck zu verstärken.

Das Gespräch ist die Grundlage aller Übungen. Nach jeder Übung wird das Erlebte in einem Gespräch zusammen gefasst. In Gesprächen lösen sich viele Schwierigkeiten, weil die Beraterin als Gesprächspartnerin einen Spiegel bildet, in dem sich das Gesagte reflektiert. Die Ratsuchende kann Gedanken, die sonst im Kopf herum kreisten, ausdrücken und teilen.


Körperwahrnehmungsübungen

Wenn die Ratsuchende im Laufe des Gesprächs Sätze wie: "Das macht mich ganz kribbelig" oder ähnliches äußert, kann die Beraterin diese Formulierungen aufgreifen und fragen: "Wo in Deinem Körper spürst du das?". Meistens kann die Betroffene dies an einem bestimmten Ort ihres Körpers lokalisieren.

Wenn sich beispielsweise das Kribbeln in den Beinen befindet, kann die Aufmerksamkeit in ihre Beine gelenkt werden. Die Betroffene wird angeregt, sich mit ihren Beinen zu identifizieren und die Beine zu sein. Nun kann die Beraterin einen Dialog mit ihren Beinen führen, sie fragen, wie sie sich fühlen, was sie brauchen, was sie über sich denken usw.

Indem die Ratsuchende ihre Aufmerksamkeit auf den betroffenen Körperbereich lenkt und herausfindet, was dieser braucht, kann sie Anspannungen lösen. Oftmals können diese Übungen einen Energiefluss bewirken und damit zur Erleichterung der Symptomatik führen.

Malen von Bildern

Das Malen von Bildern zu Themen, die für die Ratsuchende gerade aktuell sind, kann den Bewusstwerdungsprozess unterstützen. Zum besserem Verständnis beschreibe ich eine Situation aus der Beratungsarbeit:

Eine Ratsuchende fühlte sich wie eine Gefangene. Sie wollte darüber nicht sprechen, war jedoch bereit, ein Bild zu malen. Ich bat sie, mir zu erzählen, was sie gemalt hat.

(R= Ratsuchende, B= Beraterin)
Ich bin rund und habe Speichen, ich kann mich drehen.
Ich sehe blau aus. Mit Silber.

R: Da ist ein Vogel auf dem Bild.
B: Wie sieht der Vogel aus? Beschreib ihn mal.
R: Der ist ganz bunt, hat lauter schöne bunte Federn. Leider hat er keine schönen Flügel.
Da sind gar keine, stattdessen hat er zwei Räder. Er kann nicht mehr fliegen.
B: Wie sieht denn der Hintergrund aus?
R: Nichts, nur ein Baum und blauer Himmel mit ein paar dicken Wolken.
B: Stell dir vor, du bist dieser Vogel. Beschreib deine schönen Federn mal genauer;
wie fühlst du dich mit diesen bunten Federn?
R: Schön ist das, so bunt zu sein, ich werde richtig heiter dabei.
Ganz lustig und leicht. Aber wenn ich meine Flügel ansehe, dann wird mir ganz schwer.
Ich kann gar nicht fliegen mit den Dingern. Und wie sehen die denn aus. Das ist furchtbar.
Sie fängt an zu weinen.
B: Lass die Tränen ruhig zu.
Nach einer Weile:
B: Stell dir mal vor, du bist jetzt diese Räder.
R:
B: Was machst du da an diesem schönen bunten Vogel?
R: Na du hast ja Fragen, wie soll der sich denn fortbewegen, wenn er nicht mehr fliegen kann?
Ich rolle mit ihm überall hin, wo er will.
B: Dann kann der Vogel sich doch fortbewegen?
R: Ja das geht schon, aber nicht mehr so frei wie früher.
Ich merke jetzt aber, dass es gar nicht mehr so schlimm ist.
Ich sehe die Räder an mir jetzt anders, sie helfen mir weiter.



Der Gestaltdialog

Der Gestaltdialog hat gute Lösungen für Ratsuchende in Konfliktsituationen gebracht. Zunächst geht es darum, die jeweilige Konfliktsituation zu beschreiben; das geschieht im Gespräch. Dann platziert die Ratsuchende in einem bestimmten Abstand zwei oder mehrere Kissen auf verschiedene Stühle, die die Konfliktparteien symbolisieren.

Die Ratsuchende kann sich jetzt auf jede der Positionen begeben und damit die Position der einzelnen Parteien einnehmen. So entsteht ein Gespräch oder Streit, in dem ihr Konflikt noch einmal zum Ausdruck kommt. Es besteht die Möglichkeit, Dinge auszusprechen, die in der Realität nicht ausgesprochen worden sind oder nicht gesagt werden konnten. Sie kann Reaktionen und Verhaltensweisen untersuchen und andere Lösungsmöglichkeiten erproben.

Wenn die Ratsuchende im Rollstuhl sitzt und sich nicht umsetzen kann, ist es möglich, die Kissen zu tauschen, wenn ein Rollentausch gemacht wird.


Hier ein Beispiel:

Im Vorfeld stellte sich heraus, dass die Ratsuchende im Konflikt mit der MS ist: Sie will sie einfach nicht mehr haben.

R = Ratsuchende
MS = die MS

R: Ich will dich nicht mehr haben, geh weg und mach dich vom Acker!
MS: Das geht nicht, ich bin jetzt immer bei dir, da kannst du machen, was du willst.
R: Ich will aber trotzdem, dass du weggehst, du behinderst mich nur.
Und wenn du nicht hören willst, dann muss ich dich eben raus schmeißen.
MS: Ha, ha, wie willst du das denn machen? Du hast da gar keine Möglichkeit.
Und so schon gar nicht, nicht mit mir.
R: Ich fühle mich so unter Druck gesetzt, du arbeitest die ganze Zeit gegen mich.
Ich habe doch schon so viel unternommen, damit du dich nicht so breit machst.
MS: Du kannst gegen mich unternehmen, was du willst. Das funktioniert so einfach nicht.
R: Aber was soll ich denn noch machen, ich gebe dir gute Nahrung, mache immer regelmäßig KG,
schlafe genug und du reagierst einfach nicht darauf. Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich davon langsam die Nase voll habe?
Ich mühe mich ab, damit es dir besser geht und du rührst nicht einmal den kleinen Finger, um mir ein Zeichen zu geben.
MS: Du hast ja Vorstellungen, du willst mich nur klein kriegen und
dann soll ich mich auch noch dafür bedanken. So läuft das bei mir nicht.
R: Aber was soll ich denn machen? Ich meine es doch gut mit uns beiden, das musst du mir wirklich glauben.
Ich weiß einfach nicht weiter. Was willst du eigentlich von mir?
MS: Ach jetzt interessierst du dich doch mal für mich.
Es ist ganz einfach. Ich will nur, dass du nicht so viel gegen mich unternimmst.
Bis jetzt hast du immer gemacht, was du für richtig gehalten hast, aber du hast mich nie gefragt.
R: Darauf bin ich nicht gekommen. Ich dachte, ich kriege das schon hin.
MS: Und dabei hast du nicht daran gedacht, dass du mich ja auch fragen könntest?
R: Dann will ich es jetzt versuchen: Was kann ich dafür tun, dass du besser mit mir zusammenleben kannst?
MS: Erstens finde ich es ganz blöd, wenn du immer etwas gegen mich unternimmst
und mich loswerden willst. Zweitens gefällt es mir besser, wenn du fragst,
wie es mir geht und was ich gerade brauche.
R: Und was brauchst du gerade?
MS: Ich möchte angenommen werden.
R: Fängt an zu weinen.
Das ist es, was ich auch will, aber es fällt mir so schwer.



Visualisierung

Visualisierungen sind Reisen, die mit inneren Bildern geführt werden. Die Ratsuchende liegt dabei auf einer Liege oder nimmt eine bequeme Haltung im Rollstuhl ein. Die jeweilige Visualisierung hat ein bestimmtes Thema z.B. "die Reise an den Ort der Kraft", "Reise zur Auflösung von angesammelter Wut" oder "Begegnung mit der inneren Heilerin".

Visualisierungen haben sich besonders in Stresssituationen und auch bei Anspannungen während eines Schubes bewährt. Sie wirken sanft entspannend, denn die Ratsuchende braucht sich während der Visualisierung nicht anzustrengen.

Hier ein Beispiel von einer Ratsuchenden, die einen Schub hatte:

Vor der eigentlichen Reise wird eine Körperentspannungsübung durch den ganzen Körper angeleitet; dies fördert die Entspannung und erleichtert den Weg nach innen.

Dann richtet die Ratsuchende ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt in ihrem Rückenmark. Sie stellt sich vor, dass dort eine kleine Fee auftaucht, die eigens zur Unterstützung der Betroffenen gekommen ist. Die Betroffene erzählt ihr, was sie für sie tun kann oder stellt ihr eine Frage bezüglich ihrer körperlichen Anspannung.

Die Fee ist mit einem Koffer unterwegs, in dem sie alles hat, was sie braucht. In dieser Visualisierung hatte sie Tücher, Bürsten, Putzmittel und Heilsalben in ihrem Koffer. Sie ging an den Ort im Kopf, an dem das größte Chaos herrschte und krempelte sich die Ärmel hoch. Dann fing sie an, die Leitungen zu sortieren und sah, dass einige davon beschädigt waren. Sie säuberte und polierte die Leitungen und rieb sie mit einer Heilsalbe ein. Am Ende war sie schweißgebadet, aber zufrieden mit ihrer Arbeit. Die Ratsuchende bedankte sich bei ihr. Beim Abschied sagte die Fee, sie könne sie immer rufen, wenn sie ihre Unterstützung brauche.

Zum Abschluss einer Visualisierung ist es wichtig, die Ratsuchende wieder in den Raum zurückzuführen und sie einzuladen, sich zu strecken und ein wenig zu bewegen, bevor sie von der Liege aufsteht.

In einem Gespräch kann sie die Erlebnisse noch einmal Revue passieren lassen.

 

Grenzen der Beratung

Beraterin und Ratsuchende sollten keinen beruflichen oder privaten Kontakt miteinander pflegen; das kann zu Verstrickungen in der Beratungsarbeit führen, die den Prozess erschweren.

Bevor die Beraterin einen fortlaufenden Beratungsprozess mit einer Ratsuchenden eingeht, sollten sowohl die Ratsuchende als auch die Beraterin prüfen, ob sie miteinander arbeiten können und wollen. Eine eventuelle Abneigung oder unangenehme Gefühle im ersten Kontakt sollten genau überprüft und ernstgenommen werden, sonst könnte es zu Kontaktstörungen kommen, die den Beratungsprozess auf unangenehme Weise beeinflussen.

Manchmal kommt es vor, dass eine Ratsuchende im Laufe des Beratungsprozesses an eine Grenze kommt, an der sie nicht weitergehen möchte, obwohl sie ihr Beratungsziel noch nicht erreicht hat. Auch wenn das für die Beraterin bedauerlich sein kann, muss sie dies akzeptieren. Wichtig ist, dass die Betroffenen selbst bestimmen, wo ihre Grenzen sind.

Sollte sich die Beraterin den Themen der Ratsuchenden nicht gewachsen fühlen, ist es sinnvoll, dies in ihrer Supervision zum Thema zu machen und zu entscheiden, ob sie der Betroffenen die Unterstützung geben kann, die diese braucht. Wenn nicht, sollte sie der Ratsuchenden den Kontakt zu einer anderen Therapeutin mit barrierefreier Praxis vermitteln.

Wenn die Ratsuchende Suizidvorhaben äußert, muss die Beraterin dies unbedingt ernst nehmen. Manchmal ist es notwendig, die Ratsuchende mit ihrem Einverständnis in eine Krisenstation zu bringen. Die dortige kontinuierliche fachliche Betreuung entlasten die Beraterin und die Betroffene.

Die Grenzen von Beratung zu Therapie sind fließend, deshalb sollte der Gedanke an Psychotherapie erwogen werden, wenn der Beratungsprozess zu sehr aus dem Hier und Jetzt entgleitet. Eine Liste von PsychotherapeutInnen mit barrierefreier Praxis ist in solchen Situationen hilfreich.

 

Besonderheiten aufgrund der Peer-Beratung

Die Beratung im Sinne des Peer-Counseling richtet sich vor allem auf das selbstbestimmte Leben mit Behinderung aus. Die Suche nach Bewältigungsstrategien und das Erkunden von Potentialen wirken sich sehr positiv auf die Lebensqualität der Betroffenen aus. Sie überwinden ihre Ohnmacht und werden wieder aktiv. Empowerment und Selbstbestimmung sind grundlegende Faktoren in der Beratungsarbeit. Dadurch bewegen sich Beraterin und Ratsuchende auf dem Boden der Eigenverantwortlichkeit.

Die Ratsuchenden werden als ExpertInnen in eigener Sache gesehen. Da die Beraterin selbst von einer fortschreitenden Erkrankung betroffen ist, hat sie mit vielen Themen, die in der Beratung auftauchen, eigene Erfahrungen gemacht. Durch ihren bewussten Umgang mit diesen Themen kann sie ihre Erfahrungen mit den Ratsuchenden teilen, wenn diese das wollen. Das führt oft dazu, dass die Betroffene sich nicht allein fühlt mit den Problemen, die durch die Behinderung entstanden sind. Die von der Beraterin entwickelten Bewältigungsstrategien können eine Anregung für die Ratsuchenden sein und sie ermutigen, eigene Lösungen für sich zu finden.

Die Qualität des Peer-Counseling wurde durch die Qualifizierung der Beraterin als Gestalttherapeutin verbessert. Sie konnte durch ihre Ausbildung ein reiches Angebot an Interventionen und Übungen einbringen, die Beratungsprozesse in kreativer Form unterstützten.

Der reflektierte Umgang der Beraterin mit ihrer Behinderung erleichtert den Kontakt mit den Ratsuchenden. Dadurch wird die Beratung barrierefrei. Das bedeutet für die Betroffenen, dass sie nicht erklären müssen, was es grundsätzlich heißt, in dieser Gesellschaft mit Behinderung zu leben. Sie können darüber sprechen, was es für sie persönlich bedeutet und das hat einen entschieden anderen Charakter.

Die Hierarchie, die zwischen behinderten KlientInnen und TherapeutInnen ohne Behinderung entstehen kann, wird durch den Peer-Aspekt abgebaut. Beide können sich auf gleicher Ebene begegnen. Das reduziert Ängste der Betroffenen und es erleichtert ihnen, sich freier zu äußern.

 

Fazit

Rückblickend auf die zweieinhalbjährige Beratungsarbeit bei der Stiftung LEBENSNERV kann ich sagen, dass die Beratung nach dem "Peer Counseling"-Prinzip ein großer Erfolg war. Auf Grund meiner therapeutischen Ausbildung konnten die betroffenen Ratsuchenden durch kompetente Interventionen und Übungen unterstützt werden und dadurch eigene Bewältigungsstrategien entwickeln. Sie verbesserten ihre Lebensqualität durch die Arbeit mit ihren eigenen Ressourcen. Durch die kontinuierliche Reflektion der eigenen Situation in einem einwöchigen Abstand hatten die Ratsuchenden die Möglichkeit, einen Bewusstwerdungsprozess zu machen und nach Lösungsmöglichkeiten für ihre individuelle Lebenssituation zu suchen.

Die hohe Nachfrage zeigt einen großen Beratungsbedarf auf, der nicht gedeckt ist. Es fehlt an Peer CounselorInnen, die sich auf die psychische Begleitung von MS-Betroffenen spezialisiert haben. Aus diesem Grunde wäre eine Weiterbildung auf diesem Gebiet sinnvoll, damit mehr Peer CounselorInnen für die lebensbegleitende Beratung MS-Betroffener zur Verfügung stehen.



Berlin, den 24. Februar 2003