Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Anstelle eines Vorwortes: Ein MS-Patient über sich

Die somatisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Theorien über die MS sind mir bekannt. Hier möchte ich einen ganz anderen Aspekt herausstellen, der für mich individuell immer mehr Bedeutung bekommen hat, je länger ich mich mit meinem MS-krank-Sein auseinandergesetzt habe. Bei diesem Aspekt geht es um die Bedeutung und den Sinn meiner Erkrankung für mich und mein Leben: Ich bin knallhart auf Dinge hingewiesen worden, die ich erst jetzt bereit bin, anzunehmen und überhaupt zu sehen. Einige Beispiele: Das Konzept meines Lebens war früher: Ich will/muss was ganz Besonderes sein, der Tollste, der Beste und der Glücklichste. Was in dieses Schema nicht passte, habe ich mehr oder weniger erfolgreich versucht auszublenden: „Eigentlich ist das Leben immer schön, und ich bin total glücklich“. Mit Schwindel und zunehmenden Sehstörungen begab ich mich verzweifelt mit dem Gefühl „so geht es nicht weiter“, „so kann ich allein nicht weiter“ in die Psychotherapie. In diesem Prozess konnte ich immer weniger darüber hinwegsehen, dass mein Leben/ich selbst überhaupt nicht immer schön und toll waren bzw. es sind. Es ist eben kein bißchen toll, immer schlecht zu sehen. Es ist, wie es ist. Und das ist mal nicht leicht und mal Schatten und mal niederschmetternd. Eine im allgemeinen als schweres und dramatisches Schicksal betrachtete Erkrankung wie die MS hilft einem wirklich, etwas Besonderes zu sein. Ich wurde mühelos zum vom Schicksal schwer geschlagenen Helden, der trotz alledem sein Schicksal meistert. Ich war wirklich oft gerührt von mir selber. Und was hatte ich vorher gekämpft, um ein toller Kerl zu sein! Im Rollstuhl braucht man nicht mehr viel zu tun, ist meine Vorstellung. Meine Erkrankung kann mich in den Rollstuhl bringen. Oft habe ich ein mir unheimliches Gefühl der Erleichterung empfunden bei diesem Gedanken. Diese Erleichterung bedeutet Entlastung vom Kampf, davon, permanent toll, immer glücklich usw. zu sein.

Diese intuitive Suche nach dem Sinn meiner Erkrankung gibt mir die Chance zu erkennen, wo ich stehe, wer ich bin, und sie gibt mir die Chance, andere Wege zu gehen als vorher. Manchmal kommt mir das sehr einfach und klar vor, manchmal fühle ich mich ungerecht und sinnlos vom MS-Symptom betroffen. Im Moment empfinde ich, in meiner eigenen Entwicklung folgerichtig an den Punkt geführt worden zu sein, an dem ich jetzt bin: immer ganzer, immer echter, immer wirklicher und ehrlicher, das heißt freier von Ansprüchen, dass etwas sein soll, was nicht ist und stattdessen eher bereit, das zu sehen, was ist.
Und meine Krankheit hat erheblich zu dieser Entwicklung beigetragen.

Es gibt keine kausale Therapie der MS. Ich habe aber die sehr konkrete Hoffnung, dass meine Beschäftigung mit Sinn und Bedeutung von Symptomen den Verlauf mildern können, das heißt dass ich vielleicht Symptome überflüssig machen kann, indem ich zum Beispiel ehrlich hingucke ohne den Umweg über ein Symptom, das mir zeigt, wie es wirklich ist.

Susanne Wolf trug auf der Psychosomatiktagung in Stadtlengsfeld im Januar 1992 diese Selbsteinschätzung eines MS-Patienten vor.

(Erstveröffentlichung in Rundbrief Nr. 1, Sommer 1992.)

(Weitere Berichte MS-betroffener Personen wurden in FORUM PSYCHOSOMATIK 2/97:
„Subjektive Krankheitstheorien bei multipler Sklerose“
und in 1/99:
„Bitte hört Euch an, was MS-betroffene Menschen zu sagen haben“ veröffentlicht.)

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