Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Literaturüberblick zur Psychosomatik der MS

von Sigrid Arnade

Teil 1 von 2 Teilen

Übersicht

Teil 1 Einleitung
1) Veröffentlichungen und Theorien im 19. Jahrhundert
2) Die Suche nach der MS-Persönlichkeit
  3) Auslösende Ereignisse
Teil 2 4) Weitere Psychosomatische Denkansätze
  5) Krankheitsverarbeitung
  6) Gegenwärtige Denkansätze und Ausblick
  Anmerkung

 


Einleitung

Anhand dieses Literaturüberblicks soll verdeutlicht werden, wie sich die Einstellung zur Verbindung zwischen seelischem und körperlichem Befinden von MS-Betroffenen im Laufe der vergangenen knapp 200 Jahre entwickelt und verändert hat.

1) Veröffentlichungen und Theorien im 19. Jahrhundert

Häufig wird der adlige Sir Auguste D´Este als derjenige bezeichnet, der wahrscheinlich den ersten Bericht über MS schrieb. D´Este notierte in seinen Tagebüchern: „Im Dezember 1822 fuhr ich von Ramsgate in das Hochland von Schottland, um einige Tage mit jemandem zu verbringen, dem gegenüber ich die Gefühle eines Sohnes hatte. Als ich ankam, war er tot – ich nahm an der Beerdigung teil; weil dort viele Leute waren, kämpfte ich heftig gegen meine Tränen an. … Kurz nach der Beerdigung … waren meine Augen so angegriffen, dass die Sicht undeutlich wurde, wenn ich sehr kleine Gegenstände fixierte.“ Nach seinen Angaben traten später ähnliche Symptome auf, als er eine für ihn äußerst schmerzliche Periode durchlebte (Firth 1940).

Der französische Arzt Charcot war es, der die Multiple Sklerose Mitte des 19. Jahrhunderts einem größeren medizinischen Publikum bekannt machte. Damals und auch noch in den folgenden Jahrzehnten schlossen sich eine naturwissenschaftliche und eine biographische beziehungsweise psychosomatische Betrachtungsweise nicht aus. Charcot sah in „lang anhaltendem Kummer und Sorge“ einen möglichen ursächlichen Faktor für die MS.

Ein anderer Forscher namens Moxon beschrieb 1875 Fälle, bei denen Symptome nach einem emotionalen Schock aufgetreten waren: Eine Patientin zeigte beispielsweise erste MS-Symptome, nachdem sie ihren Mann mit einer anderen Frau im Bett angetroffen hatte. Die Forscher des vorigen Jahrhunderts schauten aber nicht nur auf die Psyche, sondern versuchten gleichzeitig die pathologischen Vorgänge im Zentralen Nervensystem (ZNS) zu verstehen.

2) Die Suche nach der MS-Persönlichkeit

Während also im 19. Jahrhundert in Bezug auf psychische Faktoren auf auslösende Ereignisse geachtet wurde, begann man im 20. Jahrhundert verstärkt nach der für MS-Betroffene typischen Persönlichkeitsstruktur zu suchen.

1921 erschien die erste psychoanalytisch orientierte Arbeit von Jeliffe. Bei der psychoanalytischen Behandlung von MS-Patienten fiel ihm auf, daß die Betroffenen bei sehr narzisstischer Strukturierung und unbewusst wirksamer Fixierung an die Eltern extreme aggressive Tendenzen verdrängt hielten. Er meinte, dass sich solch große Spannungen nur in einer Psychose äußern können, oder, quasi alternativ, in einer anderen Erkrankung des Zentralen Nervensystems (ZNS) wie MS.

Andere Forscher (Grinker et al.) schrieben 1950: „Den MS-Betroffenen kennzeichnet psychologisch gesehen vor der Krankheit eine große Unreife seit frühester Kindheit. Lange bevor er Krankheitszeichen zeigt, ist er emotional anomal.“ Die Autoren bemerkten außerdem ein hohes Maß an Nachgiebigkeit und Passivität, das bei all ihren Patienten deutlich wurde. Von „Unreife“ und „abhängigen Individuen“ wird auch in anderen Arbeiten von 1948 (Langworthy) und 1951 (Jonez) gesprochen. In den 50er Jahren erschienen auffällig viele Veröffentlichungen zu dem Thema.

In den folgenden Jahrzehnten erschienen noch eine Reihe weiterer Arbeiten, die hier nicht alle erwähnt werden. Genannt seien lediglich die Arbeiten von Paulley, dessen Veröffentlichungen zwischen 1975 und 1985 sich auf 300 MS-Patienten beziehen, die er im Verlauf von 30 Jahren untersucht hat. Gemeinsam ist den Arbeiten dieser Zeit, dass eine typische prämorbide Persönlichkeitsstruktur angenommen wird. Die Beschreibungen des typischen MS-Patienten ähneln einander: Er oder sie ist unterwürfig, friedfertig, arbeitswillig, herzlich. Gefühlsmäßige Beziehungen werden besonders rigide kontrolliert. Es wird eine besondere emotionale Abhängigkeit und psychische Unreife mit exzessivem Liebes- und Zuwendungsbedürfnis beschrieben (Inman, 1948). Daraus schließen die Autoren, dass Trennungserlebnisse besonders traumatisch wirken.

In jüngerer Vergangenheit hat die Zahl der Veröffentlichungen, die eine typische MS-Persönlichkeit beschreiben, abgenommen. Außerdem ist der Sprachgebrauch nicht mehr ganz so entwertend wie früher. Aber die Suche hat noch nicht aufgehört.

Der Psychosomatiker Büntig sagte 1985 über MS-Betroffene: „Sie stellen einerseits sehr hohe Ansprüche an sich selbst, doch fehlt ihnen die Energie, diesen Anspruch auch zu erfüllen.” Er beschreibt MS-Betroffene als fast durchweg vom Verstand geleitet, Meister im Verbergen von Emotionen. Deshalb ist Büntig überzeugt, MS sei eine Degenerationserscheinung, „die sich als Erschöpfung der Markscheide ausdrückt.“

Dahlmann, der Leiter einer psychosomatischen Klinik, schrieb 1990: „Der MS-Erkrankte hat Schwierigkeiten in der Beziehung zu sich selbst, zum eigenen Körper und zu anderen.“ Generell ist ihm bei MS-Betroffenen die „große Fremdheit dem eigenen Körper gegenüber“ aufgefallen. Er plädiert daher für eine lebenslange psychosomatische Beratung, die sich individuell an den Bedürfnissen des einzelnen Betroffenen orientiert.

Demgegenüber hat die australische Forscherin Kaylene Evers 1995 in einer Untersuchung festgestellt, dass es die MS-Persönlichkeit nicht gibt. Diese Sicht wird in Bezug auf Stressreaktionen durch eine Arbeit von 1998 (Ackermann et al.) bestätigt: Zwischen einer Gruppe von MS-Betroffenen und einer nicht betroffenen Kontrollgruppe fanden die Forscher keine nennenswerten Unterschiede hinsichtlich der Stressreaktionen.

3) Auslösende Ereignisse

Während belastende Lebensereignisse im 19. Jahrhundert durchaus als auslösende Faktoren für die multiple Sklerose diskutiert wurden, geriet diese Betrachtungsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst in Vergessenheit. Erst 1970 wurde dieser Aspekt durch ein Forscherteam um die Wissenschaftlerin Mei-Tal wieder aufgegriffen: Bei 28 von 30 MS-Betroffenen stellten die Forscher einen Zusammenhang zwischen einer psychisch belastenden Situation und dem Auftreten der ersten MS-Symptome fest.

1982 untersuchte ein anderes Forscherteam (Warren et al.) 100 MS-Betroffene und eine Kontrollgruppe. Dabei stellten sie keine auffälligen Unterschiede in Bezug auf die Kindheit oder den Umgang mit Problemen fest. Bei den MS-Betroffenen war aber in den zwei Jahren vor den ersten MS-Symptomen mehr ungewöhnlicher Stress aufgetreten als in der Kontrollgruppe.

Ein anderes Forscherteam (Franklin et al.) veröffentlichte seine Untersuchungsergebnisse 1988. Bei den 55 untersuchten MS-Betroffenen fand man heraus, dass eine Krankheitsverschlechterung nicht mit der Quantität des Stresses, sondern mit der Qualität des Stresses korreliert.

In einer 1989 veröffentlichten Arbeit wurden 39 MS-Betroffene mit einer 40-köpfigen Kontrollgruppe verglichen. Dabei fand man (Grant et al.) heraus, dass bei den MS-Betroffenen in dem Jahr vor Krankheitsbeginn mehr widrige, belastende Ereignisse auftraten als bei den Kontrollpersonen.

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