Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/02

"Zwischen allen Stühlen"?

Laudatio anlässlich des 5. Forschungspreises


von Wilhelm Rimpau


Ich teile das Anliegen der Stiftung, "Psychosomatik" in ihrem Titel zu tragen. Lassen Sie mich aber doch noch einmal die Gelegenheit nutzen und kurz reflektieren, was wir unter Psychosomatik verstehen können. Pauschale Voreingenommenheiten führen leicht dazu, der sogenannten Schulmedizin das Attribut "sprechende Medizin" abzuerkennen und deshalb sogenannte "komplementäre Methoden" gegenüber zu stellen. Es wäre ein Missverständnis, Psychosomatik zu einer komplementären Methode zu erklären, die Defizite der Schulmedizin ausbügeln könnte. Krankheit des Menschen ist unteilbar. Anders gesagt: Medizin ist psychosomatische Medizin oder sie ist keine.

Um Ordnung in einige immer wieder verwendete Begriffe zu bringen, lassen Sie mich kurze Definitionen vorstellen:

Oft werden Begriffe verwendet, wenn Körpersymptome keine Erklärung finden: psychisch gelagert, psychogen überlagert, psychogen unterlagert, Persönlichkeitsstörung, psychosomatisch, schwieriger Patient, psychisch, psychopathologisch auffällig, labil, Hypochonder, "Psycho", somatoforme Störung, vegetative Dystonie, Neurasthenie, hirnorganisch überlagert. Mit diesen meist nichts sagenden, verharmlosenden und vor allem desavouierenden (bloßstellenden, d. Red.) Worten ist nichts gewonnen.

Wir können uns auf die folgende Einteilung verständigen, die ich hier in verkürzter Form zu definieren suche:

Psychosomatik

Spezialfach mit dem Schwergewicht psychogene Erkrankungen mit (psychoanalytisch -) psychotherapeutischen Verfahren zu therapieren, nachdem im Ausschlussverfahren "organische" Gründe der Beschwerden ausgeschlossen sind.

Psychosomatische Medizin

Bei jeder Krankheit ist mit Körpersymptomen und psychologischen Problemen zu rechnen und in Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen.

Das Integrationsmodell (Bio - Psycho- Soziales Modell von Thure von Uexküll) fordert vom Arzt die Berücksichtigung nicht nur organischer Erscheinungsweisen des Krankseins und leitet daraus die anzustrebende Kompetenz für eine "sprechende Medizin" ab. Als Modell sucht es die Integration des zuvor künstlich Desintegrierten, nämlich somatischer, psychologischer und sozialer Facetten des Krankseins. Daraus folgt die Forderung nach einer grundlegenden Änderung der Aus- und Weiterbildung und der Struktur unseres Krankenversorgungs- (und Honorar-) Systems.

Anthropologische Medizin
(Viktor von Weizsäcker)

Grundlage ist die immer vorhandene Einheit des gesunden und kranken Subjekts. Mit der "Einführung des Subjekts in die Biologie" ist die Begegnung von zwei Menschen in der Arzt-Patient-Beziehung gemeint. Die "biographische Methode" im Umgang miteinander und in der Anamnese realisiert - spiegelt alle Lebensfragen. Zu leicht wird die Kompetenz eines Fachmannes (zum Beispiel eines Psychotherapeuten) zum Ersatz verlorengegangener Ärztlicher Grundhaltung.

Wir dürfen wieder gemeinsam mit unserem Patienten sprechen, zuhören, zweifeln, hadern, staunen, uns wundern, suchen, Leid und Not teilen, Rat austauschen - und damit frei sein von Vorurteilen und unserer jeweiligen Rolle. Die Krankengeschichte ist nicht nur Symptomgeschichte, sondern immer Teil einer Lebensgeschichte.

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