Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/03


Lernen ohne Lehrer?

Eine Wurzel des Übels liegt im Ausbildungssystem. Das Studium wird als obsoleter Frontalunterricht praktiziert, patientenfern, theoretisch überfrachtet, in unzusammenhängende Fächer gesplittet. Die Herangehensweise an Krankheitsbilder orientiert sich am unsäglichen Multiple-Choice-Fragenkatalog des Staatsexamens. Kommunikative Kompetenz wird nicht geschult. Konsequenz ist die erschütternde Sprachlosigkeit nicht weniger angehender Ärzte. Trotz exponentiell wachsender ethischer Probleme werden nicht einmal ethische Grundbegriffe vermittelt. Was herauskommt, hat die Göttinger Studie von Guido Schmiemann an 700 Studierenden gezeigt: im Lauf des Studiums war zwar ein stetiger Zuwachs an biomedizinischem Wissen zu verzeichnen, reziprok dazu traten psychosoziale Aspekte von Krankheiten immer stärker in den Hintergrund.

Nirgendwo finden sich begeisternde Vorbilder oder gar „Meister“, die Halt geben, keine Lehrer, die Schulen begründen, sondern häufig durch Fach-Enge deformierte, mäßig engagierte Dozenten. Die gegenwärtige Jungärzte-Generation sei die wahrscheinlich am schlechtesten ausgebildete deutsche Ärzte-Generation aller Zeiten, befindet der Wissenschaftsjournalist Grätzel von Grätz. Der altruistisch motivierte Studienanfänger beendet seine Ausbildung mit mangelhafter psychosozialer Kompetenz. Wer so ins ärztliche Leben entlassen wird, kann leicht den Kranken als angstmachenden Fremdling erleben und wird selbst als Fremder erlebt. Das Bild des Arztes als Freund des Kranken erscheint dann nur noch als rührseliges Relikt.

Sprachlose Welt?

Dass Arztsein vor allem ein sprechender Beruf ist, wird von dem Faszinosum einer Medizin radikaler Machbarkeit überblendet. „Uns interessiert der Patient nur, wenn er auf dem Op-Tisch liegt“ ist die ärztliche Auskunft, die die Mutter eines frisch herzlungentransplantierten Sohnes in einem großen deutschen Transplantationszentrum erhält. „Haarverlust ist doch kein Ich-Verlust“, so wird eine durch Chemotherapie kahl gewordene krebskranke Frau belehrt. Die Interpretation eines angiographischen Befundes durch den Kardiologen lautet: „Dieses eingeengte Blutgefäß ist ein Witwenmacher“. Herzlosigkeit? Gedankenlosigkeit? Wahrscheinlich nicht, sondern eher ein beklemmender Gesichtsfeldausfall im zentralen Bereich des ärztlichen Blickfeldes. Noch immer bestimmt weithin die vielfach beschworene „Silent World of Doctor and Patient“, die der Psychoanalytiker und Jurist Jay Katz in dem gleichnamigen Werk bereits 1984 subtil und sachkundig dargestellt hat,die Beziehung zwischen Arzt und Patient.

Diese Arzt-Patient-Beziehung definiert Peter Kampits als eine besondere, wenn nicht extreme Form der zwischenmenschlichen Beziehung, in der nicht nur ein hohes Maß an Intimität und Ausgesetztsein existieren, sondern mit der auch Eingriffe und Veränderungen in die Existenz des Menschen verbunden sein können, bei denen es im Extremfall buchstäblich um Leben und Tod geht. Diese Beziehung kann nur aus einer empathischen Haltung und einem vorurteilslosen Sich-Einlassen auf den anderen entstehen. Sie reicht über das bloße „Verstehen“ des Kranken hinaus und zielt auch darauf ab, dass dieser sich selbst versteht.

Der heile Arzt

Aber nur der heile Arzt kann heilen. Das ist der durch Systeme und Reglementierungen paralysierte, zum Dienen unfähige Arzt nicht. Der heile Arzt ist zu jener inneren Polarität fähig, die durch Freiheitsbewusstsein einerseits und Bereitschaft zum Dienen andererseits bestimmt wird. Was Martin Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ über diese Polarität schreibt, gilt im übertragenen Sinn auch für den Arzt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan ... Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Nichts anderes meint der Philosoph Lévinas mit dem radikalen Sprachbild: „Ich bin die Geisel des Anderen“. Eine kardinale Voraussetzung zur Entwicklung dieser ärztlichen Grundhaltung ist Dialogfähigkeit. Kommunikative Beziehungen sind der Stoff, aus dem die Arzt-Patient-Beziehung lebt und der ihren „Kammerton“ bestimmt. Es herrscht Einigkeit, dass in der Alltagspraxis erhebliche kommunikative Defizite bestehen. Sie werden häufig von ärztlicher Seite nicht wahrgenommen. Die Folgen sind bekannt: Mangelhafte Compliance, gestörtes Vertrauensverhältnis, Bruch der Arzt-Patient-Beziehung, Arztwechsel.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein kommt zu der Erkenntnis: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Dies erklärt, warum die Grenzen einer stumm gewordenen bombastischen High-Tech-Medizin manchmal so kläglich eng erscheinen. Der sprachlose Arzt ist ein gefährlicher Arzt. Eine Chance, eine Neustrukturierung der Arzt-Patient-Beziehung einzuleiten liegt deshalb in der Stärkung des dialogischen Prinzips, in der Förderung kommunikativer Kompetenzen durch Studium und Ausbildung, in der Höherbewertung sprachlicher Fähigkeiten. Die Voraussetzung ist allerdings ein Wandel des ärztlichen Selbstbildes. Ich sehe diesen neuen Arzt von morgen vor mir: freiheitsbewusst und zuwendungsbereit, mit Zivilcourage und befähigt, mit dem wichtigsten Instrument des Arztes gekonnt umzugehen: der Sprache.


*Autor: Linus S. Geisler, geb.1934,
1976-1999 Chefarzt der Inneren Abteilung des St. Barbara-Hospitals Gladbeck, 2000-2002
Sachverständiger der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“. Arbeitsgebiete:
Innere Medizin, Arzt-Patient-Kommunikation, Bioethik
(siehe auch www.linus-geisler.de)

Quelle: Dr. med. Mabuse 142,
März/April 2003, S. 34-37.
Eine Version des Artikels mit Quellenangaben
und Literaturhinweisen
ist bei der Redaktion von
FORUM PSYCHOSOMATIK erhältlich
oder im Internet abrufbar:
www-mabuse-verlag.d

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