Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/04

Selbstbestimmung und "Empowerment"


von Sigrid Arnade

Der innovative Ansatz der Peer-Counseling-Weiterbildung der Stiftung LEBENSENRV besteht darin, die ganzheitliche Betrachtungsweise von Krankheit und kranken oder behinderten Menschen mit der "Selbstbestimmt-Leben-Philosophie" zu verknüpfen. Die zentralen Begriffe der "Selbstbestimmt-Leben-Philosophie" sind Selbstbestimmung und Empowerment. Der nachfolgende Artikel von Sigrid Arnade erläutert diese beiden Schlüsselwörter.


Selbstbestimmung



Selbstbestimmung ist ein modernes Schlagwort, aber eigentlich weiß kaum jemand so ganz genau, was es eigentlich bedeutet. Oder jede und jeder versteht etwas anderes darunter. Im Lexikon wird Selbstbestimmung im politischen Kontext definiert: "Das Recht auf Selbstbestimmung ist der Anspruch jedes Volkes auf politische Unabhängigkeit im eigenen Staat." Die Selbstbestimmung der Völker ist auch in der Charta der UNO von 1945 verankert.

Aber nicht nur im Völkerrecht, auch auf Individuen bezogen ist das Recht auf Selbstbestimmung ein elementares Menschenrecht. So steht das Recht auf Selbstbestimmung an der Spitze der Menschenrechtsakte der UNO.

Nun zur Definition von Selbstbestimmung im Zusammenhang mit behinderten Menschen. Vorab möchte ich die Struktur der Behindertenorganisationen in der Bundesrepublik erläutern. Grob gesehen kann man drei Gruppen unterscheiden. Zur ersten Gruppe gehören die zwei großen Sozialverbände VdK und SoVD, die aus den Kriegsopferverbänden hervorgegangen sind. Sie setzen sich insbesondere für gute Sozialleistungen für ihre Mitglieder ein und arbeiten behinderungsübergreifend. Als zweite Gruppe gibt es die knapp 100 Behindertenverbände, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (BAGH) zusammengeschlossen sind. Diese Organisationen widmen sich meist einem bestimmten Krankheits oder Behinderungsbild, zum Beispiel die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) oder die Rheuma-Liga oder die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung. Und dann gibt es als dritte Gruppe die Verbände der sogenannten Selbstbestimmt- Leben-Bewegung, die von behinderten Menschen selbst gegründet wurden und gestaltet werden. Hier wird krankheits- und behinderungsübergreifend gearbeitet. Der wichtigste Verband in diesem Spektrum ist die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland - ISL e.V. Als Stiftung LEBENSNERV fühlen wir uns dieser Gruppe am nächsten, arbeiten aber mit allen Verbänden zusammen.

Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung orientiert sich in Deutschland an dem Vorbild der USA, wo es schon seit den 70er Jahren die sogenannte Independent Living Bewegung (wörtlich Übersetzt: unabhängig leben) nach dem Vorbild der Bürgerrechtsbewegungen der Schwarzen und der Frauen gibt. Im Folgenden zitiere ich eine Übersetzung der Definition des Independent Living, die hierzulande als Definition für Selbstbestimmt Leben verwendet wird: "Selbstbestimmt Leben heißt, Kontrolle Über das eigene Leben zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimieren. Das schließt das Recht ein, seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können, an dem öffentlichen Leben in der Gemeinde teilzuhaben, verschiedenste soziale Rollen wahrzunehmen und Entscheidungen selbst fällen zu können, ohne dabei in die psychologische oder körperliche Abhängigkeit anderer zu geraten. Selbstbestimmung ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich bestimmen muss."

Der Unterschied zwischen Selbstbestimmung und Selbständigkeit

Wichtig ist es mir noch zu betonen, dass Selbstbestimmung und Selbständigkeit zwei unterschiedliche Begriffe mit unterschiedlichen Inhalten sind: Ich kann vollkommen unselbständig und in hohem Maße von der Hilfe oder Assistenz durch andere Menschen abhängig sein und trotzdem ein selbstbestimmtes Leben führen. Entscheidend ist nicht der Grad der jeweiligen Beeinträchtigung, mit der ein Mensch lebt, sondern das Ausmaß der Kontrolle, die sie oder er Über das eigene Leben hat. Selbstbestimmung ist bei kranken und behinderten Menschen also davon abhängig, ob es die Wahl zwischen akzeptablen Alternativen gibt und ob sie Entscheidungen selbst fällen können.

Auch beim Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), das seit dem 1. Juli 2001 gilt, spielt die Selbstbestimmung der Betroffenen eine große Rolle. Sie zu fördern, sei das Ziel des Gesetzes, steht schon im ersten Paragraphen, und später ist auch von dem Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen die Rede. Die Realität sieht leider anders aus: Überall versuchen die Leistungsträger wie die Krankenkassen zu sparen und den Betroffenen Leistungen vorzuenthalten.

Selbstbestimmung fällt also nicht vom Himmel und wird einem nicht geschenkt. Die meisten chronisch kranken und behinderten Menschen, die ich kenne und die ein selbstbestimmtes Leben führen, müssen immer wieder hart dafür kämpfen. Und um das immer wieder zu schaffen, gleichzeitig die Lebensfreude nicht zu verlieren und sich nicht einschüchtern oder entmutigen zu lassen, ist Empowerment notwendig.

Empowerment

Empowerment kommt auch aus den USA und zwar aus der amerikanischen Bürgerrechts- und Frauenbewegung und heißt wörtlich Übersetzt „Bemächtigung“. Das klingt aber nicht gut, deshalb ist in Deutschland weitgehend der Begriff Empowerment beibehalten worden. Es gibt eine Vielzahl von Definitionen für Empowerment, die meistens den Begriff der Selbstbestimmung enthalten, zum Beispiel:
"Empowerment ist ein Konzept, in dem bestehende Machtverhältnisse kritisch, das heißt mit der Perspektive der Veränderung aufgenommen werden; es ist ein Konzept von systematischer Selbstbemächtigung durch gute Organisation und geschickte Kooperation, ein Konzept, mit dem eigene Machtquellen zu nutzen und Wege aus der Machtunterworfenheit heraus für mehr Selbstbestimmung und Eigenkontrolle zu finden sind. Dafür ist es entscheidend, Machtpositionen genauer zu analysieren und Behinderungs- und Begrenzungsmacht zu unterscheiden und die eigenen und fremden Machtquellen richtig wahrzunehmen"
(Klöck, 1993).


Das klingt eher nach einer guten Technik, und mir persönlich gefällt der Ansatz des Psychotherapeuten Edmond Richter besser. Richter arbeitete zunächst als Physiker 18 Jahre lang im Management, ehe er seine Therapeutenausbildung machte. Er sieht Empowerment als Ausdruck einer neuen Lebensphilosophie, einer neuen Lebenskultur, die auf einem grundsätzlichen Perspektivenwechsel beruht. Danach basiert Empowerment auf einer neuen Lebenshaltung, die besagt, dass wir viel stärker, größer und fähiger sind, als wir zu denken wagen. Sie besagt außerdem, dass wir die Kraft haben, uns zu ändern, um mehr Freiheit, Verantwortung und Lebensfreude zu erfahren. Richter vertritt die Auffassung, dass wir tagtäglich mehr oder weniger unbewusst Entscheidungen treffen. Nach dem Empowerment-Prinzip sollten wir diese Entscheidungen lieber bewusst und lebensbejahend treffen als unbewusst und leidend. Dabei geht es laut Richter nicht darum, Probleme zu verleugnen, sondern sie als Herausforderung zu betrachten mit dem Wissen, dass sie lösbar sind.

So gesehen ist Empowerment eine neue Haltung, eine neue Art, in der Welt zu sein. Für jeden persönlich bedeutet das nach Richters Ansicht, mehr Selbstbestimmung und Freiheit zu gewinnen, aber auch Verantwortung zu Übernehmen und selbst schöpferisch zu werden statt Opfer zu bleiben. Wem diese Haltung vermittelt werden könne, der geht, so Richter, mit neuem Mut an seine Probleme heran und meistert sein Leben mit gesundem Selbstbewusstsein.

Bedeutung für die Weiterbildung

Für uns als Stiftung LEBENSNERV spielen beide Begriffe "Selbstbestimmung" und "Empowerment" eine zentrale Rolle. Sowohl unsere Erfahrung als auch wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass es MS-Betroffenen, die selbst Verantwortung für ihr Leben mit der Krankheit Übernehmen, besser geht als solchen, die in der Opferrolle verharren. Wer "empowered" ist, kann beginnen, sein Leben innerhalb der gegebenen Begrenzungen selbstbestimmt zu gestalten und wird feststellen, dass Grenzen sich erstaunlich weit verschieben lassen. Deshalb ist es ein wichtiges Ziel der Peer-Counseling -Weiterbildung der Stiftung LEBENSNERV, die eigenen Ressourcen von Empowerment und Selbstbestimmung zu stärken, damit die ausgebildeten Peer-CounselorInnen diese Gedanken und diese Lebenseinstellung den Ratsuchenden vermitteln können.







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