Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/04

Ein Pionier der Psychosomatik:

Zur Erinnerung an
Wilhelm Kütemeyer

Wilhelm Kütemeyer (1904-1972),
Mitbegründer der Anthropologischen
Medizin, wäre am 18. April 2004
100 Jahre alt geworden.


Wilhelm Kütemeyer (1904-1972), Mitbegründer der Anthropologischen Medizin, wäre am 18. April 2004 100 Jahre alt geworden. Seit 1945 war er als Internist und Psychotherapeut an der Universitätsklinik (Ludolf Krehl-Klinik) in Heidelberg tätig. In der Tradition von Ludolf Krehl, Richard Siebeck und Viktor von Weizsäcker galt sein besonderes Interesse der psychotherapeutischen Behandlung schwerer körperlicher Erkrankungen. Das Programm, das in seiner Abteilung ansatzweise realisiert werden konnte, war das Zusammenwirken psychosomatischer und naturwissenschaftlicher Forschung und Behandlung.

Die Ergebnisse der Psychoanalyse wurden in ihrer Bedeutung erkannt, anerkannt und genutzt, jedoch in einen weiteren Zusammenhang gestellt. Es geht um die genuinen Rechte (genuin = ursprünglich, naturgemäß, d.Red.) und Bedürfnisse - die Bestimmung - des Menschen, die von gesellschaftlichen Zwängen eingeengt, ja krankmachend, auch körperlich krankmachend, zerstört worden sind. In seinem Buch „Die Krankheit Europas“ (Suhrkamp 1951) hat Kütemeyer als Krankheit der Gesellschaft eine Spaltung diagnostiziert. Deren Wurzeln liegen in einer gestörten Kommunikation, das heißt in einer Objektivierung der Welt, des Menschen, des Anderen, die mit Descartes den Beginn der Neuzeit bestimmt. Dies bedeutet eine Spaltung in eine Welt der blinden, aber wirkungsmächtigen Materie (res extensa) und eine Welt des sehenden und fühlenden, im Bereich der Materie jedoch unwirksamen, ohnmächtigen Geistes (res cogitans).

Der nicht objektivierende ärztliche Umgang mit den körperlich Kranken brachte Funde, Befunde hervor, die einer Überwindung der Spaltung gleichkamen: Beginn und Verlauf körperlicher Krankheiten zeigten sich abhängig von bewussten und unbewussten Gefühlen und Gedanken, Erinnerungen, Verzweiflungen, Hoffnungen des jeweiligen Patienten, vom Schicksal seiner Rechte und Bedürfnisse. In der Welt der körperlichen Vorgänge (der res extensa) tauchten die geistig-seelischen Bewegungen, Deformierungen und Stillstände (die res cogitans) als mächtig wirksame Größe auf. Damit waren, zunächst in bescheidenem Umfang klinisch fundiert, die Grundlagen der naturwissenschaftlich herrschenden Dogmen empfindlich erschüttert.

Es ist nicht verwunderlich, dass Kütemeyer neben Zustimmung und Unterstützung auf massive Widerstände stieß. Die Zerstörung der von ihm aufgebauten Abteilung an der Ludolf Krehl-Klinik ist einer der ungeschriebenen großen Skandale der Nachkriegsgeschichte. Die Zuspitzung, die dadurch entstand, dass destruktive gesellschaftlichpolitische Kräfte im Mikrokosmos individueller Krankheit erkannt und bewusst gemacht wurden, mit der Folge der Entlarvung rein naturwissenschaftlicher Krankheitsauffassungen als Dogmen, überschritt offensichtlich die damaligen wissenschaftspolitischen Grenzen. Wenige Jahre später konnte man nicht umhin, ihm für seine wissenschaftlichen Verdienste eine Honorarprofessur zu verleihen

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