Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/04

Einfach anders fragen:

Der Weg zum Gesund-Sein


von Monika Fröschl


Was so selbstverständlich klingt: Gesund-Sein ist doch etwas Besonderes und Neues in unserer Welt. Das Besondere ist die Frage: „Was hält Menschen gesund“ statt ausschließlich zu erforschen „was
macht uns krank“. In der Realität beschäftigt sich die Wissenschaft weit überwiegend mit Fragen der
Entstehung und Bekämpfung von Krankheiten. Konsequent müsste man von einem „Krankheitssystem“
sprechen, weil sich unser Gesundheitssystem (so gut wie nie) nicht um die Frage des Entstehens
von Gesund-Sein kümmert. Genau hier fängt die Gesundheitswissenschaft an zu fragen.

Was bedeutet
Gesund-Sein?


Das althochdeutsche Wort „gisunt“, das angelsächsische „gesund“ und das altfriesische „sund“ bedeuten heil, wohlbehalten, lebendig. Gesund bin ich, wenn ich lebendig bin, heil in einem umfassenden Sinn unter Einbezug von Körper, Geist, Seele und sozialem Umfeld. Der Begriff „krank“ leitet sich vom althochdeutschen „kranc“ ab und heißt eigentlich gebeugt, gekrümmt. Erst im späten Mittelalter ersetzt dieses Adjektiv das Wort siech: elend.

„Gesundheit ist kein Zustand, keine Verfasstheit, ist kein Ideal und nicht einmal ein Ziel: Gesundheit ist ein Weg, der sich bildet, indem man ihn geht“. Dieses Zitat des Medizinhistorikers und Psychosomatikers Heinrich Schipperges (1988) weist auf eine kontinuierliche Gestaltbarkeit des Gesund-Seins im Leben hin. Ein Weg mit vielen Abzweigungen, Übergängen und Richtungen, Krisen und Konflikten, Scheidewegen,
die Alternativen möglich und Entscheidungen notwendig machen, ein Weg mit Grenzen, aber auch hohen Bergen und unendlichem Meer, mit Abgründen und blühenden Wiesen im Leben. Diesen Weg gehe ich nicht allein, sondern inmitten meiner Mitwelt und Umwelt. Gesund-Sein ist ein Prozess des aktiven Umgangs mit der erlebten Umwelt zum Zweck der persönlichen Verwirklichung in sozialer und kultureller Einbettung. Gesund-Sein stellt das Individuum in seinem Sein in den Mittelpunkt. Nicht das Haben von Gesundheit. Der systemische Blick richtet sich über das Individuum hinaus, indem das Individuum in Bezug zu seiner Mit- und Umwelt gesehen wird. Dabei wird berücksichtigt, dass das soziale und ökologische Umfeld eine wesentliche Rolle spielt. Mitwelt und Umwelt stellen für die Gesundheit bedeutende Ressourcen zur Verfügung. Jedoch existieren neben den Ressourcen auch Anforderungen und Risiken im personalen und ökosozialen Bereich. Ressourcen und Risiken stehen in struktureller Koppelung mit Gesundheit und Krankheit.

Gesundheit dagegen wird heute oft als abstrakter Begriff „gehandelt“. Die Entpersonifizierung
von Gesundheit und Krankheit spiegelt sich in vielen Bereichen der modernen Medizin, aber auch
der Wellness-Bewegung wider. Wir sind auf dem Weg zum machbaren Produkt „Gesundheit“, das
ich kaufen kann. Durch Kosmetik, Fitness-Studio oder Wellness-Hotel vermittelt.

Gesund-Sein als
Bewältigungsfähigkeit


Anders die systemische Sichtweise: „Gesundheit ist ein Gefühl des Wohlbefindens als Ergebnis
dynamischer Ausgeglichenheit der physischen und psychischen Aspekte des Organismus sowie
seines Zusammenwirkens mit seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt“ (Capra 1995, S.
361). Der Subjektbezug ist hier deutlich ausgedrückt. „Das, was Menschen unter Gesundheit verstehen
oder mit Gesundheit assoziieren, ist von ihrem gesellschaftlich-kulturellen Hintergrund abhängig.
Damit prägen Faktoren wie Lebensphase, Alter, soziale Herkunft, Bildungsgrad, Geschlecht,
Erziehung und die Strukturen des Gesundheitswesens das Gesundheitsverständnis des Einzelnen
und von Gruppen“ (Bundesministerium für Bildung 1997, S.5). Dabei schließt Gesund-Sein Aspekte des angemessenen Umgangs mit Krankheit, Sterben und Tod ein. Gesund-Sein ist dann gelingendes Leben, das Gestaltungskraft und Bewältigungsfähigkeit integriert. Dieses Verständnis macht es auch Frauen
und Männern mit Behinderungen oder chronischer Krankheit möglich, gesund zu sein. Eine Erfahrung,
die die langjährige Begleitung von Menschen mit HIV und AIDS bestätigt. Trotz der lebensbedrohlichen
Krankheit ist es (phasenweise) möglich, sich sehr wohl zu fühlen
(Fröschl 2000, S.12).

Es wird immer deutlicher, dass individuelle Vorstellungen von Gesundheit und individuelles Handeln im Umgang mit Gesundheit und Krankheit eine zentrale Bedeutung haben. Das individuelle Verständnis von Gesundheit führt zu größerem und weniger großem Wohlbefinden. Die Forschung belegt vielfältige soziale und kulturelle Unterschiede (alters, geschlechts-, krankheitsbedingte) in subjektiven Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Gesundheit und Krankheit werden in unterschiedlichen sozialen Gruppen und kulturellen Kontexten unterschiedlich erlebt, definiert und dargestellt. Dabei verwenden Angehörige der mittleren und oberen Schicht eher mehrdimensionale, positive und selbstbezogene Konzepte als Angehörge der unteren Schicht, die eher eindimensionale, negative und funktionale Aspekte betonen (Frank 1988, S.59)

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