Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/06




Patientenkompetenz und Komplementärmedizin

Dem Heraustreten von Patienten aus der Unmündigkeit und damit der Formulierung der legitimen Rechte und Ansprüche kompetenter Patienten ist es auch zu verdanken, dass der Begriff Komplementärmedizin heute eine andere Konnotation bekommt, als er sie noch vor wenigen Jahren hatte. So ist es heute nicht mehr zeitgemäß, die Begriffe Komplementärmedizin, Alternativmedizin, Paramedizin, Außenseitermedizin und ähnliche in einen Topf zu werfen.

Im modernen Verständnis hat Komplementärmedizin weniger mit Mitteln und Verfahren unbewiesener Wirksamkeit zu tun, als vielmehr mit der komplementären Wirklichkeit des Patienten mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und Behandlungsformen. Der folgende, authentische Dialog zwischen einem Arzt und Patient macht dies deutlich:
Patient: Herr Doktor, was meinen Sie dazu, wenn ich mir noch Mistel spritzen lasse?
Arzt: Da bin ich zurückhaltend. Man weiß zu wenig darüber, ob und wie die Mistel wirkt.
Patient: Mir ist es eigentlich egal, ob und wie die Mistel wirkt, Hauptsache sie hilft mir.

Kompetente Patienten glauben an die prognostische Relevanz der Patientenkompetenz. Sie sind überzeugt davon, ihre Abwehrkräfte, moderner ausgedrückt, ihre Selbstregulation durch eigenes Tun verbessern und damit zum günstigen Verlauf der Erkrankung beitragen zu können. Im Fall der Mistel berufen sie sich dabei auch immer wieder auf Untersuchungen, die auf einen positiven Zusammenhang zwischen dem Grad der Selbstregulation, dem Verlauf der Krebserkrankung und der Anwendung des Mistelpräparates Iscador hinweisen.10

Zum kompetenten Patienten gehört es fast untrennbar dazu, dass er sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt, sich als Co- Therapeuten versteht, Eigeninitiativen zur Selbstregulation ergreift und dabei ein persönliches Behandlungskonzept entwirft, welches zur eigenen, komplementären Wirklichkeit passt. Das in dieser Absicht eingenommene Mittel soll ihm, dem Patienten, im Rahmen der Selbsthilfe helfen, soll ihn dabei unterstützen, den eigenen Weg in und trotz der Erkrankung selbstsicher und mit normalem Lebensgefühl zu gehen. Wenn kompetente Patienten für sich komplementäre Therapiekonzepte entwerfen, so entwerfen sie damit kein alternatives Therapiekonzept zur Schulmedizin, äußern sie damit keine Kritik am tumorzentrierten Vorgehen der Onkologie. Sie bleiben dem therapierenden Arzt absolut treu. Sie holen sich vielleicht eine zweite Meinung, Second Opinion ein, um sich noch überzeugter hinter den Arzt und seinen Behandlungsvorschlag stellen zu können. Aber sie bleiben dem Arzt gegenüber vertragstreu. Allerdings – sie erwarten Vertragstreue auf Gegenseitigkeit. Zusammengefasst ist es für die Diskussion unseres Themas Arzneimittelsicherheit von Bedeutung, dass kompetente Patienten ihr eigenes, zur schulmedizinischen Therapie komplementäres System der Behandlung errichten. Der gesamte pharmazeutisch-medizinische Versuch der Qualitätssicherung der Arzneimittelversorgung kann ins Leere laufen, wenn er nicht kompatibel ist mit dem, was der Patient an Selbstmedikation noch hinzufügt.


Patientenkompetenz und Ethik

Ich kann diesen sehr wichtigen und außerordentlich umfangreichen Aspekt an dieser Stelle nur streifen. Von zentraler Bedeutung ist für mich hier das oben schon zitierte Wort von Karl Jaspers „der Patient braucht die Freiheit, die medizinische Ordnung zu durchbrechen“.

In all den Diskussionen, die in den letzten 20 – 30 Jahren über Patientenrechte geführt worden sind, ist ein Aspekt jetzt, mit dem Aufkommen immer mehr kompetenter Patienten nachzuarbeiten, nämlich die Bedeutung der Patientenkompetenz für die Strukturen und Verfahrensweisen unseres Gesundheitssystems.

In diesem Zusammenhang stehen sehr viele Themen zur Diskussion.
Als Beispiele nenne ich:



Die Stiftung Patientenkompetenz, eine Initiative für kompetente Patienten

Ich hatte gesagt, dass der Begriff Patientenkompetenz aus der Sprachwelt von Patienten des 21. Jahrhunderts stammt. Natürlich gab es auch früher Patienten, die dieser Definition entsprachen. Auch die Selbsthilfebewegung ist ja nicht neu. Neu ist jedoch das Ausmaß, mit dem das Gedankengut der Selbsthilfe heute ins allgemeine Bewusstsein gelangt. Ja, es scheinen sich dieses Gedankengut und der damit verbundene Imperativ des Handelns zu einem eigentlichen Megatrend, vielleicht sogar einem Signum des 6. Kondratieff- Zyklus (zur Erläuterung siehe Literaturhinweis 11, d.Red.) zu entwickeln.

ch bin das erste Mal auf diesen Trend Ende der 90er Jahre gestoßen, als immer mehr Patienten zu uns in die Klinik für Tumorbiologie kamen, um eine zweite Meinung einzuholen. Wir haben damals die Anregung von Patienten aufgegriffen, die zweite Meinung als neues medizinisches Versorgungsmodell in Deutschland etabliert12 und begonnen, das Phänomen der Patientenkompetenz wissenschaftlich zu bearbeiten. Es zeigte sich aber auch, was allerdings zu erwarten war, dass nämlich unseren Bemühungen zur Förderung der Patientenkompetenz erhebliche Widerstände vor allem aus Kreisen der Berufskollegen selbst auslösten. Derartige Widerstände gegen die Ausbreitung des Gedankens der Patientenkompetenz bestehen auch heute noch und werden nicht einfach zu überwinden sein. Allerdings darf man es der Medizin und dem Gesundheitswesen nicht zum Vorwurf machen, wenn sie den genannten Trend nicht nur freudig begrüßen. Schließlich haben sie sich im letzten Jahrhundert unter anderen Prämissen etabliert und stehen nun vor einem Wandel des bisherigen Selbstverständnisses, der wie jeder tief greifende Wandel eine große Herausforderung ist.

Andererseits ist die Medizin eine dienende Disziplin. Sie dient der Gesellschaft und den einzelnen Angehörigen derselben. Nicht der Patient ist für die Medizin da, sondern die Medizin für den Patienten. Also haben wir Mediziner uns den Ansprüchen unserer Gesellschaft zu fügen und zu prüfen, ob und wie neue Ansprüche in bestehende Strukturen eingepasst werden können.

Aber dazu braucht es Modelle und Einrichtungen, die es sich zur Aufgabe machen, derartige Neuerungen - wie hier die Patientenkompetenz - in ihren Anfängen zu begleiten, sie zu fördern, zu erforschen und dann hoffähig zu machen.

Die Stiftung Patientenkompetenz und die vor kurzem gegründete wissenschaftliche Gesellschaft zur Förderung der Patientenkompetenz13,14 sind meines Wissens die ersten Institutionen, die kein anderes Ziel verfolgen, als die Patientenkompetenz zu erforschen, zu fördern und gemeinsam mit anderen Einrichtungen zu prüfen, wie sich die Interessen von kompetenten Patienten in die patientenorientierten Strukturen und Verfahrensabläufe im Gesundheitswesen einpassen lassen.




Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Gerd Nagel

Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Patientenkompetenz
Haldensteig 10
CH - 8708 Männedorf
www.stiftung-patientenkompetenz.org
und
www.patientenkompetenz.org


Zum Weiterlesen:
Annette Bopp, Delia Nagel, Gerd Nagel:

Was kann ich selbst für mich tun?
Patientenkompetenz in der modernen Medizin.
Rüffer & Rub, Freiburg 2005,
ISBN: 3-907625-23-4, 128 S.,
16,10 €




Literatur

1 Patientenkompetenz
Hauptthema der Zeitschrift Brückenschlag der Klinik für Tumorbiologie Freiburg Nr. 27 Juni 2001

2 Nagel G., Theobald S., Neusetzer B., Audörsch I. : Patientenkompetenz:

Begriffsbestimmung und prognostische Relevanz bei Krebs – Ergebnisse einer Umfrage. Deutsche Zeitschrift für Onkologie 36 110-117 (2004)

3 Scheibler F.: Shared Decision Making.

Von der Compliance zur partnerschaftlichen Entscheidungsfindung. Huber Verlag Bern 2004

4 Arbeitsgruppe Patientenkompetenz
der Klinik für Tumorbiologie Freiburg.

5 Antonovsky A.: Health, Stress and Coping:

New Perspectives on Mental and Physical Well-Beeing. Jossey-Bass Publisher San Francisco, London 1987 (Anmerkung des Autors: Das zentrale schulmedizinische Paradigma des Denkens und Handelns ist das pathogenetische, die Zentrierung auf die Krankheit. Antonovsky prägt den Begriff Salutogenese, das Zustandekommen von Gesundheit)

6 Bartsch H. H., Bengel.J (Hrsg.): Salutogenese in der Onkologie.
Karger Verlag Freiburg 1997

7 Rothschuh K.E.: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart.
Hippokrates Verlag Stuttgart 1978

8 Höckel M., Heckl U., Nagel G. (Hrsg.): Der Krebs-Patient in der Apotheke.

Therapiestandards, Unkonventionelle Mittel, Pharmazeutische Betreuung. Deutscher Apotheker Verlag Stuttgart 2003

9 Nagel G., Heckl U.: Beratung von Krebspatienten in der Apotheke.
Deutsche Apotheker Zeitung 141 39–44 (2001)

10 Grossarth-Maticek R. et. al.: Use of lscador in cancer treatment.
Alternative therapies 7 1066-1075 (2001)

11 Nefiodow L., A.: Der sechste Kondratieff.

Rhein-Sieg Verlag Bonn 2001
(Anmerkung des Autors: Kondratieff Zyklen nennt man lang anhaltende lnnovationsschübe, die von der Anwesenheit bahnbrechender Basisinnovationen ausgelöst werden. Die Dampfmaschine, das Auto, die Informationstechnik sind Beispiele. Beim 6. Kondratieff handelt es sich nach Nefiodow um den Gesundheitsmarkt)

12 Heimpel H., Hess C. F., Hohenberger W., Nagel G., Schäfer H. E.: Second Opinion in der Onkologie.
Onkologie 22 246–250 (1999)

13 Stiftung Patientenkompetenz –
www.stiftung-patientenkometenz.org

14 Wissenschaftliche Gesellschaft zur Förderung der Patientenkompetenz e.V.
Talstr. 1, D - 79000 Freiburg
www.patientenkompetenz.org






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