Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/07

Bücherkiste


Plädoyer für Geschichten im klinischen Alltag



„Sie hören nicht zu“ (Kurt Tucholsky über die Ärzte)

Trisha Greenhalg, Brian Hurwitz (Hg.):
Narrative-based Medicine – Sprechende Medizin.
Verlag Hans Huber, Bern 2005,
ISBN:3-456-84110-8, 350 S. 29,95 Euro

Dieses Buch ist ein Plädoyer für Geschichten – Geschichten in der Medizin und dafür, dass die PatientInnen sie ihrem Gegenüber auch vollständig erzählen dürfen. Allerdings ist es häufig so, dass viele MedizinerInnen die Geschichten ihrer PatientInnen nicht bis zu Ende anhören. Im Durchschnitt unterbricht ein Arzt die Erzählung eines Patienten bereits nach 18 Sekunden. Und das trotz der Tatsache, dass die gesamte Geschichte, falls sie hätte zu Ende erzählt werden dürfen, nur 28,6 Sekunden im Durchschnitt gedauert hätte. Dabei ist für die ÄrztInnen viel gewonnen, wenn die ErzählerInnen dazu ermutigt werden, ihre Geschichte, mögliche Ursachen der Symptomentwicklung oder eine belastende Situation zu Hause oder am Arbeitsplatz zu erzählen. Geschichten ermöglichen die Konstruktion von Bedeutung und stellen möglicherweise nützliche Hinweise für einen ganzheitlichen Behandlungsansatz dar. Konsequenterweise nennt sich solch eine Herangehensweise „Narrativ basierte Medizin“- in Ergänzung zur „Evidenz-basierten Medizin“, die sich vor allem auf „objektive Befunde“ aus „wissenschaftlichen Untersuchungen“ stützt. Dieses Buch enthält 24 Aufsätze von MedizinerInnen aus unterschiedlichen Bereichen und richtet sich vor allem an die eigene Zunft. Es ist die einzige deutschsprachige Anleitung, wie „sprechende Medizin“ gelernt und angewendet werden kann. Sehr wohltuend zu lesen, auch für NichtmedizinerInnen!

HGH




medizinHuman


Bernd Hontschik: Körper, Seele, Mensch. Versuch über die Kunst des Heilens.
Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main 2006,
ISBN: 3-518-45818-3, 143 S. 6,50 Euro

Im letzten Jahr startete der Frankfurter Suhrkamp Verlag eine neue Reihe mit vier Titeln: „medizinHuman – Bücher über die Heilkunst“ heißt diese Reihe, die von Bernd Hontschik, seines Zeichens Chirurg in Frankfurt am Main, herausgegeben wird. Ihr Anspruch ist es, „spannend und verständlich aktuelle Entwicklungen des Gesundheitswesens und der medizinischen Praxis (zu) hinterfragen“.
Hontschik selbst schreibt auch das erste Buch der Reihe mit dem Titel „Körper, Seele, Mensch – Versuch über die Kunst des Heilens“ – einen schmalen, doch nichtsdestotrotz gehaltvollen Band über sein Verständnis der Heilkunst. Da sich Hontschik auch in der Akademie für Integrierte Medizin engagiert, wundert es nicht, dass er sich ausführlich mit einem neuen Verständnis von Medizin befasst. Hierbei ist das Grundelement der Begriff der „Passung“ beziehungsweise sein Gegenstück, die „Passungsstörung“. Dabei ist „Passung“ die „mal mehr, mal weniger gelungene Einheit, die jedes Lebewesen mit seiner Umwelt bilden muss, um zu überleben.“
In Hontschiks Buch geht es insgesamt um die Irrwege der hochgerüsteten Medizin und die Wichtigkeit ärztlicher Kreativität. Warum heilen Wunden entgegen aller Logik nicht zu? Warum wirken Medikamente und warum wirken sie manchmal nicht? Seine Antwort: Der Mensch ist mehr als eine einfache Maschine und die Kunst des Heilens besteht darin, ihn auch so zu behandeln: als Einheit von Körper und Seele.


Die weiteren Titel bei Suhrkamp:


Christian Hess, Anita Hess-Cabalzar: Menschenmedizin.
Für eine kluge Heilkunst (Bericht über das Modell einer interdisziplinären Medizin des Schweizer Spitals Affoltern)

Manfred Spitzer:Nervenkitzel.
Neue Geschichten vom Gehirn (Aktuelles aus der Hirnforschung)

Klaus Rathheiser: Dauerfeuer.
Das verborgene Drama im Krankenhausalltag (Über den alltäglichen Wahnsinn des modernen Krankenhausbetriebes)


HGH





Nina – Ein Leben mit MS.

DVD und CD-ROM, herausgegeben von der DMSG. Für DMSG-Mitglieder kostenlos erhältlich, 4,50 Euro für Nicht-Mitglieder. Bestellmöglichkeit über www.dmsg.de
oder www.emotional-science.de (mit Vorabinfos). In diesem 35-minütigen Film wird die Geschichte der jungen Frau Nina vom Auftreten erster
MS-Symptome bis zu den ersten Erfahrungen im Leben mit der Krankheit eine Weile nach der Diagnosestellung erzählt. Auf der DVD sind außerdem Informationen zu medizinischen Details sowie Interviews mit einigen an der Filmherstellung Beteiligten zu finden. Von einer beiliegenden CD-Rom sind DMSG-Broschüren im pdf-Format und weitere Informationen über MS und die DMSG herunterzuladen. Das Gesamtwerk, finanziert unter anderem von pharmazeutischen Unternehmen, soll informieren und Mut machen. Mein Urteil lautet „Thema verfehlt“ und zwar aus folgenden Gründen: Seinem Informationsanspruch wird der Film nicht gerecht: Vor allem die medizinischen Informationen sind so kompliziert dargestellt, dass sie vielleicht für langjährig MS-Betroffene oder NeurologInnen eine Auffrischung ihres Fachwissens ermöglichen, sich aber meiner Meinung nach nicht als Information für Neubetroffene oder Angehörige eignen. Der Film ist aus zumindest zwei Gründen nicht Mut machend: Zum einen wird durch die Darstellung der Verlaufsformen vermittelt, dass MS zwangsläufig zu fortschreitender Behinderung führt.
Das ist sachlich falsch und entmutigend. Zum anderen bleibt Nina mit ihrer Erschütterung und Hilflosigkeit nach der Diagnosestellung allein. Es hilft ihr nicht, vom Arzt zu hören „Sie können stolz auf sich sein, viel Glück!“ oder von einer Frau in einer DMSG-Beratungsstelle „Du schaffst das“ und sich einen Film vorführen zu lassen. Niemand hört ihr zu, niemand geht empathisch auf sie ein. Das ist nicht Mut machend, sondern deprimierend. Der Untertitel „Ein Leben mit MS“ ist irreführend, da der Film da endet, wo das Leben mit MS beginnt. Es ist schade, dass eine Chance vertan wurde, einen wirklich informativen und ermutigenden Film über das Leben mit MS zu produzieren. Dieses Werk kann ich jedenfalls niemandem empfehlen.


S

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