Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/07

Perspektivenwechsel
im Gesundheitswesen

Von PatientInnen zu PartnerInnen


Festvortrag von Sigrid Arnade

Ehe ich auf den Perspektivenwechsel im Gesundheitswesen konkret eingehe, möchte ich anhand des Behindertenbereichs veranschaulichen, was ich mit dem Perspektivenwechsel meine und wie er sich auswirken kann. Im Anschluss an Ausführungen zum Perspektivenwechsel im Gesundheitswesen gehe ich auf aktuelle Entwicklungen und die Konsequenzen ein.


Der Perspektivenwechsel im Behindertenbereich

Wie es war
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass behindertes Leben lange Zeit als minderwertig, als zumindest zweitklassig betrachtet wurde. Im antiken Griechenland und in Rom wurden missgebildete Kinder kurzerhand umgebracht. In der Zeit des Nationalsozialismus erreichte der Wahn, Krankheit und Behinderung auszurotten, mit etwa 100.000 Morden an behinderten Menschen und schätzungsweise 350.000 Zwangssterilisationen seinen grausamen Höhepunkt. Nach 1945 endete zwar das Morden, das Denken aber änderte sich nicht schlagartig.

In den 50er, 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebten Menschen mit Behinderung in Deutschland, dass sie versorgt und gleichzeitig fürsorglich entmündigt wurden. Mit paternalistischer Mildtätigkeit stürzte sich das Fürsorgewesen auf die vermeintlich armseligen bemitleidenswerten Kreaturen und versuchte, ein gutes Werk zu verrichten. Behinderte Menschen waren durch eine umfassende Sozialgesetzgebung abgesichert. Überall jedoch wurden Krankheit und Behinderung primär unter einem medizinischen, defizitorientierten Blickwinkel betrachtet. Nach wie vor galt Behinderung als etwas Fremdes mit dem Makel der Minderwertigkeit. Der Journalist Ernst Klee karikierte die Situation in seinem 1976 erschienen Behindertenreport II mit dem Bild vom „Musterkrüppelchen: dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten“.


Wie es sich veränderte

In den USA begannen vor allem Kriegsveteranen und Poliobetroffene bereits in den 60er Jahren, ihre Bürgerrechte einzuklagen. Sie forderten, an allen Gütern und Dienstleistungen der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben zu können. Durch viel Kampf gelang es den verschiedenen Behindertengruppierungen gemeinsam, Gleichstellungsgesetze durchzusetzen. Die Gleichstellungsgesetzgebung erreichte mit dem „Americans with disabilities act“ von 1990 seinen vorläufigen Höhepunkt. Darin wird eine weitgehende gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen festgeschrieben. Nach US-amerikanischem Vorbild begannen seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre auch behinderte Menschen in Deutschland, sich zu emanzipieren. Sie forderten einen Perspektivenwechsel weg von der entmündigenden Fürsorge hin zu mehr Bürgerorientierung, zur Kommunikation auf einer Augenhöhe und zur Beteiligung der Betroffenen.

In diesem Prozess kam dem Jahr der Behinderten 1981 eine besondere Bedeutung zu: Es wurde vielfach, gerade von den emanzipierten behinderten Menschen kritisiert, hatte aber auch einen, von den offiziellen Stellen nicht vorhergesehenen Effekt: Die Behindertenbewegung ist durch ihre Kritik gegen dieses Jahr politischer geworden. Sogenannte „Krüppelgruppen“ gründeten sich, Ende 1981 wurde das „Krüppeltribunal“ durchgeführt. Der beschriebene Perspektivenwechsel wurde angedacht mit dem Ziel, als Bürgerrechtsbewegung die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte einzufordern.


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