FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 20. Jahrgang, 2. Halbjahr 2010




Wir haben nun knapp 150 Menschen gefragt, was wollt ihr eigentlich? Man sieht, dass die Mehrzahl das „shared decision making“, also das „gemeinsame Entscheiden“ will, aber genauso viele wollen entweder ganz autonom oder zumindest fast autonome Entscheidungen. Auf der rechten Seite, der arztzentrierten Seite befinden sich gerade mal 13 Betroffene. Interessanterweise ist das nicht in allen Kulturen so. Die italienischen Kollegen haben auch einmal Menschen mit MS in Italien und Medizinstudenten in Italien gefragt. Das Ergebnis: autonom oder „informed choice“ will kaum jemand in Italien, die Medizinstudenten schon ein bisschen mehr, aber selbst von denen sagen immer noch 20 Prozent „ich würde mich lieber in die Hände des Arztes begeben“. In Deutschland scheint es also ein bisschen anders zu sein als in den anderen Ländern. Wir versuchen, das gerade europaweit zu erfragen und herauszufinden, ob es Unterschiede zwischen den Ländern und den Kulturen gibt.

Es gab vor einigen Jahren einen Förderschwerpunkt zum „shared decision making“, bei dem wir auch ein Projekt hatten. Es wurde zu verschiedenen Krankheitsbildern geforscht und nach der Autonomie- Präferenz bei verschiedenen Erkrankungen gefragt: Verletzungen, Bluthochdruck, Depressionen, Brustkrebs, Schizophrenie, und man sieht (Abb.4), die MS sticht hier sehr heraus. Die MS-Patienten wollen deutlich mehr Autonomie als die anderen. Das mag auch daran liegen, dass es vielleicht häufig jüngere Menschen trifft.

Was braucht man nun zur Autonomieübernahme? Man braucht gute, unverzerrte, vollständige und relevante Informationen, wie wir das nennen „Evidenz-basierte Patienteninformationen“. Es gibt zu den Evidenz-basierten Patienteninformationen eine ganze Reihe von Arbeiten. Aus unserer Arbeitsgruppe gibt es die Kriterien für Evidenz-basierte Patienteninformationen, die inzwischen überarbeitet in Englisch erschienen sind und es gibt ganz frisch vom deutschen Netzwerk für evidenzbasierte Medizin (DNebM), die so genannte „Gute Praxis Gesundheitsinformation“. Vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) gibt es das „Manual Patienteninformation“, das 2009 erschienen ist. Alle sagen mehr oder weniger dasselbe aus und die Kriterien für Evidenz-basierte Patienteninformation sind deshalb wie folgt. Erstens: Sie muss unverzerrt sein, dabei muss man die Stärke der Evidenz berücksichtigen: liegen also verlässliche Informationen darüber vor, dass es hilft? Zweitens: Ich muss relevante Endpunkte berichten, das bedeutet: Welche Ergebnisse berichte ich eigentlich, wenn ich beispielsweise sage „Exercise-Training, das ist ein ganz tolles Training, das müsst ihr alle machen, weil es die Muskeln so gut aufbaut“. Dabei muss man sich fragen, ob das relevant ist oder ob es um die Erhöhung der Mobilität geht oder darum, Fatigue zu bekämpfen. Drittens: Es muss in absoluten Zahlen berichtet werden, darauf gehe ich gleich noch genauer ein. Viertens: Wirkung und Nebenwirkungen müssen gleichberechtigt dargestellt werden. Sie wissen selber, dass dies in der Regel alles andere als der Fall ist. Fünftens: Es muss ausgewogen und verständlich sein, es muss auch lesbar sein, eine Hürde, an der wir oft immer noch scheitern. Sechstens und ganz wichtig: Es müssen Betroffene in den Entwicklungsprozess einbezogen werden, denn sonst haut das nicht hin und siebtens: Welche Meta-Information gibt es? Bin ich in der Lage, als Verbraucher, als Leser, Patient rauszukriegen, wie es eigentlich entwickelt worden ist und wie viel Geld von Schering oder auch nicht von Schering rein geflossen ist - also gibt es Interessenkonflikte der Autoren? Ein ganz wichtiger Punkt!

Zum Kriterium der absoluten Zahlen ein kleines Beispiel: Das hier ist eine Werbung für ein Interferon, ich will keine Namen nennen, so wie diese Ärztewerbungen eben sind. Sie sehen (Abb.5) die junge erfolgreiche Frau, die im Berufsleben steht trotz MS, weil sie eben dieses Immun-Medikament nimmt. Unten stehen die Ergebnisse der Zulassungsstudie. Einen Punkt, den wir herausgegriffen haben ist: „37 Prozent Reduktion der Behinderungsprogression“. Das macht dieses Medikament aus und das hört sich ja erst mal ziemlich viel an. Wir erinnern uns an die Regenwahrscheinlichkeit – doch was bedeutet das?






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