FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 1. Halbjahr 2011

„Es fiel mir nie leicht, darüber zu reden“
Interview mit Bundespräsident Christian Wulff

Bundespräsident Christian Wulff über multiple Sklerose, die Eigenarten der unheilbaren Krankheit und wie er seine daran leidende Mutter pflegte.

Herr Bundespräsident, Ihre eigene Mutter war an multipler Sklerose erkrankt. Mit welchen Fehlurteilen über diese Krankheit sind Sie – heute Schirmherr der Deutschen MS-Gesellschaft – besonders häufig konfrontiert?

Die Beschwerden bei MS werden von Menschen, die nur wenig über die Krankheit wissen, oft falsch gedeutet. Beispielsweise gehen MS-Patienten manchmal etwas unsicher, etwas schwankend – und werden deshalb als alkoholisiert wahrgenommen. Immer wieder stoße ich auch auf das Vorurteil, MS bedeute letztendlich stets ein Leben im Rollstuhl. Das ist genauso falsch.

Multiple Sklerose wird als „Krankheit mit 1000 Gesichtern“ beschrieben, weil die Beschwerden von Patient zu Patient so verschieden sind. Wie stark wirkt sich diese Unsicherheit auf die Betroffenen aus?

Wenn ein Arzt MS diagnostiziert, ist das immer mit dem Hinweis verbunden: unheilbar! Das löst einen Schock aus, den alle erst mal zu verarbeiten haben – vor allem die Betroffenen, aber natürlich auch die Angehörigen. Die psychische Belastung ist auch deshalb hoch, weil sich der Verlauf der Erkrankung individuell nicht vorhersehen lässt. Zwischen Phasen mit einer schnellen Abfolge von Schüben kann es eine lange Zeit mit kaum erkennbarer Beeinträchtigung geben. Viele schwanken deshalb zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Dies sollte man wissen.

Was mit dazu führt, dass die Kranken stigmatisiert werden oder sich selbst zurückziehen?

Man erlebt beide Fälle: Dass Betroffene sich vieles nicht mehr zutrauen, was sie durchaus noch leisten könnten. Und dass die Umgebung ihnen zu wenig zutraut. Das eine ist so falsch wie das andere. Menschen mit der Diagnose MS sind oft über Jahrzehnte hinweg leistungsfähig im Beruf.

Allerdings geht nur jeder zweite MS-Kranke einer Berufstätigkeit nach. Könnten das weit mehr sein?

Ich glaube: ja. Dazu braucht der Erkrankte Hilfe. Vielleicht ist er nicht mehr im ICE-Tempo unterwegs, sondern langsamer. Aber er kann weiterhin fast jedes Ziel erreichen. Je besser die Menschen im Umfeld von Erkrankten über die Eigenarten der MS Bescheid wissen, desto normaler gehen sie mit den Betroffenen und ihren Angehörigen um. Immer wieder begegne ich starken Persönlichkeiten, die ganz bewusst mit ihrer Krankheit umgehen, etwa Mütter, die mit der Diagnose MS Kinder bekommen haben und diese großziehen.





voriger Artikel ** nächster Teil
FP-Gesamtübersicht
Startseite