FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 1. Halbjahr 2011




Wie sehr hängt die Entwicklung der Krankheit vom Patienten selbst ab?

Ich halte diese Frage für entscheidend: Ergebe ich mich – oder stemme ich mich dagegen? Bei jenen, die sich sehr früh mit der Diagnose aktiv auseinandergesetzt haben, früh Physiotherapie gemacht und sich auch weiterhin viel zugemutet haben, konnte ich beobachten, dass der Verlauf der Krankheit häufig sehr viel langsamer oder sogar gestoppt wurde. Die eigene Willenskraft ist ganz wichtig. Ohne dass ich treffsicher sagen kann, wie ich selbst in einer solchen Situation reagieren würde.

Ihre eigene Mutter erkrankte Mitte der 70er-Jahre an multipler Sklerose. Wie ging sie mit dem Leiden um?

Sie bewältigte die Krankheit schwer und konnte sich nie richtig damit abfinden.

Als Ihre Mutter erkrankte, waren Sie und Ihre große Schwester Teenager. Ihre kleine Schwester war erst sechs Jahre alt. Ein Vater im Haus fehlte. Was bedeutete die Erkrankung im Alltag?

Bei meiner Mutter schritt die Krankheit in sehr schnellen Abfolgen von Schüben voran. Beim ersten Mal fiel sie um, erlebte Sehstörungen, Lähmungen im linken Bein, im linken Arm und Gleichgewichtsstörungen. Das ist ein typischer Beginn der Krankheit. Relativ schnell kamen weitere Symptome dazu, so dass sie bereits nach wenigen Jahren intensive Pflege benötigte. Das betrifft dann die ganze Familie. Es fiel mir nie leicht, darüber zu reden. Aber als Schirmherr der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft will ich damit Kindern und Jugendlichen, aber auch Eltern helfen, die sich einer schweren Krankheit alle gemeinsam stellen müssen.

Immerhin teilen Ihr Schicksal heute rund 225 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Weil ihre Eltern behindert oder chronisch krank sind, müssen sie bei der Pflege helfen. Was brauchen solche Heranwachsenden?

Eines will man dann jedenfalls nicht: Mitleid! Lehrer, Nachbarn, Mitschüler sollen nicht sagen: „Ach, der Kleine, der hat’s so schwer …“ Was solche Kinder brauchen, ist ganz konkrete Hilfe. Uns wurde damals von unterschiedlichsten Menschen geholfen. Von einer Nachbarin, von Mitgliedern der Kirchengemeinde, von Lehrern – einfach so.

Es gibt heute bundesweit ein flächendeckendes Netz von MS-Kontaktgruppen, die Hilfe organisieren. Bei uns half eine Studentin, indem sie ein-, zweimal in der Woche kochte. Das war eine ganz, ganz tolle Erfahrung ehrenamtlichen, uneigennützigen Engagements. Unvergesslich. Im Übrigen: Wer so Hilfe erfährt, wird auch anderen gerne helfen.

In Deutschland wird immer wieder beklagt, dass zu wenig Menschen bereit sind, anderen beizustehen.

Das sehe ich nicht so. Es ist nachweisbar, dass das mitmenschliche Engagement zunimmt – auch bei sehr jungen Leuten. Darüber freue ich mich sehr. Es ist wichtig, dass wir dieses Engagement auch anerkennen. Wir sind da auf einem guten Weg. Im Zeugnis kann heute das soziale Engagement vermerkt werden, damit ein Ausbildungsbetrieb sagt: Okay, der hat jetzt nur eine Vier in Mathe, aber er setzt sich ein beim Jugend-Rotkreuz. Und wir wollen doch Leute haben, die auf andere zugehen, die soziale Kompetenzen haben, die mitfühlen und Einfühlungsvermögen haben.

Trotzdem ist vielen Menschen das Liebste, wenn sie mit den Problemen ihrer Nachbarn oder Verwandten nicht behelligt werden.

Diese Menschen verpassen aber auch etwas. Diejenigen, die anderen helfen, geben nämlich nicht einfach nur Zeit und Energie. Sie bekommen auch unheimlich viel zurück: Dankbarkeit, Gemeinschaft, Lebensglück. Deshalb ist es kein Zufall, dass aktive Menschen, die sich für andere einsetzen und viel gemeinschaftlich unternehmen, im Durchschnitt länger leben.





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