FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 1. Halbjahr 2011




Ihnen hat vor allem eine Nachbarin geholfen. Kannten Sie diese Frau schon vorher?

Sie war Mitglied der katholischen Gemeinde, sie half aus einer christlichen Motivation heraus. Sie war sicherlich die zentrale Person, ohne die es nicht gegangen wäre.

War diese Frau auch für Sie, für die Kinder, eine Vertrauensperson?

Weniger, dafür war sie zu stark mit der Pflege meiner Mutter und dem Haushalt beschäftigt. Wir Kinder haben versucht, uns gegenseitig zu stützen. Meine ältere Schwester und ich haben uns angestrengt, meiner kleinen Schwester – so gut es ging – Halt zu geben. Und das geht auch, selbst wenn man erst 15 oder 16 Jahre alt ist. Kinder erwarten normalerweise Hilfe auf dem Weg ins Leben. Wenn sie stattdessen Hilfe geben müssen, ist das eine ganz spezielle Erfahrung. Diese birgt einen gewissen Leidensdruck, aber auch die Chance, früh erwachsen zu werden, man wächst an der Aufgabe: Man macht einfach Dinge, die ansonsten erst später auf einen zukommen. So haben wir das damals für uns gesehen.

Das klingt für einen Teenager sehr rational, sehr abgeklärt.

Ich weiß, dass das etwas altklug klingt. Aber so habe ich das wirklich damals empfunden und auch erlebt.

Die Pflegeforschung nennt als positive Lerneffekte für Kinder aus krankheitsbelasteten Familien ein gesteigertes Selbstwertgefühl, eine frühere innere Reifung und ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Es gibt natürlich auch die schlimmen Folgen: Schulprobleme, Ermüdung, Angst und Schuldgefühle.

Die Entbehrung sehe ich eher in dem, was man in dieser Zeit verpasst. Dass man in der Heimatstadt studiert, statt mal ins Ausland zu gehen. Dass man nicht einfach mit Freunden losziehen und ungezwungen ausgehen kann.

Weil Ihre kranke Mutter zu Hause auf Sie gewartet hat?

Ja, ich habe meine Mutter immer abends ins Bett gebracht.

Wussten das die anderen Jugendlichen?

Meine Freunde, ja. Aber nicht im Detail. Mit 15, 16 Jahren eine Mutter zu pflegen, darüber redet man in dem Alter nicht. Das ist doch sehr persönlich. Sehr privat.

Viele Kinder leiden sehr unter solch einer Situation. Ihr Großvater Walter Evers hat Ihnen kurz vor seinem Tod gesagt: „Du musst in deinem Leben Verantwortung tragen und für andere da sein.“ War dieser Satz eine entscheidende Wegmarke in Ihrem Leben?

Ich fühlte mich damals unheimlich ernst genommen. Er hat mir manche Dinge auf den Weg mitgegeben, die ich damals noch nicht verstanden habe. Erst später. Aber es hat mich bis heute geprägt.

Fast klingt es so, als seien Sie im Nachhinein froh, dass Sie in jungen Jahren so stark gefordert wurden?

Mich haben diese Erfahrungen auf alle Fälle sehr selbstbewusst gemacht. Wenn Sie eine solche Lebensphase gemeistert haben, sehen Sie auch neuneinhalb Stunden in der Bundesversammlung mit drei Wahlgängen in einem ganz anderen Licht. Das ist dagegen fast ein Spaziergang.




von FOCUS-Redakteurin Dr. Regina Albers, FOCUS-Korrespondent Rainer Pörtner und FOCUS-Redakteur Frank Thewes (Berlin)

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus dem FOCUS Magazin, Ausgabe Nr.49, 2010





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