FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 1. Halbjahr 2011

Krankheitserfahrungen II
Erfahrungen – Christoph Schlingensief

Der Theaterregisseur Christoph Schlingensief ist im August 2010 im Alter von 49 Jahren an Lungenkrebs gestorben. In seinem Buch über seine Erkrankung „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ (Kiwi, Köln 2009) schreibt er:

Fürchterlich! Wenn man diese Betroffenenforen im Internet liest, wird einem ganz schlecht, da wird man sofort noch schlimmer krank. Und man merkt, was für eine Hilflosigkeit in diesem Gesundheits - system steckt. Das muss mal laut und deutlich gesagt werden, was da für eine Hilflosigkeit, eine Unfähigkeit herrscht. Weil die Menschen nicht nur allein gelassen werden mit ihren Ängsten, sondern auch statisch gemacht werden in ihrer Verzweiflung. Sie bekommen mitgeteilt, dass sie krank sind, und geraten dann in einen Prozess, der sie völlig entmündigt. Nicht die Krankheit ist das Leiden, sondern der Kranke leidet, weil er nicht fähig ist zu reagieren, weil er nicht die Möglichkeit hat, mitzumachen. Er ist dem System ausgeliefert, weil niemand in diesem System bereit ist, ernsthaft mit ihm zu sprechen. Klar: Diagnose, Prognose, Therapie, es wird beinhart aufgeklärt, aber wirklich miteinander gesprochen wird nicht. Dabei könnte man allein dadurch helfen, dass man mit den Menschen spricht, zu Gedanken animiert oder nach Ängsten und Wünschen fragt. Denn dann wäre der Kranke wieder am Prozess beteiligt, dann wäre er aus dieser Statik befreit, die einem die Krankheit aufzuzwingen versucht. Und je nach Leidensstärke würde sich ein entsprechender Befreiungsschlag entwickeln. Man wäre plötzlich wieder Teil des Systems. Und wenn man das schafft, dann hat man zumindest das Leiden hinter sich – und vielleicht sogar den Krebs besiegt. Sagt jetzt hier der Krebsspezialist Schlingensief. Der natürlich bei einem Schnupfen sagt, kein Problem. Neuer Schnupfen, neues Glück.






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